Graeff, Alexander – Gedanken aus Schwerkraftland

Alexander Graeff hat ein schönes Büchlein mit kurzen Prosastücken vorgelegt, die leicht zu lesen sind und zugleich in die Tiefe gehen. Eine echte Bereicherung sind auch die Illustrationen von Guglielmo Manenti, bei deren Betrachtung sich ähnlich vielfältige Assoziationsräume öffnen wie beim Lesen der Texte.

Lesend und schauend tun sich Welten auf, die sonst unter der Alltagsoberfläche verborgen liegen oder gar ein noch heimlicheres Dasein in tieferen Schichten des Ichs führen. Alexander Graeff spielt mit Assoziationen und Erinnerungseinbrüchen, welche die „Realität“ für die Dauer der Geschichte an den Rand drängen, ohne jedoch das „Alltägliche“ gänzlich aus den Augen zu verlieren. Zuweilen erscheinen die geschilderten Begegnungen und Begebenheiten seltsam zeitlos, losgelöst von konkreten Orten und aktuellem Tagesgeschäft. Dann wieder liest man, leichthin eingestreut, von vertrauten Straßennamen, bekannten Plätzen, Café-Besuchen, U-Bahn-Fahrten und all jenen Dingen, die bei einem Spaziergang durch die Großstadt mit wachem Blick erfahrbar sind. Gerade dieses Wiedererkennen alltäglicher „Rituale“ trägt dazu bei, dass der Leser auch vor abstrakteren Gedankengängen nicht zurückschreckt.

Ein besonders gelungenes Beispiel für das locker verwobene Netz von Alltag und Transzendenz, Exotik und allzu Vertrautem stellt für mich die Geschichte „Die Kunstmaler“ dar: Ein Kaleidoskop an „Parallelwelten“ eröffnet sich, in dem die Bewohner einer Künstlerkolonie mit den Meistern, deren Werke sie kopieren, verschwimmen, der Erzähler sich von einem Unbekannten verfolgt glaubt und der verzweifelte Kinderwunsch eines jungen Paares in der Errichtung einer unheimlichen, halborganischen Skulptur gipfelt.

Nach dem Zuschlagen des Büchleins liegen unzählige Fragen auf der Zunge, hängen unzählige Bilder im Kopf.

Wie schon in den Worten zum Geleit dem Leser mitgegeben, sind die Texte essentiell „unabgeschlossen“, die Gedanken, die Alexander Graeff vor dem Leser ausbreitet, „in Schleifen gebettete Fragmente“. Darauf kann sich sicherlich nicht jede/r Leser/in in jeder Situation einlassen, trotz der Kürze der Texte. Mehr als intellektuelle Konzentration erfordert das Lesen eine beinahe meditative Herangehensweise. Wer sich die Zeit und Ruhe nimmt, sich auf die literarischen Kontrapunkt zur hektischen, reizüberfluteten Alltagswelt einzulassen, dem werden flüchtige Blicke hinüber in jene verschollenen „Parallelwelten“ gewährt, ähnlich jenen Erinnerungsfetzen aus der Kindheit, die überreich an Sinneseindrücken, aber aus jeglichem „vernünftigen“ Kontext gerissen, uns ein Leben lang begleiten. In diesen Erinnerungen gibt es kein klar voneinander abgegrenztes „Gut“ und „Böse“, sie sind intensiv und wunderschön und zugleich oftmals verstörend.

Mancher Leser wird sich von den hingestreuten Hinweisen, den aufgenommenen und wieder fallen gelassenen Fäden, den kurz geöffneten und wieder zugeschlagenen Falltüren sicherlich irritiert fühlen. Zu sehr sind wir darauf trainiert, Antworten auf unsere Fragen zu verlangen, und werden leicht ungehalten, wenn wir sie nicht unmittelbar und in mundgerechten Stücken serviert bekommen. Jedoch schafft es das Buch durch seine spielerische Leichtigkeit im Umgang auch mit philosophischen, metaphysischen Fragen, den Leser aus den alltäglichen Erwartungen herauszureißen und zum Versinken in eine andere Welt einzuladen.

Mehr als die Tür einen Spalt weit aufstoßen kann der Autor nicht tun. Hindurchgehen muss jeder Leser allein.

http://www.alexander-graeff.de/

_Anja Kümmel_

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