Jean-Christophe Grangé – Im Wald der stummen Schreie

Jean-Christophe Grangé – diesen Namen verbinde ich mit Nervenkitzel, ausgefeilten Spannungsromanen, packenden Geschichten, interessanten Wendungen und Topspannung bis zur letzten Seite. Bekannt geworden durch „Die purpurnen Flüsse“ hat sich der französische Bestsellerautor inzwischen in die Riege der ganz Großen geschrieben, sodass ich mit großer Vorfreude seinem aktuellen Buch „Im Wald der stummen Schreie“ entgegen gefiebert habe. Doch leider, leider enttäuscht Grangé dieses Mal nahezu auf ganzer Linie …

Penetrante Richterin

Jeanne Korowa arbeitet in Paris als Untersuchungsrichterin. Eigentlich ist sie mit einem eigenen, sehr aufwändigen Fall befasst, doch dann nimmt ihr Kollege François Taine sie mit zu seinen Tatorten. Taine hat es mit grausamen Kannibalenmorden zu tun. Seine Opfer wurden auf brutalste Weise ermordet und noch am Tatort halb verspeist. Korowa und Taine sind sprachlos angesichts der Taten und ermitteln daher gemeinsam. Eines Abends bittet Taine seine Kollegin zu sich nach Hause, weil er die entscheidende Verbindung zwischen den drei Opfern gefunden hat. Doch als Jeanne Korowa sich seinem Haus nähert, sieht sie die Flammen auflodern und muss vor den Absperrungen der Polizei und Feuerwehr Halt machen. Taine kommt in den Flammen um und Korowa ist überzeugt, dass der Mörder selbst das Feuer gelegt hat, um seine Haut zu retten. Welche entscheidende Spur hat Taine verfolgt?

Korowa bekommt ihren eigenen Fall entzogen, darf aber weder in Sachen Kannibalenmorden noch im Fall ihres ermordeten Kollegen – denn es handelt sich tatsächlich um Brandstiftung – ermitteln. Kurzerhand lässt sie sich beurlauben, räumt ihr Konto und ermittelt auf eigene Faust.

Dabei verfolgt sie auch die Spur des Psychiaters Antoine Féraud, den sie abhören lassen hat, um den Sitzungen ihres Freundes Thomas lauschen zu können. Jeden Abend hört sie in die Bänder des Psychiaters rein und wird dabei auch Zeugin, wie ein besorgter Vater von der Persönlichkeitsspaltung seines autistischen Sohnes berichtet, der im Wahn brutale Züge zeigt. In einer Sitzung verkündet der Vater, dass sein Sohn Joachim noch am gleichen Abend einen Mord begehen wird. Und tatsächlich: Am Tag darauf begleitet Korowa ihren Kollegen Taine zu einem Kannibalenmord. Joachim muss der gesuchte Kannibale sein. Doch als Taine diesem selbst zum Opfer fällt, ist auch plötzlich Féraud verschwunden. Die Spur führt Korowa nach Südamerika, wo sie in einem einsamen Wald auf der Suche nach einem ganz besonderen Volk geht …

Richterin mit Schwächen

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Jeanne Korowa, die als Untersuchungsrichterin in Paris arbeitet. Sie ist mit einem komplexen Fall betreut, doch als ihr Kollege Taine sie zu den Kannibalenmorden mitnimmt, lenkt sie das dermaßen ab, dass ihre eigentliche Arbeit liegen bleibt. Sofort ist sie fasziniert von den grausamen Taten, die Jean-Christophe Grangé seinen Lesern bis ins letzte Detail schildert. Wer einen schwachen Magen hat, dürfte hier sicherlich mit Übelkeit zu kämpfen haben.

Drei Kannibalenmorde geschehen innerhalb kürzester Zeit, ohne dass die Polizei die Verbindung zwischen den drei grausam ermordeten Frauen findet. Taine jedoch entdeckt die entscheidende Verbindung, kann von seinen Erkenntnissen allerdings nichts mehr erzählen, weil er selbst vorher in den Flammen umkommt.

Da Korowa selbst in jungen Jahren ihre Schwester durch ein grausames Verbrechen verloren hat, verfolgen sie die Kannibalenmorde umso mehr. Zumal auch diese Morde in einen düsteren Wald führen – und auch ihre Schwester ist einst in einem Wald ermordet worden. Viele Parallelen sind es, aber natürlich nicht der gleiche Täter und nicht der gleiche Wald, wie der Leser sonst schnell vermuten könnte. Jeanne Korowas Schwester bleibt stets eine Randfigur, die zwar erwähnt wird, aber doch irgendwie nie ganz greifbar wird. Auch bleiben diese Ereignisse so weit im Dunkeln, dass man als Leser nicht immer ganz nachvollziehen kann, wie Jeanne Korowa handelt. Sie schluckt ständig Tabletten, überzieht immer wieder ihr Konto und lässt einfach einen Psychiater abhören, nur weil ihr komischer Freund dort in Behandlung ist. Als sie dann durch das Band erfahren muss, dass ihr Freund eigentlich eine ganz andere Frau heiraten möchte, verliebt sich Korowa postwendend in die Stimme des Psychiaters. Irgendwie bekommt man sie als Leser nie so recht zu fassen, immer wieder sitzt man kopfschüttelnd über das Buch gebeugt, weil die Richterin wie im Wahn handelt und man nicht nachvollziehen kann, was sie so dermaßen an dem Kannibalenmord fasziniert, dass sie dafür praktisch alles aufs Spiel setzt – ihren Job, ihre Karriere und auch ihr Leben.

Alle anderen Figuren bleiben stets im Hintergrund. François Taine mag zwar Potenzial besitzen, doch kommt er ums Leben, bevor der Leser eine Verbindung zu ihm aufbauen kann. Auch der Psychiater Feraud bleibt stets undurchsichtig, da man ihn fast nur über das Hören der Bänder kennen lernt und er vom Erdboden verschwunden ist, als Jeanne Korowa sich auf die Suche nach dem Kannibalen macht. Der Kannibale Joachim wiederum ist ebenfalls nur eine Stimme vom Band.

So zeigt der Thriller personell einige Schwächen, sicher wäre es besser gewesen, wenn Grangé nicht seine gesamte Geschichte auf Korowa aufgebaut hätte, sondern sich noch die Mühe gemacht hätte, den Nebenfiguren mehr Bedeutung zu verleihen.

Quer über den Erdball

Die Geschichte an sich beginnt zunächst durchaus viel versprechend. Zwar war mir von Anfang an nicht klar, wieso Grangé ziemlich detailliert über Jeanne Korowas eigentlichen Fall berichtet hat, da sie ohnehin nur halbherzig daran gearbeitet und ihn dann schnellstmöglich abgegeben hat, aber nun ja. Der Kannibalenmord dagegen verspricht durchaus eine spannende Geschichte. Drei Frauen werden innerhalb kürzester Zeit auf brutalste Weise ermordet und halb verspeist. An den Wänden am Tatort hinterlässt der Täter merkwürdige Zeichen – zum Teil mit Blut gemalt. Über die Malereien und die Arbeit der Frauen gelangt Jeanne Korowa schnell zu der Überzeugung, dass in Südamerika die Lösung des Falls zu finden ist. Und so macht sie sich auf die Suche nach einem Vater mit seinem autistischen Sohn, der schon in Südamerika für seine Brutalität und Grausamkeit bekannt war. Im tiefsten Dschungel Argentiniens schließlich kommt Jeanne der Lösung des Falls auf die Spur …

Im Laufe des Buches schickt uns Jean-Christophe Grangé quer über den Erdball. Dabei thematisiert er sehr ausführlich das schreckliche Militärregime in Argentinien, bei dem es gang und gäbe war, dass Kinder, die in Gefangenschaft geboren wurden, an kinderlose Paare der Militärregierung weitergereicht wurden. Diese verlorenen Kinder haben meist nie erfahren, wer ihre leiblichen Eltern waren, zumal ihre Mütter üblicherweise noch in Gefangenscheit gefoltert und ermordet worden sind. Dieses dunkle Kapitel der argentinischen Geschichte lässt einen natürlich nicht kalt, doch leider beschränkt sich Grangé nicht auf dieses Thema, sondern erzählt darüber hinaus von einem Volk, das im Wald lebt und offenkundig noch Merkmale frühzeitlicher Cro-Magnon-Menschen trägt. So zeigen Schädel, die in dem Wald gefunden worden sind, genau diese Merkmale, die eigentlich seit Jahrtausenden hätten ausgestorben sein müssen. Doch sind die Schädel jüngeren Datums. Was ist also in diesem Wald geschehen?

Bei diesem Thema begibt sich Grangé auf sehr dünnes Eis. Natürlich leben am Ende keine Vormenschen in diesem Wald. Wie Grangé diese Geschichte aufklärt, hat mich keineswegs überzeugt, hier wird die Erzählung immer abstruser.

Auch das Erzähltempo leidet stark darunter, dass Grangé sich nicht auf ein Thema beschränkt, sondern immer neue Ideen ins Buch einflechtet. Da ist erst der Fall, den Korowa eigentlich hätte bearbeiten sollen und der dann komplett im Sande verläuft und natürlich mit der eigentlichen Geschichte gar nichts zu tun hat. Dann Korowas undurchsichtige Vergangenheit, der merkwürdige Freund, der es nicht ehrlich mit ihr meint und den wir nie kennen lernen und dann der Psychiater, der Korowa zwar optisch eigentlich gar nicht gefällt, aber in dessen Stimme sie sich Hals über Kopf verliebt. Und dann noch diese abstruse Geschichte im argentinischen Dschungel über ein Kind, das bei Brüllaffen lebt und zu brutalen Ausfällen neigt – nein, das ist eindeutig zu viel des Guten. Dieses Sammelsurium an Themen hat dazu geführt, dass es mich ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr interessiert hat, wie sich der eigentliche Fall schlussendlich aufklärt.

Im Wald verlaufen

Mit großen Erwartungen habe ich das Buch aufgeschlagen und mit großer Enttäuschung wieder zugeklappt. War ich es von Grangé bislang immer gewohnt, dass er außergewöhnliche Fälle extrem spannend erzählt und immer wieder einen nahezu perfekten Spannungsbogen konstruiert, wurde ich hier bitter enttäuscht. Zwar ist der Beginn noch recht viel versprechend, doch dann verliert sich Grangé in seinen Geschichten, er lädt einer einzigen Protagonistin die gesamte Geschichte auf, doch leider überzeugt dieser Charakter überhaupt nicht und kann daher auch die Geschichte nicht tragen. Die Auflösung ist völlig misslungen, und auch wenn Grangé hier noch mal mit einer kleinen Überraschung aufwartet, nimmt man diese nur noch gelangweilt zur Kenntnis. Wie der Fall ausgeht und ob Korowa das überhaupt überlebt, interessiert einen eigentlich schon ab der Hälfte des Buches nicht mehr. Schade, das kann Jean-Christopher Grangé deutlich besser!

Hardcover, 541 Seiten
Originaltitel: La Foret des Manes
ISBN-13: 978-3431038156
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