Gansel, Dennis / Marmon, Uticha / Kronbügel, Jens – Die Welle. Original-Hörspiel zum Film (mit Interviews)

Erschreckend: Das Experiment ist realistisch

Deutschland, heute. Der Oberstufenlehrer Rainer Wenger startet während der Projektwoche zum Thema „Autokratie“ einen Versuch, um seinen Schülern die gesellschaftlichen Strukturen einer Diktatur zu veranschaulichen. Was zunächst harmlos mit Begriffen wie Disziplin und Gemeinschaft beginnt, entwickelt sich rasch zu einer Bewegung: Die Welle. Bereits am dritten Tag des Experiments beginnen Mitglieder der „Welle“, Andersdenkende zu drangsalieren. Als die Situation eskaliert, beschließt Wenger, das Experiment abzubrechen – mit schrecklichen Folgen … (abgewandelte Verlagsinfo)

Die Autoren

Dennis Gansel, der Regisseur des Films, stützte sich auf die wahren Geschehnissen des Jahres 1967 und die Original-Protokolle des Lehrers Ron Jones. Der Geschichtslehrer Ron Jones versuchte an der Cubberley High School in Palo Alto unweit San Francisco, seinen Schülern die gefährliche Dynamik einer Diktatur begreiflich zu machen.

Er wollte so eine Antwort auf die Frage finden, warum sich die Bevölkerung nicht gegen den Holocaust gewehrt hatte. Dazu forderte er von seinen Schülern diszipliniertes Verhalten, unterwarf sie einigen ungewohnten Einschränkungen und formierte eine Gemeinschaft mit dem Namen „The Third Wave“.

Die Schüler reagierten keineswegs ablehnend, und nach kurzer Zeit hatte das Experiment die ganze Schule ergriffen. Die Schüler bespitzelten jeden, der sich nicht den Regeln gemäß verhielt. Einige Schüler, die sich weigerten, wurden zusammengeschlagen. Nach fünf Tagen brach Jones das Experiment ab.

Oliver Hirschbiegel verarbeitete das Thema in seinem Film „Das Experiment“, mit Moritz Bleibtreu in der Hauptrolle.

Die Inszenierung

Stefan Kaminski wurde 1974 in Dresden geboren. Sein Schauspielstudium absolvierte er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Seit 1996 ist er beim SFB/ORB als freier Schauspieler, Sprecher und Autor tätig. Am Deutschen Theater in Berlin spielte er zunächst als Gast, seit Januar 2003 gehört er fest zum Ensemble. Im |Hörverlag| ist er vor allem als Stimme von „Marvi Hämmer“ bekannt. (Verlagsinfo) Außerdem hat er unter anderem David Morrells „Creepers“ oder Monika Feths „Der Mädchenmaler“ gelesen.

Regie des Films führte Dennis Gansel. Die Hörspielbearbeitung und Regie oblag Uticha Marmon und Jens Kronbügel. Die Sprachaufnahme besorgte Patrick Ehrlich, den Ton steuerte Jens Kronbügel.

Die Hörspiel-Musik stammt von diversen Gruppen. Sie sind im Booklet detailliert aufgeführt (URL: www.welle.info). Der gleichnamige Roman von Morton Rhue erschien bei |Ravensburger|.

Ausgewählte Rollen und ihre Darsteller:

Rainer Wenger, Lehrer: Jürgen Vogel
Anke, seine Frau, Lehrerin: Christiane Paul
Marco, Schüler: Max Riemelt
Karo, rebellische Schülerin: Jennifer Ulrich
Mona, rebellische Schülerin: Amelie Kiefer
Tim Stoltefuß, Schüler: Frederick Lau
Bomber, Schüler: Maximilian Vollmar

Handlung

Am Marie-Curie-Gymnasium erfährt Oberlehrer Rainer Wenger, zuständig für die Fächer Politik und Sport, dass ihm sein Kollege Wieland den begehrten Projektkurs „Anarchie“ vor der Nase weggeschnappt hat. Rektorin Kohlhage rät ihm, das Beste aus dem alternativen Kurs „Autokratie“ zu machen. Rainer ist bei seinen Schülern beliebt, und sie duzen einander. Er sieht keine Probleme mit dem Thema, will aber das Optimale aus dem ungeliebten Thema herausholen. In seinem Sportunterricht läuft es bei weitem nicht so gut. Das ist keine Mannschaft beim Wasserball, das sind Einzelkämpfer. Was würde passieren, wenn …

Am Montag beginnt sein Kurs „Autokratie“. Rainer ist überrascht: Sein Klassenzimmer ist rappelvoll. Scheint ja ein tolles Thema zu sein, oder? Doch nein, sie wollen bloß nicht zu Kollege Wieland. Erstmal sondieren: Was stellen sich die Schüler unter dem Begriff „Autokratie“ vor? Neben einer Menge Blödsinn kommen auch ein paar brauchbare Definitionen zusammen: Selbstherrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe. Die Schüler fragen, was sie dieser „Scheiß“ angeht. Sie glauben, Diktatur wäre im heutigen Deutschland nicht möglich.

Nach einer Pause sehen sich die Schüler mit einer neuen Tischordnung konfrontiert. Was soll das jetzt? Rainer verlangt, dass sie eine neue Leitfigur wählen sollen, die sie dann zu respektieren hätten. Schnell wird klar, dass er der einzige ernstzunehmende Kandidat ist. Denn in der Klasse gönnt keiner etwas dem anderen, keiner steht für den anderen ein. Einzelkämpfer und Cliquen. Sie haben Rainer mit Herrn Wenger anzureden, und wenn, dann nur mit Erlaubnis. Er gibt Anweisungen, die auch prompt ausgeführt werden: Aufstehen, Einatmen, Durchblutung fördern. Als dem Rapper Kevin das zu blöd wird, steigt er aus. Aber seine „Homies“ Sinan und Bomber brauchen gute Noten fürs Abi und beschließen zu bleiben.

Preisfrage: „Welche Faktoren fördern die Entstehung einer Diktatur in Deutschland?“ Rainer ist entzückt von der lebhaften Diskussion, die nun folgt. Und bemerkt, dass Tim Stoltefuß sich besonders engagiert. Aber er wundert sich nicht, warum Tim das tut. Noch nicht. Denn im Wasserballtraining läuft es auf einmal echt gut: Sinan hat mit dem rebellischen Marco einen neuen Spielzug ausgeheckt.

Der Dienstag beginnt in der Klasse mit Marsch im Gleichschritt. Rainer traut seinen Augen kaum, aber es klappt problemlos. Und Kollege Wieland unter ihm klingen die Ohren von dem Getrampel. Seine Klasse ist fast leer. Der nächste Schritt Rainers besteht darin, die Macht der Gemeinschaft zu demonstrieren. Er lässt die Cliquen aufbrechen und setzt „schlechte“ neben „gute“ Schüler. Sie sollen einander helfen, um besser zu werden als die „Anarchos“ unter ihnen.

Der nächste Schritt sind Schuluniformen. Aber sie müssen sie selbst kaufen, und selbst wenn es bloß weiße Hemden und Blusen sind. Dieser Gruppenzwang führt zu ersten Verwerfungen. Mona steigt aus, und Karo, Marcos Freundin, hat sich noch nicht entschieden. Tim, mit Inbrunst dabei, verbrennt seine teuren Designerklamotten. Er weiß, seine Zukunft liegt in Rainer Wengers Clique, und er tut alles, um ihr anzugehören.

Mittwoch. Karo ist die Einzige, die kein weißes Hemd trägt und wird deswegen heftig kritisiert und geschnitten. Auf Rainers Aufforderung hin gibt sich die Klassengemeinschaft einen Namen: Die Welle, lautet der schließlich gewählte Vorschlag. Sinan soll das Logo und die Webseite entwerfen. Denn nun gilt es, einen Aktionsplan zu entwerfen. Die Macht der Gemeinschaft soll ja nicht unnütz sein, sondern sich nach außen richten. Die Ausgrenzung Karos hält Rainer für nicht so schlimm, aber die kommenden Tage sollen ihn eines Besseren belehren.

Denn schon in dieser Nacht ist die ganze Stadt nicht mehr vor Der Welle sicher. Und der Widerstand formiert sich.

Mein Eindruck

Die erste Frage, die sich mit diesem Hörspiel stellt, beantwortet es selbst: Faschismus ist in jedem System jederzeit möglich. Das ist beängstigend und sollte jeden freiheitlich-demokratisch denkenden Bürger – sofern es diese Spezies noch gibt – zum Gegenrudern veranlassen. Die wachsende Partei der Nichtwähler lässt jedoch eher den gegenteiligen Schluss zu. Die Bürger sind von den Vertretern ihres Systems enttäuscht, und zwar nicht nur auf der politischen Ebene, sondern zunehmend auch auf der wirtschaftlichen Ebene dessen, was man einmal stolz-neidvoll „Die Deutschland-AG“ nannte.

Die zweite Frage besteht darin, ob es das Hörspiel schaffen kann, die Eindrücke, welche die filmische Vorlage liefert, adäquat umzusetzen. Dass ein Hörspiel von rund 80 Minuten nicht den Film ersetzen kann, versteht sich von selbst, aber schließlich gibt es ja noch den Sprecher, der als Erzähler auftritt. Er verbindet die einzelnen Szenen, die wegen ihrer Dramatik ausgewählt wurden, und stellt für den Hörer einen roten Faden her.

Leider fällt die Dimension der Optik fast völlig weg, denn nur das Booklet sowie die Fotos der Inlays vermitteln die Wucht der visuellen Inszenierung. Ein Beispiel: Auf einem Foto des Booklets hält Rainer Wenger seinem Schüler Marco mit erhobenem Zeigefinger vor versammelter WELLE eine Standpauke. Ich kann mich nicht erinnern, Rainer derart heftig gegenüber Marco erlebt zu haben, jedenfalls nicht im Hörspiel.

Dennoch ist das Hörspiel zunehmend spannend, denn die Handlung entwickelt in der Ausformung und der Interaktion der genau gezeichneten Charaktere (siehe das Gansel-Interview) einen faszinierenden Sog, der den Hörer fragen lässt, wohin dies alles führen wird. Es gibt mehrere Katastrophen, so viel dürfte wohl klar sein. Was manchen Hörer schocken dürfte, ist das unerwartet extreme Ausmaß der Katastrophen.

Die Inszenierung

Sprecher

Stefan Kaminski nimmt sich als Erzähler gewissermaßen aus der Schusslinie, indem er gleichmäßig zurückhaltend vorträgt. Würde er sich in den Vordergrund drängen, müsste man ihn ja für einen der Akteure halten, und der Erzähler ist genau dies nicht. Well done.

Musik

Ein Gutteil Authentizität der Handlung trägt die zeitgenössische Musik bei. Um die These zu belegen, dass die WELLE eine Gemeinschaft aus vorher disparaten Cliquen darstellt, müssen auch die unterschiedlichen Musikstile – Musik dient der Identifikation der Gruppe – präsentiert werden. Wir hören daher sowohl Rappermusik als auch Heavy Rock und Hiphop. Bomber, Sinan und Kevin sind so als Rapper kenntlich. Sie geraten regelmäßig mit Punks aneinander.

Die Interviews:

|1) Jennifer Ulrich (Karo)|

Die Darstellerin der Karo spricht über ihre Rolle und ist überzeugt, das Experiment würde jederzeit funktionieren. Und ja, sie hätte mitgemacht – im Gegensatz zu Karo.

|2) Max Riemelt (Marco)|

Der Darsteller des Marco spricht über seine Rolle und das Experiment. Es könne in jedem System funktionieren, ist er überzeugt, besonders wenn man einen guten Lehrer hat, der sich mit den Schülern verträgt. Riemelt hat Ron Jones (s. o.) selbst kennengelernt und war sehr beeindruckt. Jones schreibe Gedichte.

|3) Jürgen Vogel (Rainer Wenger)|

Vogel, einer der bedeutendsten Schauspieler derzeit, hält Rainer Wenger für einen „spitzenmäßigen Lehrer“ und erläutert, was es mit der Rolle auf sich hat. Im Film gehe es nicht um das Prinzip Gleichheit, sondern um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, um Idealismus, wie man ihn ja auch etwa für die Mitarbeit bei Greenpeace brauche. An sich ist das nicht schlecht. Solange man das nicht missbraucht.

|4) Dennis Gansel, der Regisseur|

Gansel ist der Regisseur von „Napola“, der Jugendliche in einer „Nationalsozialistischen Lehranstalt“ zeigt. Das Thema Faschismus interessiert ihn aufgrund seines familiären Hintergrunds im Zweiten Weltkrieg. Er fragte sich, wie Faschismus funktioniert und welche Rolle die Leute dabei spielen. Wer wäre ich dabei gewesen? Er ist unsicher, ob er sich dem Widerstand angeschlossen hätte. Entscheidend wäre die jeweilige Leitfigur. Autokratie könne überall passieren, ebenso Ausgrenzung andersdenkender Leute. Im Faschismus würden dann die sonst Stillen im Lande hervortreten.

Es gebe heute ein Bedürfnis nach Idealen. Er selbst hatte Eltern der 68er-Generation. Er war selbst ohne Orientierung. Heute hätten die Jugendlichen nur zwei Leitbilder: Musiker und Designerklamotten, aber keine Ideale, keine Zukunft. Irgendein Ismus werde das Vakuum der Sinngebung füllen.

Die Figuren im Film habe es wirklich gegeben, so etwa Tim und Marco, und Gansel brachte seine eigenen Erfahrungen in das Drehbuch ein. Er reproduzierte wie manche der Darsteller die intensive Erfahrung des Schullebens. Zielgruppe seien sicherlich Schüler, aber auch 40- bis 50-Jährige. Alle, mit denen er rede, finden das Thema des Films spannend, denn sie fragen sich: „Was hätte ich wohl in der WELLE gemacht?“

Unterm Strich

Das Hörspiel vermittelt einen recht guten Eindruck von dem, was der Film zu bieten hat. Da der optische Aspekt fast völlig fehlt (nur das Booklet bietet Fotos), muss die Vorstellungskraft des Hörers die fehlende Dimension ergänzen. Dies geht am besten durch mehrmaliges Anhören der dramatischen Szenen. Sie werden durch den überleitenden Text des Erzählers, gesprochen von Stefan Kaminski, miteinander verbunden, so dass ein roter Faden zu erkennen ist. Der Verdacht kann aber nicht unterdrückt werden, dass das Hörspiel nur einen schwachen Abklatsch des offenbar ziemlich beeindruckenden Films vermitteln kann.

Dafür bietet das Hörbuch Bonusmaterial, das man allenfalls auf der DVD bekommen wird. In vier gelungenen Interviews mit dem Regisseur und drei Hauptdarstellern erfahren wir, was sich die Mitwirkenden bei ihren Rollen und beim Thema gedacht haben. Dabei gewähren sie überraschende Einblicke, so etwa das Treffen mit dem Vorbild Ron Jones, der das Experiment im Jahr 1967 durchführte, aber auch der persönliche Hintergrund des Regisseurs. Etwas erschütternd ist die allen Interviewten gemeinsame Aussage, dass das Experiment jederzeit und überall unter bestimmten Bedingungen funktionieren kann. Wehe, wenn es außer Kontrolle gerät.

70 + 46 Minuten.
ISBN-13: 978-3833721434.

http://www.jumboverlag.de
http://www.jumboverlag.de/diewelle/index.html
http://www.welle.info

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