Franzen, Jonathan – Freiheit

Jonathan Franzen hat schlicht und einfach erkannt, dass die Herausforderung, die ein neuer Roman nun mal unwiderruflich darstellt, nicht zwingend das Ergebnis eines akuten Selbstzwangs, möglichst zeitnah und dramaturgisch hochwertig arrangiert, sein muss, sondern in letzter Instanz immer noch das Resultat eines kontinuierlichen Reifeprozesses, für den es vor allem anhaltender Ruhe bedarf. Mit der Veröffentlichung seines endgültigen Durchbruchs „Die Korrekturen“ im Jahr 2001 lastete auf dem seinerzeit noch relativ frischen Shooting.Star der belletristischen Poesie mit einem Mal ein gehöriger Druck, die Kunstfertigkeit seines insgesamt erst dritten Romans möglichst bald auf eine weitere Erzählung zu übertragen. Doch der gedrungene Transfer blieb bis dato aus, selbst wenn Franzen nie vollständig von der Bildfläche verschwunden war. Das autobiografische „Die Unruhezone“ und die Neuinterpretation von Frank Wedekins „Frühlings Erwachen“ sorgten für die stoffliche Wahrung seines Daseins, waren aber trotz ihrer individuellen Klasse keine lukrativen Argumente, dem Autor die Hingabe zu schenken, die sein bis hierhin bestverkaufter Titel erhaschen konnte. Doch Jonathan Franzen wusste um die Macht der Unberechenbarkeit und konzipierte im Hintergrund in langsamen, fast schon elegischen Teilschritten sein neues Meisterstück. „Freiheit“, ganz schlicht und dennoch sehr vielsagend betitelt, ist schließlich die vierte eigene Ausgabe und als solche vielleicht auch das zwischenzeitliche Grand Finale des wortgewandten Amerikaners. Und dies wohlgemerkt auf Basis eines Plots, der nicht viel mehr zu leisten vermag, als das Klischee der typisch amerikanischen Familie aufzugreifen, vielleicht auch neu zu bewerten, es aber dann doch in den entsprechenden Passagen in Stücke zu reißen, um der Story diese herausragenden, markanten Konturen zu verpassen.

_Das Drama des Alltags_

Dass Franzen in seiner Analyse jedoch so typisch untypisch vorgeht, mag gerade den medialen Neuling verschrecken, vorrangig aus der Erwartungshaltung, der Autor sei in seinem Ansinnen, einen packenden Bericht zu verfassen, von einem viel theatralischer inspirierten Drang getrieben. Konträr zu der allgemein gängigen Erwartungshaltung, eine Beschreibung einer Personenkonstellation, die in dieser Form millionenfach am Reißbrett entworfen werden könnte, müsse einen gewissen spektakulären Ansatz verfolgen, um die nötige Begeisterung auszulösen, bewahrt sich der Bestseller-Schreiber die bereits zuvor entdeckte Ruhe bei der Strukturierung seines Buches mit einer zunächst schon beinahe ernüchternden Konsequenz. Die Ausgangssituation, die das Leben der Familie Berglund und ihren Stand und Rang in der momentanen Nachbarschaft beschreibt, könnte eigentlich auch einem Allerweltsreport einer lokalen Tageszeitung entspringen, so austauschbar und bekannt scheinen Personen und Zutaten, mit denen der Plot vorab gefüllt wird. Walter und Patty Berglund bewohnen einen schlichten Bungalow in einer mittelständigen Wohnsiedlung, schlagen sich mit den Problemen ihrer pubertierenden bzw. fast erwachsenen Kinder herum und machen erst einmal den unfassbaren Eindruck, als hätten sie bereits mit der Simplizität ihres Alltags abgeschlossen, sich abgefunden und akzeptiert, dass ein Wendepunkt in ihrem eigentlich recht trostlosen Leben ein Wunschgedanke ist, zu dem sich keiner der Beteiligten je durchringen könnte. Der Ist-Zustand ist bedrückend, ja vielleicht auch verzweifelt, aber er ist die Summe aller Dinge, die eine sehr bewegte Vergangenheit hervorgerufen hat. Und damit findet Franzen schließlich den Einstieg in das faszinierende Monstrum, das er in „Freiheit“ mit aller Bedächtigkeit konstruiert und über einen Strang aus mehr als 700 Seiten zum Leben erweckt hat.

Und diese Vergangenheit, ja auch sie ist typisch amerikanisch, allerdings mit einer Masse an kleinen Details angereichert, die „Freiheit“ erst zu dieser gedankenschweren Geschichte avancieren lassen. In erster Linie stehen natürlich Beziehungen und ihre Auswirkungen auf die vorangeschobene Momentkonstellation im Raume, und alleine diesem Umstand verdankt Franzen den Stoff für mehr als die Hälfte seines Romans. Eine besondere Vorliebe hat er hierbei für seinen vielleicht dramatischsten Charakter entwickelt, dessen selbst-destruktives Wesen das Drama der Schlichtheit und Verzweiflung über viele Episoden auf den Punkt bringt. Patty Berglund als Protagonistin mag zwar nur eine von vielen tragenden Persönlichkeiten in „Freiheit“ sein, aber in ihr vereint sich all der Stoff, auf dem der Autor seine ereignisreichen Applikationen einzunähen gedenkt. Als einstige Sportskanone am College gefeiert verliebte sich die junge Patty in den hübschen Richard Katz, einen egozentrischen Jungmusiker, dessen linksgerichteten politischen Ansichten nur ein Part seiner revolutionären, rebellischen und letzten Endes anzüglichen Ausstrahlung darstellte. Doch Katz kann der Rolle des fokussierten Studenten nur bedingt gerecht werden, da er seine Jugend exzessiv lebt. Drogen, Alkohol, Frauen – in ihm spiegelt sich der Geist des Rock & Roll wieder und er lässt sich in aller Intensität von ihm verführen. Dem gegenüber steht sein Mitbewohner Walter Berglund, ein unscheinbarer Visionär, dessen Stärken weniger in seinem Selbstbewusstsein als viel mehr in seiner Wissbegierigkeit verankert sind. Er als krasses Anti-Objekt zu Katz‘ brutal-reißerischer Jugendlichkeit und der durchgängigen Unkonventionalität, mit der dieser gegen Strukturen und moralische Spielregeln verstößt, scheint lediglich zu funktionieren. Und dennoch ist es er, der langfristig das Rennen macht, dem Patty seine Gunst erweist, und der ihren versteckten Frust, niemals Zugang zu der Welt von Katz‘ Begierden bekommen zu haben, Jahrzehnte austragen muss. Ihre Hochzeit erscheint vor allem aus ihrer Perspektive als das Resultat einer Trotzreaktion, einer heimlichen Gegenrebellion gegen Katz‘ hinterhältig ehrlichen Starrsinn, doch da Patty letzten Endes über eben so wenig Durchsetzungsvermögen verfügt wie der Mann an ihrer Seite, lassen sich beide auf einen Kompromiss ein, der ihnen genau das raubt, was sich in ihrem Leben schon immer als unerreichbares Gut herausgestellt hat: Freiheit!

|Der Konflikt der Generationen|

Es ist daher bemerkenswert, wie beharrlich sowohl Walter als auch Patty an ihrer Liebe festhalten. Erstgenannter hadert zwar erst später, als seine Ehefrau sich zum ungenießbaren Objekt weiblicher Mangelerscheinungen entwickelt und ihre heimliche Leidenschaft für Richard dringlicher denn je in ihrem Unterbewusstsein verarbeitet, doch die Einigkeit über die Tatsache, dass man sich vorschnell zusammengerauft hat, ohne dabei der Liebe eine Chance zu geben, wird auch ihm zum Verhängnis. Es folgen Affären, schmutzige Geschichten, noch nuancierter versteckte Momente der Verzweiflung und schließlich ein mentaler Engpass beiderseits, der Patty in die Depression und Walter immer weiter ins Abseits schleudert. Und als Richard Katz, der immer noch ein stiller Vertrauter der Berglunds geblieben ist und von den Tücken des Musik-Business‘ unbarmherzig verfolgt wird, seine Präsenz wieder auf seine engsten Freunde beschränkt, nimmt erst das seinen Lauf, was sich auf poetische Art und Weise über unzählige nicht näher erfasste Kapitel angedeutet hat, aber schon nicht mehr um Bestätigung gebuhlt hat. Doch mehr als dies scheint zur Halbzeit der Punkt erreicht, an dem Franzen seine Berechenbarkeit ad acta gelegt und final einer literarischen Freizügigkeit geöffnet hat, die im schlichten Rahmen die denkbar effizienteste Stilistik zugeordnet bekommt. Und ihre Faszination dennoch aus ihrer unkomplizierten Simplizität erfährt!

Allerdings ist das moralische Debakel nicht nur jenes, welches sich auf das Berglund-Pärchen beschränkt. Es sind ihre Kinder, die jeweiligen Eltern und all ihre stillgeschwiegenen, aber schlussendlich auf dem Präsentierteller dargelegten Probleme und Konflikte, die sich durch die zahlreichen Nebenstränge ziehen und das faszinierende Segment in Franzens Roman füttern. Wenn Patty, die ihr als Biografin fungiert und letztendlich die Tragödie ihrer Familie auch mit einer gewissen Wertung versieht, über ihre überfrachtete Liebe zu ihrem Sohn Joey referiert und sich schmerzlich von ihm distanziert, als dieser seine Jugendliebe ehelicht, nimmt die Tragik von „Freiheit“ ungeachtete Formen an und geht weit über das hinaus, was man zu Beginn hätte erwarten können. Doch dabei sind es eigentlich diese anders definierten Parallelen, von denen eine ganz spezielle, eigentlich leicht greifbare, aber ebenfalls enorm bemerkenswerte Magie ausgeht. Auch Joey verschwendet ungeachtet seiner eigentlichen Ansichten einen Wust an Energie damit, die Aspekte seiner persönlichen Freiheit von oberflächlichen und außenstehenden Umständen eingrenzen zu lassen, und interpretiert somit die Rolle von Vater und Mutter auch nur in einer zeitgemäßeren Nachahmung.

Fehler wiederholen sich, werden jedoch aus einer völlig anderen Perspektive erforscht, moralisch auch bewertet, aber dennoch nicht durch zu viele rezitative Wiederholungen verschlissen. Franzen entwirft insgesamt eine nicht mehr einzugrenzende Zahl von Sichtweisen auf Verfehlungen und charakterliche Schwächen, die in ihrer Ausprägung ähnlich konstituiert sind, fängt sie dann aber wieder mit einer besonnenen Lässigkeit auf, die man auch als permanente Entschuldigung für die Fehlleistungen des menschlichen Handelns auffassen kann. Denn zu guter Letzt sind Walter Berglund, seine manische Gattin Patty und auch ihre Angehörigen in drei Generationen Menschen, die dem amerikanischen Alltag kaum besser angepasst sein könnten. Und als Beweis dafür, dass auch die schlichteste Familienpräsenz jeden Tag mit einer neuen (wenn auch nicht ganz so weit ausgeholten) Tragik konfrontiert wird, in der sich das Bewusstsein über das, was ist, vor allem aber über das, was nicht ist, spiegelt, könnte dieses Buch kein exemplarischeres Dokument sein. Mehr? Im Grunde genommen nicht. Aber der Charakter von „Freiheit“ besteht insgeheim auch nicht darin, das Einfache in ein Spektakel zu verwandeln. Vielmehr geht es um die Freiheit der Gedanken und ihren Transfer auf das, was die Normalität des gesellschaftlichen Mittelstands ausmacht – und was dies betrifft, hat Jonathan Franzen nicht nur eine beeindruckende Geschichte erzählt, sondern einen Roman entworfen, in dem letzten Endes jeder einzelne genug herausholen kann, um seinen eigenen Charakter reflektiert zu sehen. Und eben diese Einsicht – sie deutet sich im Verlauf des Plots schon einmal häufiger schwach an – beschreibt in der Summe die Magie dessen, was der Autor hier geschaffen hat. Ein Meisterwerk. Mehr noch. Ein Jahrhundertstück, das der Bewerbung für die Persönlichkeit des Jahres im renommierten Time-Magazin an dieser Stelle zum Selbstläufer machen sollte.

|Hardcover: 736 Seiten
Originaltitel: Freedom
ISBN-13: 978-3498021290|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de

_Jonathan Franzen bei |Buchwurm.info|:_
[„Die 27ste Stadt“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1207
[„Die Korrekturen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1233
[„Schweres Beben“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1752
[„Schweres Beben (Lesung)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2186

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