Tess Gerritsen – Scheintot. Ein Rizzoli & Isles-Thriller (Lesung)

Schmerz, lass nach: Geisel in den Wehen

Eines Nachts öffnet die Pathologin Maura Isles einen Leichensack – und findet darin eine Scheintote … Detective Jane Rizzoli wird kurz vor ihrer Niederkunft Opfer einer brutalen Geiselnahme im Krankenhaus. Bald wird klar, dass Rizzoli und Isles in einen Fall verwickelt sind, den beide nicht mehr kontrollieren können. Die Geheimdienste glauben an einen Terroranschlag und setzen ihre Truppen in Marsch …

Die Autorin

Tess Gerritsen war eine erfolgreiche Internistin, bevor sie mit dem Medizinthriller „Kalte Herzen“ einen großen Erfolg errang. Es folgten mehrere mittelmäßige Thriller wie „Roter Engel“, die durchaus spannend zu unterhalten wissen.

Mit dem Bestseller „Die Chirurgin“ ist ihr auch der Durchbruch in Deutschland gelungen, denn dieser Thriller ist noch eine ganze Klasse härter: Der Mörder entfernt seinen weiblichen Opfern die Gebärmutter. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Meister“, und „Todsünde“ ist der dritte Roman mit Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department. „Schwesternmord“ zeigte Rizzoli bereits hochschwanger, und in „Scheintot“ soll sie niederkommen.

Gerritsen lebt mit ihrem Mann, dem Arzt Jacob Gerritsen, und ihren beiden Söhnen in Camden, im US-Bundesstaat Maine.

|Tess Gerritsen bei Buchwurm.info:|

[„Schwesternmord“ 1859
[„Todsünde“ 451
[„Der Meister“ 1345
[„Die Chirurgin“ 1189
[„Akte Weiß: Das Geheimlabor“ 2436
[„Roter Engel“ 1783

Die Sprecherin

Iris Böhm spielte nach ihrer Ausbildung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ an verschiedenen Theatern. Sie war unter anderem in „Tatort“, „Zwei Asse und ein König“ und „Eine Hand schmiert die andere“ zu sehen. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Rolle als Kommissarin in der RTL-Serie „Die Sitte“, für die sie den Deutschen Fernsehpreis 2004 erhielt. Iris Böhm lebt in Berlin.

Böhm liest eine von Susanne Lux gekürzte Textfassung. Regie führte Sabine Buß, die Aufnahme leitete Gerd Ruhs im Tonstudio Soundmaster, Berlin.

Handlung

Milas Geschichte wird vorher und parallel zu den Ereignissen in Boston erzählt. Mila verlor ihre Mutter, als sie zwölf war und ihren Vater bald danach. Zusammen mit anderen Mädchen wurde die 17-Jährige aus dem weißrussischen Minsk nach Mexiko geflogen, damit sie von dort den illegalen Grenzübertritt in die USA, das gelobte Land, wagen könnten. Bei Mila ist ihre Freundin Anja, doch die Moskowiter Diebin Olena soll sich als stärker erweisen.

Die kommen mit ihren Menschenschmugglern gut über die mexikanische Grenze und werden von Amerikanern in Empfang genommen. Diese lassen die sieben Mädchen sich ausziehen und begutachten sie wie Fleischstücke. Alle außer der zu mageren Mila vergewaltigen sie an Ort und Stelle. Die Mädchen können ihr Entsetzen kaum überwinden, denn man hatte ihnen in Minsk versprochen, sie würden in den Vereinigten Staaten als Haushaltshilfen oder Kellnerinnen arbeiten können. Als Anja zu fliehen versucht, wird sie einfach abgeknallt und für die Kojoten liegengelassen. Die Überlebenden, darunter Mila und Olena, müssen an der Ostküste als Sexsklavinnen ohne Lohn und Schutz arbeiten …

In Boston geht die Rechtsmedizinerin Dr. Maura Isles ihrer Arbeit nach, als sich etwas Ungewöhnliches ereignet, das die ganze Stadt erschüttern soll. Sie schaut gerade in den Kühlfächern bei einer Leiche nach bestimmten Details, als sie ein Geräusch hört. In einer Leichenhalle ist das relativ ungewöhnlich, denn Tote pflegen selten Geräusche (höchstens durch entweichendes Gas) zu verursachen. Als sie in den Leichensäcken nachschaut, schlägt die junge Frau, die darin liegt, die Augen auf. Sie war nur scheintot!

Mauras erste Wiederbelebungsversuche sind von Erfolg gekrönt und eine Ambulanz bringt die namenlose Scheintote in das nächstgelegene Krankenhaus. Den Unterlagen entnimmt Maura, dass die Unbekannte von Yachtbesitzern aus der Hingham Bay gefischt und der Feuerwehr von Weymouth als Ertrunkene übergeben wurde, die sie dann einlieferte. Doch bei ihrer Einlieferung schlägt die unbekannte Frau um sich, weil sie sich keinesfalls fesseln lassen will. Maura wird selbst von einem ihrer Fausthiebe getroffen, bevor eine Haldolspritze die Patientin ruhigstellt. Er schickt sie auf die Intensivstation, während Maura nach Hause geht.

Dort steht das Telefon nicht mehr still. Ihr Boss Abe Bristol warnt sie vor der Medienhysterie. Besonders eine Reporterin von Channel 6 nervt Maura am Telefon und zitiert sie anschließend falsch im Fernsehen. Maura ist auf 180, als sie am nächsten Morgen am Krankenhaus ankommt. Die Reportermeute umstellt sie sofort, denn alle wittern Blut: Wieder ein Fall von Inkompetenz der städtischen Behörden, lechz! Nur ein Journalist namens Peter Lucas interessiert sich für Sachfragen, und ihm gewährt Maura ein Interview. Dann begibt sie sich zu der namenlosen Patientin auf der Intensivstation.

Dort platzt sie in eine sehr merkwürdige Szene. Ein Arzt bereitet eine Spritze vor, während ein bewaffneter Wachmann – was will der denn hier, denkt Maura – die um sich schlagende Patientin zu fesseln versucht. Doch die junge Frau ist gewandter als er, schnappt sich seine Waffe und erschießt ihn. Der Wachmann taumelt in Mauras Arme und begräbt sie unter sich. Als sich Maura unter ihm hervorgekämpft hat, ist der Arzt verschwunden und die junge Frau bedroht Maura mit der Pistole.

Sie ist bereit abzudrücken, als eine Krankenschwester in das Zimmer platzt und sofort wieder verschwindet, um die Station zu alarmieren. Statt sie zu töten, nimmt die Bewaffnete nun Maura zur Geisel und fährt mit ihr per Aufzug ins Erdgeschoss. Doch der Ausgang ist bereits von Polizisten versperrt. Maura hat die Geistesgegenwart, sich erschlaffen und fallen zu lassen, um der Frau ihren Schutzschild zu nehmen. Doch die Polizisten haben kein freies Schussfeld, und so kann die Frau entkommen. Sie fährt in die Gynäkologie, wo sie ein halbes Dutzend Geiseln nimmt und sich verschanzt. Die Bilddiagnostik ist ringsum mit Bleiplatten verstärkt, völlig fensterlos und hat nur einen Zu- und Ausgang – ideal als Festung.

Unterdessen erwacht Detective Jane Rizzoli in einem Wartezimmer der Bilddiagnostik. Ihre Fruchtblase ist geplatzt und die ersten Wehen haben schon eingesetzt. In ein paar Stunden wird ihr Baby da sein. Nur: Es ist kein Schwein da, der sich um sie kümmern würde. Sie steht wegen ihres dicken Bauches schwerfällig auf und watschelt in den Vorraum. Dort sieht sie einige Leute, darunter ihre Geburtshelferin Tem. Aber wieso liegt sie so verkrampft auf dem Sofa und starrt hinter Jane? Diese dreht sich um und starrt in einen Pistolenlauf ….

Mein Eindruck

Wieder mal schlägt Gerritsen ganz hart zu. Nachdem sie schon aufgeschlitzte Frauen („Die Chirurgin“) und ihrer Babys beraubte Schwangere („Schwesternmord“) vorgestellt hat, sind diesmal die Sexsklavinnen dran. Denn als solche werden Mila, Olena und all die anderen aus Russland importiert. Eine FBI-Agentin behauptet, es gebe in den USA rund 50.000 solcher Sexsklavinnen, die nirgends registriert seien, aber von männlichen Amerikanern ausgebeutet würden.

Bis zu 30.000 Dollar könne ein Besitzer pro Woche mit einer guten Sklavin verdienen, steuerfrei, versteht sich. Doch noch weitaus lukrativere Beute ergibt sich, wenn man die Mädels nicht nur rackern lässt, sondern sie dabei auch noch filmt. Nicht nur als Porno (und mitunter sogar als Snuff Movie) lasse sich dieser Schund verscherbeln, sondern auch als Erpressungsmaterial verwenden. Dies wird allerdings nur angedeutet, denn die Ermittlungen des FBI konzentrieren sich auf den gefilmten Mörder einer minderjährigen Prostituierten.

Vielleicht ist es auch viel zu brisant, an die große Glocke zu hängen, wofür die Filme und die Mädchen gebraucht werden: Um jene Männer zu bestechen und zu erpressen, mit denen die amerikanische Rüstungsindustrie gerne Geschäfte macht – nicht nur im Inland, sondern allzu gerne in den Kriegsgebieten, wo GIs stationiert sind, sei es im Irak, im Kosovo oder Afghanistan.

Der größte Rüstungskonzern trägt im Roman den Namen Ballantree Company, ebenso ein erfundener Name wie die Namen von Zeitungen und Zeitschriften, die im Text auftauchen. Ballantree kann stellvertretend für den ganzen militärisch-industriellen Komplex stehen, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und heute einen großen Teil der US-amerikanischen Wirtschaft ausmacht und kontrolliert. (Dass auch Softwarekonzerne gerne das Militär beliefern, versteht sich von selbst, wird aber nie großartig in Europa verlautbart.)

Die Verbindungen dieser Industrie, so deutet die Autorin an, reichen bis an die Spitze der Verwaltung von 15 Strafverfolgungs- und Nachrichtenbeschaffungsbehörden (FBI, NSA und der Rest der Buchstabensuppe). Diese Verwaltungsspitze wird direkt vom Präsidenten bestimmt. Wird das eine kompromittiert, wird das andere in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch kritisiert die Autorin auf indirektem Wege auch den US-Präsidenten in diesem Roman.

Doch wo grob gehobelt wird, fallen auch Späne: nicht nur die Macher und Dealer in dieser Industrie kommen manchmal unter die Räder, sondern auch alle, die den Machenschaften der Drahtziehern in die Quere kommen, sei es bewusst oder – das ist meist der Fall – ohne eigenes Zutun. Das müssen Gabriel Dean und die frischgebackene Mutter Jane Rizzoli erfahren. Sie wissen zu viel, sind zur falschen Zeit am falschen Ort (klingt nach John McClane) und dergleichen Kalamitäten mehr.

Damit die Geschichte nicht in eine Farce ausartet, erinnert uns die Autorin durch Rückblenden auf die missbrauchten russischen Mädchen daran, dass es hier immer auch um menschliche Schicksale geht, um misshandelte und missbrauchte Unschuldige. Jane Rizzoli glaubt nicht, dass Mila, die sie kontaktiert, in Lebensgefahr ist, bis es für sie zu spät ist. Genau der Mann, dem sie noch am meisten vertraut, erweist sich als Verräter. „Vertraue niemandem“, ist nicht nur Milas Motto, sondern auch das der FBI-Agentin, die die Befreiung der Sexsklavinnen zum Ziel ihres privaten Kreuzzugs gemacht hat.

Wenn aber die amerikanische Gesellschaft durch zunehmende Paranoia gekennzeichnet wird, wem ist dann überhaupt noch zu trauen? Die Autorin gibt nur eine einzige Antwort. Es mag sein, dass es vertrauenswürdige Arbeitskollegen gibt, doch zuverlässig ist nur eine einzige Institution: die Familie. An einer Stelle wird sie „Welt innerhalb der Welt“ genannt. Dass auch diese Glorifizierung sich letzten Endes als Lüge entpuppen könnte, dürften viele Menschen befürchten, die schon einmal eine zerbrochene Familie erlebt haben.

Die Sprecherin

Iris Böhm verfügt über starke Nerven und eine kräftige, geübte Stimme. Sie versagt auch nicht an den bizarrsten Stellen dieses an unheimlichen Details reichen Thrillers. Durch Modulation der Lautstärke – zwischen Flüstern und Schreien – und der Tonhöhe gelingt es ihr, die Seelenlage der jeweiligen Figur, egal ob Mann oder Frau, ziemlich genau auszudrücken. Die deutliche Hervorhebung einzelner Wörter verhilft zu einem genauen Verständnis des Gesagten.

Bei einem spannenden Stoff wie diesem darf die Präsentation keinesfalls den Inhalt überdecken oder beeinträchtigen, sondern muss dahinter verschwinden. Das gelingt Böhm hundertprozentig. Doch ist Böhms Vortrag nicht etwa theatralisch, um eventuell auf die Tränendrüse zu drücken. Denn auch das würde man ihr heutzutage nicht mehr verzeihen. Theatralik ist ein Stilmittel, um Betroffenheit zu vermitteln, wie es noch vor fünfzig oder sechzig Jahren nicht unüblich war.

Böhm strahlt hingegen Professionalität aus, wo es nötig ist, und Emotionen, wo es angebracht ist. Besonders den Mädchen und Jane Rizzoli gilt all ihr Mitgefühl, wie ich immer wieder spüren konnte. Die Art, wie „Jane“ mit ihrem Baby „Regina“ kommuniziert, legt die Vermutung nahe, dass Iris Böhm der Zustand und die Erfahrung der Mutterschaft nicht unbekannt ist.

Da es weder Musik noch Geräusche gibt, brauche ich darüber kein Wort zu verlieren.

Unterm Strich

Nichts für zartbesaitete Gemüter. Auch hier geht es mal wieder knallhart zur Sache und zwar nicht nur in fleischlichen, sondern vor allem auch in sexuellen Dingen. Die Autorin schildert eine Vergewaltigungsszene mit einer Minderjährigen, ohne den Blick abzuwenden. Das mag moralisch und sogar ästhetisch fragwürdig sein, aber es nichts im Vergleich zu den kriminellen Machenschaften, die danach in den Etagen der US-Rüstungspolitik zur Sprache kommen oder angedeutet werden.

Der Showdown ist mal wieder superspannend, auch wenn die Grabesszene im Wald schon einmal da war (ich glaube, in „Der Meister“). Dass der Autorin vor allem darum zu tun ist, das Schicksal von importierten Sexsklavinnen in all seinem Elend und Horror anzuprangern, darf über all der Action, die ich oben schilderte, nicht vergessen werden. Am Schluss gehört das letzte Wort nicht einer Agentin oder einem Polizist, sondern dem Opfer, dessen Leidensgeschichte auch den Anfang bildet: Mila aus Minsk.

Das Hörbuch

Iris Böhm ist eine der nervenstärksten Sprecherinnen der hiesigen Audiolandschaft, und wie schon bei den Hörbüchern von Karin Slaughter beweist sie, dass mit energischer Stimme und kontrollierter Emotionalität die Durchschlagskraft eines Textes noch erhöht werden kann. „Scheintot“ ist eine Erfahrung für den Hörer, die er daher nicht so leicht wieder vergisst.

CD: 445 Minuten auf 6 CDs
Originaltitel: Vanish, 2005
Aus dem US-Englischen übersetzt von Andreas Jäger
ISBN-13: 978-3866042971

https://www.penguinrandomhouse.de/Verlag/Random-House-Audio/21000.rhd

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