Gentle, Mary – 1610: Kinder des Hermes

Band 1: [„Der letzte Alchimist“ 2360

Mary Gentle hat einen ungewöhnlichen und vielseitigen Werdegang aufzuweisen; 1956 in Sussex geboren, arbeitete sie unter anderem in Kinos und für Essen-auf-Rädern, bevor sie 1981 mit ihren Studien begann, die 1995 mit Master-Abschlüssen in Kriegsgeschichte und Geschichte des 17. Jahrhunderts mündeten.

Ihre profunden Kenntnisse stellte sie bereits in der [Legende von Ash, 303 die mit dem |British Science Fiction Award| sowie dem |Sidewise Award for Alternate History| ausgezeichnet wurde, unter Beweis.

Sie hat einen sehr eigenen Stil, der historischen Roman mit Science-Fiction verbindet, ihre Erzählweise ist ebenso eigenwillig. Schwierig zu klassifizieren, sprengt sie Genreschranken und ist eine willkommene Bereicherung des Phantastikgenres.

Mit „1610: Die Kinder des Hermes“ liegt mittlerweile der zweite Teil der Übersetzung von „1610: A Sundial in a Grave“ vor. Als Übersetzer zeichnet wie bereits bei der „Legende von Ash“ Rainer Schumacher verantwortlich, der auch diesmal wieder vortreffliche und tadellose Arbeit geleistet hat.

„1610“ erzählt die Geschichte des bekannten Musketier-Antagonisten Valentin Rochefort. Dieser ist ein überraschend selbstkritischer und amüsanter Erzähler, der die Ereignisse des Jahres 1610 für den Leser in seinen Memoiren niederschreibt. Aus seiner Sicht erfahren wir von dem genialen Mathematiker Robert Fludd, der einen Weg gefunden hat, durch Mathematik die Zukunft vorherzusagen.

Die Zukunft gefällt Fludd aber nicht, und er plant sie zu ändern. Rochefort kommt dabei eine tragende Rolle zu. Der als vermeintlicher Königsmörder in Frankreich in Ungnade gefallene Haudegen soll einen weiteren König, James Stuart, ermorden helfen – damit sein Sohn Heinrich König werden kann und eine Fludd genehmere Zukunft ermöglicht. Die ebenfalls mit der geheimen Mathematik vertraute Schwester Caterina will dies verhindern und hilft Rochefort, der jedoch kaum eine Wahl hat: Seine Hassliebe Dariole wird von Fludd entführt und dient ihm als Geisel.

„Die Kinder des Hermes“ stellt einen typischen Mittelteil dar. Allerdings wird in für Gentle typischer Manier der Höhepunkt herausgezögert, so dass dieser Roman etwas weniger spannend und originell ist als der Vorgänger. Rochefort kann das Komplott gegen König James vereiteln und Dariole retten, die jedoch zuvor vergewaltigt wurde und eine der Ursachen ist, warum Fludds Plan scheiterte: Entgegen seinen Berechnungen beging sie nach der Vergewaltigung durch seine Knechte keinen Selbstmord, Rochefort geriet infolgedessen nicht in Rage und auch der Tod einer weiteren Person, die sich für ihn opfert, war so ebenfalls nicht vorgesehen. Fludds Zukunfts-Kartenhaus bricht zusammen und sein Plan scheitert auf ganzer Linie.

Hier setzt auch meine Kritik an: Bereits auf den ersten Seiten dieses Mittelteils ereignen sich diese entscheidenden Szenen! Die leider aber nicht überzeugen können. So lässt Gentle Rochefort spekulieren, Fludd könne zwar Aktionen berechnen und somit voraussagen, die dahinter stehenden Motive aber nicht. So könnte die (nicht ganz so unvermutet) starke Liebe zwischen Rochefort und Dariole seinen Plan gekippt haben. Zwar muss man als Leser einfach das Zugeständnis machen, dass Fludd die Zukunft perfekt berechnen kann; dass er dann dies aber nicht können sollte, wo er es doch stets schafft, Boten zur rechten Zeit am rechten Ort aufzustellen, um Rochefort Anweisungen zu erteilen, ist ein Schwachpunkt dieser Argumentation.

Die Wiedereinsetzung von König James zieht sich durch den Mittelteil, zwar flüssig zu lesen, aber ohne echte Höhepunkte. Konfliktstoff steckt vielmehr in der Beziehung zwischen Dariole und Rochefort; Letztere ist von der Vergewaltigung tief verletzt und will Rache, während Rochefort Fludd an König James sozusagen als Wahrsager und potenzielles Machtmittel verschachert.

Angesichts seiner mittlerweile von ihm selbst anerkannten Gefühle für Dariole wirkt dies wie Hohn und ergibt wenig Sinn; nur im Kontext der Entwicklung in diesem Roman kann man es halbwegs akzeptieren. Rochefort wird vom Handelnden zum Getriebenen, zum kleinen Gefolgsmann, der von Königen und anderen Mächtigen als Werkzeug behandelt wird, genau wie der einstmals so mächtige Verschwörer Robert Fludd. So tritt der farblose König James von Schottland in den Vordergrund, schillernde Charaktere wie Rochefort, Fludd oder der Samurai Saburo tauchen leider fast völlig unter. Dariole mutiert zu einer nervenden Zicke, allerdings sind zumindest ihre Motive nachvollziehbar: Sie will Fludds Kopf.

Die spannendste Wende erfolgt auf den letzten Seiten: Fludd wird entführt – jemand will sich seine Fähigkeiten zu Nutze machen. Mit dem Hinweis auf Saburo und Japan sowie einer den beiden wie ein Racheengel folgenden Dariole dürfte klar sein, wohin es Rochefort demnächst verschlagen wird …

_Fazit:_

Obwohl „Die Kinder des Hermes“ 396 Seiten umfasst und flüssig und spannend zu lesen ist, fehlt die Klasse des ersten Teils. Zu wenig passiert und einige Widersprüche trüben das Lesevergnügen. Lobenswerterweise wird diesmal zumindest Rainer Schumacher als Übersetzer genannt; dass mit „1610: Söhne der Zeit“ ein dritter Teil folgt, wird leider mit keinem Wort erwähnt – ebenso wenig, dass dieser abschließend ist. Wie bereits bei „Ash“ ist Mary Gentle bisweilen etwas holprig, durch die Teilung der deutschen Fassung wird dies leider auffällig betont. In diesem Band geizt sie auch mit historischen Details, die sonst ihre Stärke sind und ihren Romanen Klasse verleihen. Unterhaltsam ist „Die Kinder des Hermes“ aber allemal, die Andeutungen auf kommende Entwicklungen im dritten Band sind zudem sehr vielversprechend.

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