Genazino, Wilhelm – Mittelmäßiges Heimweh

Es ist Fußballeuropameisterschaft, und Deutschland befindet sich angesichts des bevorstehenden Spiels gegen Tschechien im Ausnahmezustand. Jeder Fußballfan fiebert dem spannenden Spiel entgegen, und auch unser Roman(anti)held Dieter Rotmund schaut sich das Fußballspiel in einer überfüllten Kneipe an. Doch das Getümmel wird ihm fast zu viel: Während er noch überlegt, ob er nicht doch lieber nach Hause gehen soll, erblickt er unter dem Tisch im Dreck sein eigenes Ohr liegen. Zunächst denkt er darüber nach, ob er sich das Ohr in einem unbemerkten Moment schnappen und damit verschwinden soll, doch dann kann er sich doch nicht überwinden, das abspenstige Körperteil vom schmutzigen Fußboden aufzuheben, und beschließt, lieber sein Haar über die kahle Stelle zu legen und sich später eine Ohrklappe zuzulegen.

Aber mit dem Ohr alleine ist der Verfall Rotmunds noch nicht abgetan: Seine Ehe steht auf der Kippe, eigentlich hat er Edith nichts mehr zu sagen, doch seiner Tochter zuliebe fährt er an den Wochenende nach Hause in den Schwarzwald, um die Familienfassade aufrechtzuerhalten. Edith dagegen tut rein gar nichts mehr für die Ehe, gibt am laufenden Band Geld aus, das die Familie eigentlich gar nicht übrig hat, und gesteht ihrem Mann schließlich, dass sie eine Affäre hat und von ihm nichts mehr wissen will.

So ist es also nicht nur Rotmunds Körper, der langsam aber sicher zerfällt, obwohl er doch erst Anfang 40 ist, auch in seinem Privatleben geht es rauf und runter – allerdings eindeutig mehr runter als rauf. Dafür erwartet Rotmund im Berufsleben ein überraschender Aufschwung, denn unverhofft wird er zum Finanzdirektor seiner Firma befördert, obwohl eigentlich jemand anderer für den Job viel besser geeignet wäre, wie sowohl Rotmund als auch besagter Kollege sehr genau wissen.

Eine Zufallsbekanntschaft ist es, die Rotmund so etwas wie „Liebesglück“ beschert, da ist nämlich die geheimnisvolle Frau Schweitzer – seine Vormieterin -, die noch ein paar Sachen aus dem Keller abholen möchte, die sie beim Auszug nicht mitgenommen hat, die Rotmund bislang aber noch gar nicht aufgefallen waren. Nach einer kurzen Phase der Annäherung landen die beiden im Bett, aber da Frau Schweitzer den Eindruck macht, als brauche sie Geld, legt ihr Rotmund nach jedem Geschlechtsverkehr Geld hin, bis sie eines Tages verschwindet und Rotmund sich auf den Weg macht, sie zu finden …

Wilhelm Genazinos Protagonisten sind Antihelden meist männlichen Geschlechts und mittleren Alters – so auch hier. Wir begegnen Dieter Rotmund, der mit seinem Job nicht ganz zufrieden scheint und den Geldsorgen plagen. Seine Frau Edith gibt so viel Geld aus, dass er sich die Bahnfahrkarte am Wochenende nicht leisten kann und lieber im völlig überfüllten Zug vor der Toilette steht, um in diese verschwinden zu können, sobald die Fahrscheinkontrolle droht. Aber als er in einer lauten Kneipe sein Ohr verliert, ist er auch offensichtlich „geschädigt“ und fühlt sich plötzlich nicht mehr komplett. Zunächst kaschiert er sein fehlendes Ohr mit einer Ohrklappe, doch irgendwann lässt er diese einfach weg und geht vermeintlich selbstbewusst seines Weges. Als ihm im Schwimmbad aber plötzlich noch ein kleiner Zeh abhanden kommt, ist das Gejammer sogar noch größer als beim Ohr. Rotmund spürt, dass etwas mit ihm und seinem Leben passiert, will aber die Zeichen nicht erkennen. Nach und nach zerbricht sein Leben, trotzdem macht er weiter, als sei nichts geschehen.

Seine Trauer und sein eigenes verkorkstes Leben kaschiert Rotmund durch die genaue Beobachtung fremder Menschen, an deren Leben er stichpunktartig teilhaben kann, wenn er kleine Situationen beobachten und miterleben kann. Diese Momente sind es, in denen er seinen eigenen Kummer übertönen kann und in denen mehr die Gefühle und kleinen Katastrophen der anderen Menschen zählen. Rotmund flieht vor sich, seinem eigenen Leben und seinen Problemen.

Und auch wenn es merkwürdig anmuten mag, wenn eine Romanfigur nach und nach einzelne Körperteile verliert, so passt es doch zum Buch und Genazinos Antihelden, der auch für andere sichtbar verfällt und sich nicht mehr vollständig fühlen kann. Ihm fehlt etwas, aber es ist nicht nur das Ohr und es ist nicht nur der Zeh, sondern es sind auch Familie, (Lebens-)Glück und Zufriedenheit. Selbst über die unverhoffte Beförderung kann er sich nicht so recht freuen, er denkt vielmehr darüber nach, dass jemand anderer in der Beförderungskette eigentlich vor ihm gestanden hätte.

Rotmund kann nicht einmal Erfolge feiern, stattdessen erscheint er uns resigniert und seinem eigenen Leben gegenüber teilnahmslos. Als er eines Abends zu einer Prostituierten geht und bemerkt, dass sie ihn mit einem billigen Trick um den „richtigen Geschlechtsverkehr“ bringen will, lässt er dies geschehen und sieht es stattdessen als Wink des Schicksals, als ebendiese Prostituierte ihm zu viel Wechselgeld gibt, sodass sein kleines Abenteuer ihn im Endeffekt nichts gekostet hat.

In bestechender Treffsicherheit bringt uns Wilhelm Genazino ein weiteres Mal seinen Antihelden und seine gesamte Umgebung näher. Kaum jemand kann Menschen so genau beobachten und ihre gesamte Persönlichkeit sezieren wie Genazino durch die Worte seines Protagonisten, aber auch kaum ein Schriftsteller lässt so hoffnungslose Charaktere auf den Plan treten wie eben Genazino. Und genau hier liegt seine Besonderheit.

Wir lernen einen eigentlich ganz alltäglichen Menschen kennen, der aber trotz (oder vielleicht auch wegen) seiner Alltäglichkeit gerade so besonders wird. Es sind die kleinen Eigenarten und die kleinen Katastrophen, die diesen Menschen zu etwas Besonderem und auch Interessantem machen. Wie immer passiert auf der Inhaltsebene bei Genazino nicht sonderlich viel; er konzentriert sich ein weiteres Mal auf eine überaus genaue Charakterzeichnung, die seinen Helden als Menschen aus Fleisch und Blut – wenn auch ohne Ohr – erscheinen lässt. Und damit dürfte er seine Fans wieder einmal glücklich gemacht haben.

Unter dem Strich ist „Mittelmäßiges Heimweh“ wieder ein „typischer Genazino“, der von seiner gelungenen Figurenzeichnung, der feinen Sprache und seinen Beobachtungen lebt, die jede noch so winzige Kleinigkeit festhalten und zu etwas ganz Besonderem machen. Verglichen mit der [„Liebesblödigkeit“ 999 schneidet Genazinos aktuelles Werk vielleicht etwas schlechter ab, einfach weil die Rahmengeschichte mich nicht so sehr gepackt hat wie bei seinem letzten Buch, aber Genazino kann an so vielen anderen Stellen punkten, dass er mich erneut nach dem Lesen des Buches tieftraurig zurückgelassen hat – einmal, weil das Buch bereits ausgelesen war, aber auch weil Genazino mir in beeindruckender Weise das traurige Schicksal seines Helden vor Augen geführt und mich damit tief berührt hat. Wilhelm Genazino ist und bleibt einfach etwas Besonderes!

http://www.hanser-verlag.de/

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