William Gibson – Virtuelles Licht (Idoru 01)

Die Bridge-Trilogie handelt im Allgemeinen von den Anfängen der Cyberspace-Technologie und spielt einerseits an der amerikanischen Westküste, in einem Kalifornien, das sich nach einem Erdbeben in die zwei separaten Staaten NoCal und SoCal aufgeteilt hat, andererseits in einem Tokio, das durch Nanotechnologie wiedererrichtet wurde, nachdem es ebenfalls durch ein Erdbeben Schaden genommen hatte.

Die verschiedenen Teile der Brücken-Trilogie teilen sich ein Grundrepertoire an Figuren: Die wichtigsten sind der Fahrer „Berry“ Rydell und die Fahrradkurierin Chevette Washington. Der Computerhacker Colin Laney, der die mysteriöse Fähigkeit besitzt, Muster aus weiten Datenfeldern herauszulesen, kommt in All Tomorrow’s Parties und in Idoru vor. Ein anderer wiederkehrender Charakter ist die virtuelle „Idoru“ namens Rei Toei.

Das Wort Idoru (eigentlich aidoru) ist eine japanische Umformung von „Idol“. (Wikipedia.de)

Der Autor

William Gibson lebt in Vancouver, British Columbia, jener Gegend, in der auch seine Kollege Douglas Coupland lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er fing als Englischlehrer an, floh vor dem Wehrdienst ins kanadische Toronto und schrieb ab Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre Erzählungen, die die Science-Fiction verändern sollten.

William Gibson, geboren 1948, emigrierte 1968 ins kanadische Toronto, nachdem ihn der US-Musterungsausschuss zurückgewiesen hatte. Er lebt seit 1972 in Vancouver, Kanada, wo der asiatische Einfluss sehr stark ist – einerseits durch viele chinesische Einwanderer, andererseits durch die starke japanische und Hongkong-chinesische Wirtschaft. Beides schlug sich in der „Neuromancer“-Trilogie nieder, die Gibson berühmt machte. Er begann aber schon 1977, als er noch Englischlehrer war, Storys zu veröffentlichen. 1983 hatte er bereits sein Kurzgeschichtenwerk mit der Titelstory dieser Sammlung (1986) komplett veröffentlicht.

Der Rest ist Geschichte: Als „Neuromancer“ 1984 erschien, war das wie eine Supernova in einem erschöpften dunklen Himmel, nämlich dem der damaligen Sciencefiction. Denn im Vergleich zu der traditionellen US-amerikanischen Sciencefiction bedeutete die Low-life-Straßengangbevölkerung mit der kriminellen Hightech-Nutzung pure Ketzerei: Amerikanische Straßen hatten sauber zu sein, die Jugendlichen hoffnungsfrohe Sportskameraden oder künftige Mütter (Reagan-Ära!) und die Computerzukunft leuchtete in den rosigsten Farben. Nichts davon findet sich in Gibsons Vision!

Es ist die typisch kanadische Vision der Welt als leere Wildnis, die sich nicht mit Vernunftmitteln begreifen lässt. Die Sehnsucht der Protagonisten gilt einer Selbstübersteigerung, der Transzendenz. In der Neuromancer-Trilogie besteht diese Sehnsucht in dem Entkommen dessen, was das Fleisch dem Geist an Grenzen und Fesseln auferlegt. Der Fluchtpunkt ist oftmals das, was inzwischen besser als „Matrix“ bekannt ist und in diesem Zusammenhang auch zuerst von Gibson verwendet wurde. Damals war es der „Cyberspace“, ein Begriff, den Gibson erfunden hat, um eine Wirklichkeit zu bezeichnen, die aus einer vernetzten Welt der Computer, dem heutigen Internet, besteht, in die man sich aber mit einem Gerät (Deck) „einstöpseln“ kann – etwa, um Daten zu stehlen.

Höhepunkt seiner Entwicklung war der Roman „Neuromancer“, in dem er den „Cyberspace“ postulierte, das, was wir heute als Internet kennen und nutzen. Allerdings stöpselt sich Gibsons Held Case direkt in den Computer ein. Auch an dieser direkten Gehirn-Maschine-Verbindung wird bereits gearbeitet, Geräte für Endverbraucher waren schon auf der CeBIT 2004 zu sehen.

Der Begriff „Cyberpunk“ stammt nicht von Gibson, sondern wurde erstmals 1980 vom Autor Bruce Bethke verwendet. Den übernahm dann der wichtigste Herausgeber von Sciencefiction in den USA, Gardner Dozois, und machte ihn populär. Das Konzept hatte schon 1964 Stanislaw Lem unter dem etwas sperrigen Begriff „Periphere Phantomatik“ aus der Taufe gehoben.

Heute sind Gibsons Visionen auf die sehr nahe Zukunft gerichtet, und seine Romane untersuchen deren Möglichkeiten, sowohl in kultureller, ästhetischer als auch krimineller und moralischer Hinsicht. Insofern ist Gibson heute der herausragende Moralist moderner Sciencefiction. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.

Romane

Neuromancer-Trilogie (Sprawl trilogy)

Neuromancer (1984)
Biochips (Count Zero, 1986)
Mona Lisa Overdrive (1988)

Die Differenzmaschine (The Difference Engine, 1990, zusammen mit Bruce Sterling)

Idoru-Trilogie (Bridge trilogy)

Virtuelles Licht (Virtual Light, 1993)
Idoru (1996)
Futurematic (All Tomorrow’s Parties, 1999)

Bigend-Trilogie (Blue Ant trilogy)

Mustererkennung (Pattern Recognition, 2003)
Quellcode (Spook Country, 2007)
System Neustart (Zero History, 2010)

Jackpot-Trilogie (Jackpot Trilogy)

Peripherie (The Peripheral, 2014). Übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann, Tropen 2016[4]
Agency (2020). Übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann und Benjamin Mildner, Tropen 2020[5]
Der dritte Band der Trilogie ist noch nicht erschienen.

Archangel (2016)

Handlung

Einige Jahre in der Zukunft von San Francisco. Die Oakland Bay Bridge gibt es längst nicht mehr – sie dient inzwischen als Heimstatt für zahlreiche Misfits, die sich ein Häuschen nicht leisten können. Auch Autos gibt es längst nicht mehr, dafür aber enorm leichte und robuste Fahrräder aus Pappe.

Auf der Oakland Bridge wohnt auch die Heldin des Romans, Chevette, die Fahrradkurierin, in einer komplexen Nischengesellschaft menschlicher Streuner. (Der Fan kennt die Szene aus der Verfilmung von Gibsons Story „Johnny Mnemonic“ mit Keanu Reeves.) Chevette ist ein streetwise kid und abgebrüht – besser für sie.

Die andere Hauptfigur ist Berry Rydell, ein Ex-Polizist aus Knoxville, Tennessee. Auch in Los Angeles will er nur ein Auskommen haben und schreibt sich bei der Firma |IntenSecure Armed Response| als Angestellter ein: ein privates Bewachungsunternehmen, das die Reichen und Schönen vor der Unbill des Alltags des Verbrechens im Lande beschützen soll.

In San Francisco übernimmt Chevette die Packtasche einer anderen Art von Kurier, dem Undercover-Agenten der von Singapur aus operierenden |Pacific Rim Company|, die in Nordkalifornien wirklich den Ton angibt – und gelangt so in den Besitz eines brisanten Stücks Hightech, einer speziellen Brille.

IntenSecure schickt Berry Rydell nach Science Fiction, um dort mit Kollege Lucius Warbaby (nomen est omen!) sowohl im realen Dasein wie im Cyberspace nach der Diebin der Brille zu fahnden. Leider scheint Rydell einen Anfall romantischer Verliebtheit zu erleiden, als er Chevette begegnet. Und flugs befindet er sich auf Kollisionskurs mit seinen Arbeitgebern, mit Kollege Warbaby und dem Undercover-Agenten. Rydell ist ein Chandler’scher Antiheld, der sich nur dank seines Instinkts auf die Seite der „Guten“ schlägt – und dafür von den Hackern à la Robin Hood in letzter Sekunde gerettet wird.


Mein Eindruck

Gibson hat im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Romanen „Neuromancer“, „Count Zero“ und „Mona Lisa Overdrive“ einen erstklassigen Krimi geschrieben, mit Film-Noir-Kulissen und staubtrockenen Dialogen. Das dient nur dazu, seine romantische Vision der Zukunft des Jahres 2005 zu verdecken: Die Reichen haben die Erde und die Schwächeren ausgebeutet und verschanzen sich hinter festungsartigen Grundstücken und Wachdiensten. Die Armen, Ausgestoßenen, Dissidenten aber hausen im Zwischendeck der Oakland Bridge, glauben an die Macht der Gemeinschaft und die Pflicht zur Rebellion. Keine Frage, wem seine Sympathie gilt.

Doch diese Zukunft hat schon begonnen. Heute bringen Computerhacker im Amoklauf Firmen um Milliardenbeträge, erscheint die im Computer erzeugte Wirklichkeit schöner als unsere reale Welt, manipulieren Techniker an menschlichen Genen und werden massenhaft Klone herstellen. Es ist nicht allzu viel Vorstellungskraft nötig, um sich auszumalen, wohin unsere, insbesondere die amerikanische Gesellschaft treibt, welche der deutschen ja nur ca. zehn Jahre voraus ist.

„Virtuelles Licht“ lässt den Leser einen spannenden und unterhaltsamen Blick in eine Welt werfen, vor der uns der Autor warnt. Es ist ratsam, das Augenmerk auf jene Werte zu richten, für die es sich nach Ansicht Gibsons zu kämpfen, zu rebellieren lohnt. Dann können wir vielleicht noch was ändern – oder uns zumindest auf das Schlimmste einstellen.

Taschenbuch: 367 Seiten.
O-Titel: Virtual Light, 1993
Aus dem Englischen von Peter Robert.
ISBN-13: 978-3453863279

www.heyne.de

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