G. K. Chesterton / Wakonigg, Daniela – Mann, der zu viel wusste; Der

_Geniale Spürnase mit Macken_

Während eines friedlichen Angelausflugs fällt Horne Fisher ein Auto direkt vor die Füße. Das Auto ist von einem Abhang gestürzt. Der Fahrer ist tot. Was ist geschehen? Zusammen mit seinem Begleiter, dem Journalisten Harold March, geht er der Spur des Autos nach und stellt fest: Es war gar kein Unfall …

_Der Autor_

Gilbert Keith Chesterton wurde 1874 geboren und starb 1936. Nach seiner Ausbildung arbeitete er als Journalist, doch bekannt wurde er mit seinen Romanen, den anarchistischen Phantasien „The Napoleon of Notting Hill“ (1900) und „The Man who was Thursday“ (1908). Insgesamt veröffentlichte er mehr als hundert Werke. Da er ein Liberaler war, geißelte er in seinen Schriften Dekadenz und Nihilismus und kritisierte Imperialismus, Konservativismus, Skeptizismus und Sozialismus, also praktisch alles, was damals in Mode war. Zu seinen Gegnern gehörte der Sozialist und Dramatiker George Bernard Shaw.

Ein bedeutender Einfluss ist seinem Freund John O’Connor zuzuschreiben, einem Priester, der ihn dazu brachte, 1922 zur römisch-katholischen Kirche überzutreten. (Deshalb rechnet ihn die Inklings-Gesellschaft zur Gruppe um J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis.) O’Connor lieferte auch das Vorbild für einen von Chestertons größten Erfolgen: den gleichermaßen liebenswerten wie schlauen [Father Brown. 2362 Als einer der fleißigsten Schreiber aller Zeiten veröffentlichte Chesterton von 1925 bis zu seinem Tod seine eigene Zeitung, die „G. K.’s Weekly“. G. K. Chesterton war kinderlos verheiratet mit Frances Blogg. Er hatte ein große Vorliebe für Zigarren und gutes Essen, Letzteres ließ sich auch an seiner stattlichen Leibesfülle ablesen.

„The man who knew too much“ eröffnete 1922 die Serie mit Geschichten um Fischer und March. Das Ungewöhnliche an Fisher ist, dass er eigentlich gar kein Detektiv ist. Die kriminalistischen Geheimnisse kreuzen einfach zufällig seinen Weg und werden von ihm mit charmanter Trägheit enträtselt. Untertitel dieser ersten Episode: „Das Gesicht auf der Zielscheibe“.

_Der Sprecher_

Karlheinz Tafel liest die ungekürzte und mit Geräuschen und Musik angereicherte Textfassung.

Regie führte die Übersetzerin Daniela Wakonigg, die Tontechnik und Musikeinspielungen steuerte Peter Harrsch.

_Handlung_

Die 1920er Jahre: Der Journalist Harold March wandert zu dem Landsitz Torwood Park, um einer Einladung des Finanzministers nachzukommen. Der Minister will einige Sozialreformen initiieren, was einige politische Folgen haben dürfte. Doch die wunderbare Naturszenerie lenkt March von dem Objekt seiner beruflichen Neugier ab.

Die Schlucht eines Baches neben der Straße ist so malerisch, dass er sie sich genauer anschaut. Sein Blick fällt auf einen Zeitgenossen, der sich einer merkwürdigen Beschäftigung hingibt. Er fängt Fische mit einer Art Kescher, wirft sie aber alle wieder zurück ins Wasser. Der Mann bemerkt March und antwortet in einem sonderbar teilnahmslosen Tonfall, dass er das Phänomen der Phosphoreszenz untersuche, also die biologische Leuchtkraft bei Fischen usw. Dass er gebildet ist, belegt er durch einen kenntnisreichen und kritischen Vortrag über die Kubisten.

Allerdings wird sein Redeschwall jäh unterbrochen, als ein Quietschen, Scheppern und Krachen ertönt, erst oben von der Straße, dann den Steilhang herab, um sodann in einem Mordskrach zu ersterben. Das Auto verfehlt Mr. Fisher, wie er sich vorstellt, nur um Meter. Gleichmütig schaut er sich die Sache genauer an. Ein Toter liegt im Auto, so, so, offenbar Schädelfraktur, hm. Der Visitenkarte entnimmt Fisher unschwer den Namen des geräuschvoll zu Tode gekommenen Opfers: Sir Humphrey Turnbull, seines Zeichens ehemaliger Richter in London, der sich besonders für die Verfolgung von Ausländern einsetzte.

Fisher ersteigt den Steilhang und verfolgt oben die Spuren des Autos zwischen Felsen. Handelt es sich um Selbstmord oder um einen Unfall, fragt sich March. Haben die Bremsen versagt – oder wollte Turnbull seinem Leben ein Ende setzen? Weder das eine noch das andere, meint Fisher, erläutert das aber nicht weiter. Die Frage sei vielmehr, was Turnbull – oder „Puggy“, wie er neckisch genannt wurde – in Torwood Hall wollte. Der Landsitz gehört nämlich nicht dem Finanzminister, sondern einem der von Turnbull gehassten Ausländer, dem Kanadier Jefferson Jenkins, der sich für eine Grundstücksreform einsetzt.

Fisher geht auf das Haus zu, aber das ist eine Meile entfernt. Sie passieren einen Großwildjäger, der zur Jagd hier ist: John Burke. An dem Jäger und einem Wäldchen vorbei betreten sie eine Wirtschaft. Hier ließ sich der Verunglückte ein Paket Sandwiches machen. Warum, so fragt sich March, wenn Turnbull doch erwarten musste, dass er auf Torwood Hall ein Abendessen bekommen würde? Fisher gibt March Recht, aber was, wenn Turnbull nicht damit rechnete und die Sandwiches für den Notfall einpackte?

Der Finanzminister tritt ein. Auch er war auf der Jagd und lästert über seinen Gast Jenkins (wohlgemerkt: den Hausbesitzer), der ein miserabler Schütze sei. Doch die Beispiele, die er anführt, legen eher das Gegenteil nahe, findet Fisher. Zu Marchs Erstaunen behauptet Fisher dann ein Stück weiter die Straße hinauf: „Hier wurde Puggy wohl erschossen“. Auf Schleichwegen begibt sich Fisher sodann nicht zum Haupteingang, sondern in den hinteren Garten des Landsitzes, wo die zwei Besucher auf einen seltsam antiquierten Anblick stoßen: eine uralte Zielscheibe. So etwas benutzten nur die längst verschwundenen Viktorianer.

Aber etwas ist merkwürdig daran. Die Einschusslöcher sind frisch – und sie ergeben ein Muster: ein Gesicht. March beobachtet verdutzt, wie Fisher ein Fläschchen aus seiner Tasche holt und eine chemische Substanz in eben diese Einschusslöcher schmiert. Sodann begibt sich Fisher dahin, wo auch Marchs Bestimmungsort liegt: ins Innere des Hauses. Er benutzt jedoch nicht die Tür, sondern ein Fenster. Kuck an: eine Waffenkammer voller Gewehre. Was mag Fisher wohl noch alles finden, fragt sich March. Und wann er wohl endlich damit anfängt, ein paar Erklärungen für sein sonderbares Benehmen zu liefern.

_Mein Eindruck_

Henry Fisher ist zwar ein genialer, aber auch ein rätselhafter Schnüffler. Er scheint jede der hochgestellten Persönlichkeiten selbst zu kennen, und diese reden auch ungeniert mit ihm, doch welchem Beruf Fisher nachgeht, erfahren wir nicht. Auch scheint er ungewöhnlich teilnahmslos gegenüber den kriminellen Machenschaften auf Torwood Hall zu sein. Das hindert ihn aber nicht daran, dem Journalisten genau nachzuweisen, dass Humphrey Turnbull a) ermordet, b) gezielt erschossen, c) der Mord aber von niemandem bemerkt wurde und d) von niemandem aufgeklärt werden wird – außer von ihm. Und er könne nichts beweisen. Kein Wunder also, so Fisher, wenn er angesichts der Unantastbarkeit des Mörders – und seiner Komplizen? – jedes Interesse an dieser Klasse, diesem Fall und der Politik im Allgemeinen verloren habe.

Es ist schon ein trauriges Los, das Fisher gezogen zu haben scheint. Er verfügt über den nötigen Scharfsinn, um den Verbrechern auf die Schliche zu kommen, kann aber nichts gegen sie unternehmen, genauso wenig wie die Polizei, falls man sie einschaltet. Doch die Verbrecher sind nicht irgendwer. Es handelt sich um einen Sozialreformer und um den Finanzminister, der ebenfalls – wohl nicht ohne Grund – eine Reform plant. Beides sind Politiker, die sich vordergründig der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse verschrieben haben, aber im Hintergrund offenbar nicht vor der skrupellosen Beseitigung eines lästigen Kritikers zurückschrecken. Das lässt nichts Gutes für die Zukunft der politischen Klasse erwarten.

Der Liberale Chesterton hatte für Sozialisten (s. o.) wie George Bernard Shaw und H. G. Wells (beide Mitglieder der Fabian Society) nichts übrig, er selbst befürwortete die Bodenreform und Umverteilung des Eigentums aus einer katholischen Perspektive (und stand deshalb gedanklich den Inklings um Tolkien und Lewis nahe, wenn er auch nicht zum Kreis dieser Autoren gehörte).

Andererseits stellt er aber Humphrey Turnbull, das Mordopfer, als einen Kritiker – er war Ex-Richter – dieser feinen Herrschaften hin. Warum beschreibt er ihn aber dann so negativ, indem er ihm das Gesicht eines „intellektuellen Affen“ verleiht? Chestertons Sympathien scheinen bei niemandem zu liegen, und das ist der hauptsächliche Schwachpunkt der Story.

Chestertons bekannteste Spürnase ist Father Brown, doch anders als Fisher hat Brown wenig mit Politikern zu tun, sondern mehr mit ganz „gewöhnlichen“ Bürgern (obwohl sich dazu ebenfalls Gegenbeispiele finden ließen). Unter seine verirrten Schäflein gerät aber ab und zu auch mal ein gestandener Verbrecher, z. B. in „Das blaue Kreuz“. Brown hat zwar keine Bekehrungsabsichten, aber doch eine enge Beziehung zu Moralvorstellungen der christlichen Lehre.

Dies geht Horne Fisher offenbar völlig ab. Er scheint im Gegenteil ein richtiger Nihilist zu sein. Und gegen diese Leute hatte Chesterton ebenfalls etwas. Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass ein Autor seinen Schnüffler der Kritik preisgibt. Aber nicht Fisher liefert die Perspektive auf diesen Fall, sondern ein Journalist. Dieser hält sich zwar mit kritischen Bemerkungen zurück, aber seine Distanziertheit ist nicht zu übersehen. Wenn Fisher abschließend sagt: „So laufen die Dinge eben“, so dürfte March und dem Hörer fast der Kragen platzen. Genau dies liegt in der Absicht des Autors.

|Der Sprecher|

Da in dieser Geschichte keinerlei weiblichen Figuren auftreten, hat der Sprecher Karlheinz Tafel relativ leichtes Spiel. Er muss lediglich den diversen männlichen Figuren eine jeweils markante Sprech- und Ausdruckweise verleihen, damit der Hörer sie auseinanderhalten kann. Klingen der Finanzminister und John Burke eigentümlich wie „alte Knaben“ à la Sir John in den Edgar-Wallace-Verfilmungen, so bietet Horne Fishers Stimme das Kontrastprogramm: Er spricht langsam, müde, schwach und völlig teilnahmslos, als habe er gerade einen Schlaganfall überlebt. Das ist aber gerade das Trügerische an ihm. So verdeckt er seinen Scharfsinn und überlistet besagte Herrschaften, indem er sie aus der Deckung lockt. Bis er dann den Schockeffekt einsetzt, und sie sich verraten. Eine raffinierte Taktik, die man diesem teilnahmslosen Schnüffler nicht zugetraut hätte.

Ein erhebliches Verständnisproblem konnte auch der ausgezeichnete Vortrag nicht verhindern. Wie heißt denn nun der Finanzminister? Mal heißt er Hoggs, dann wieder Howard Horn. Und mal heißt Turnbull „Puggy“ und John Burke einmal „Jack“. Wenigstens Jenkins bleibt stets Jenkins. Und was ich als „Tallwood Park“ notierte, heißt eigentlich laut Booklet „Torwood Park“. So habe ich es auch in der Inhaltsangabe geschrieben.

|Geräusche und Musik|

Der Vortrag wird von klassischen Instrumenten untermalt, die aber ungewöhnlich eingesetzt werden. Oboe oder Klarinette spielen ruhige, melancholische Kadenzen, aber die Streicher zupfen Pizzicati. Dann gibt es noch ein Instrument – vermutlich ein elektronisches – das ich mal als „Glasharfe“ bezeichnen möchte und das für die Erzeugung einer geheimnisvollen Stimmung zuständig ist.

Die Geräusche sind teils der Natur entnommen und teils der Technik. Der Kontrast ist zutiefst symbolisch und vom Autor sicherlich gewollt. Die idyllische Szenerie aus Insektengezirpe und Froschgequake wird jäh unterbrochen durch ein Quietschen, Scheppern und Krachen. Dabei fällt mir auf, dass das Qietschen – vermutlich von Bremsen – völlig unlogisch ist. Wenn Turnbull nämlich schon tot war, als sein Wagen in einer Kurve die Straße verließ, geradeaus weiterfuhr und den Abhang hinabraste, kann er auch keine Bremsen getreten haben. Auch die Reifen scheiden aus, weil sie nur quietschen, wenn eine Auto in die Kurve geht. Genau dies tat es aber nicht. Wie können sie also quietschen?

Sehr hübsch wird das Vergehen des Tages durch die sich ändernde Geräuschkulisse der Natur nachgebildet. In der Schlucht sind kaum Vögel zu hören, oben im Wald um Torwood herum aber jede Menge, insbesondere die diebischen Elstern (sehr passend). Als es Abend wird, ruft in der Dämmerung – reichlich früh – das Käuzchen. Sobald Fisher und March wieder in die Schlucht zurückgekehrt sind, sind wieder keine Vögel zu hören, weil es Nacht ist. Stattdessen erschallen das Quaken von Fröschen und das Zirpen von Insekten.

|Das Booklet|

Das vierseitige Booklet erfreut mit umfassenden Informationen über den Autor Chesterton (s. o.) und einer Inhaltsangabe, die nicht zu viel verrät. Als i-Tüpfelchen verrät das Booklet auch, wann und wo der Text zuerst erschien und gedruckt wurde – so viel Service findet man bei 1-CD-Hörbüchern selten. Ob der Text etwas mit der von Hitchcock zweimal verfilmten Story „Der Mann, der zu viel wusste“ zu tun hat (hat er nicht), wird nicht einmal der Erwähnung für würdig befunden.

Die Titelillustration zeigt einen Mann, der mit Pfeil und Bogen auf eine bemalte Zielscheibe zielt. An diesem Bild stimmt so einiges nicht. Der Mann zielt meilenweit vorbei, und der Winkel, in dem die Zielscheibe zu ihm steht, ist zu weit nach links gedreht. Der Bogen erscheint mir zu klein und die Sehne zu dick – allerdings fällt dies unter „künstlerische Freiheiten“.

_Unterm Strich_

Diese inszenierte Lesung hat mir wenig Spaß gemacht und einige Probleme bereitet – mehr dazu in den obigen Ausführungen. Horne Fisher ist allerdings ein Schnüfflername, den man sich merken sollte. Der Mann ist als Spürnase genial und in seinem Charakter ziemlich einmalig, wenn ich mich auch ein wenig an den behäbigen Nero Wolfe erinnert fühlte. Aber Wolfe verkriecht sich in seiner Wohnung und lässt seine(n) Assistenten die Fußarbeit erledigen – Fisher kraucht selbst durchs Unterholz und steigt in Häuser ein, die ihm nicht gehören. Dafür, dass er, wie er behauptet, „zu viel weiß“, wirkt er aber noch relativ ungefährdet. Vielleicht liegt es an seinem Nihilismus. Sympathisch ist er mir jedenfalls nicht. Aber der Autor hat es ja sowieso auf kritische Distanz zu ihm angelegt.

Das Hörbuch mit der inszenierten Lesung hat zwar einen hervorragend Sprecher zu bieten, aber verstanden habe ich den wirklichen Namen des Finanzministers dennoch nicht auf Anhieb. Und das Geräusch quietschender Bremsen oder Reifen ist völlig unlogisch, weil im Stück niemand lebendig genug ist, um auf das Bremspedal treten oder die Reifen in eine Kurve lenken zu können. Das Einzige, was inhaltlich für das Hörbuch spricht, sind der Fall, der Ermittler und der Sprecher, sonst aber wenig.

|Originaltitel: The man who knew too much, 1922
Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Wakonig
60 Minuten auf 1 CD|
http://www.stimmbuch.de

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