Haddon, Mark – wunde Punkt, Der

Die Durchschnittsfamilie aus der Vorstadt war in der Vergangenheit schon so manche gute Story wert. Man denke nur an einen Film wie „American Beauty“, der wie kein anderer die piefige Vorstadtwelt porträtiert. Ähnlich kleinbürgerlich, aber eben dennoch gänzlich anders als die Welt von Lester Burnham sieht das Leben von George Hall aus: Zwei-Kinder-Standardfamilie, Vorstadthaus mit Garten – alles in bester Ordnung.

George Hall ist Rentner, aber diese einschneidende Veränderung birgt für ihn scheinbar keine Probleme. Seine Zeit verbringt er damit, an seinem Gartenhäuschen herumzuwerkeln oder dezenten Jazz zu hören. Das Familienleben läuft in geregelten Bahnen, die Kinder sind aus dem Haus, die Gattin Jean pflegt ein außereheliches Verhältnis, von dem er nichts weiß, und die Homosexualität des Sohnes Jamie wird dezent totgeschwiegen.

Doch alles ändert sich mit dem Tag, an dem George in der Umkleidekabine eines Kaufhauses einen seltsamen Fleck an seiner Hüfte entdeckt. Das muss Krebs sein, denkt er und macht sich gleich darauf Gedanken, wie er am unkompliziertesten von dieser Welt abtreten kann, ohne anderen größere Umstände zu bereiten. Mit der Konsequenz, dass er einen Blackout erleidet.

Doch schon zu Hause ereilt den Rentner der nächste Schock: Tochter Katie will zum zweiten Mal heiraten, und das, obwohl ihre Eltern mit ihrem Auserwählten alles andere als glücklich sind. George bekommt auf den Schreck prompt seinen nächsten Blackout. Während Jean sich in die Vorbereitung der Feierlichkeiten stürzt, beginnt George mehr und mehr an seinem Verstand zu zweifeln. Und auch das Krebsgeschwür an seiner Hüfte macht ihm Kummer, führt es ihm doch die eigene Vergänglichkeit vor Augen und zwingt ihn dazu, sich gedanklich auf den Tod einzustellen. Und warum nimmt sein Hausarzt das alles nicht wirklich ernst?

Sohnemann Jamie hat derweil ganz andere Sorgen. Da hat er nun endlich einen festen Freund, aber kann er den auch mit auf eine Vorstadthochzeit im spießbürgerlichen Peterborough mitnehmen? Der Geliebte nimmt im Angesicht des zögerlichen Verhaltens seines Freundes prompt Reißaus, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da nun auch noch die Hochzeit zu platzen droht. Mitten in dem ganzen Trubel steht George allein und machtlos seinem vermeintlichen Krebsgeschwür gegenüber. Aber er resigniert nicht, und so entscheidet er sich für eine Radikalmaßnahme …

Ein wenig erinnern die chaotischen Halls von Mark Haddon an die nicht minder merkwürdigen Lamberts aus Jonathan Franzens [„Korrekturen“. 1233 Beide Familien sind sonderbar und alltäglich zugleich, und beiden Autoren ist gemein, dass sie mit ihren jeweiligen Romanen außerordentlich unterhaltsame Familienporträts entworfen haben.

Jede Figur hat ihre Macken, und doch wirkt jede auf ihre Art ziemlich normal. George, der Rentner, der kein Mann großer Worte ist, der eigentlich ein so bescheidenes Leben führt und nun auf so eigentümliche Art und Weise aus seinen bisherigen Bahnen ausbricht, ist sicherlich die schillerndste Figur der Geschichte. Seine Charakterisierung nimmt schon gewisse verrückte Züge an, bleibt nichtsdestotrotz aber stets sehr liebenswürdig.

Der Rest der Familie hat auch seine Macken, wirkt dabei aber etwas bodenständiger. Sie alle werden von Problemen im Liebesleben geplagt, und in allen Fällen entblättert Haddon wunderbar nachvollziehbar Motive und Gedanken der Protagonisten. Er wechselt immer wieder die Perspektive, spult die Handlung immer wieder aus neuen Blickwinkeln ab und schafft es auf diese Weise sogar, eine gewisse Spannung zu erzeugen.

Der Leser ahnt, dass alles auf einen unvermeidlichen Höhepunkt zuläuft, eine Katastrophe, in der das Chaos seinen Zenit erreicht. Das ganze Buch, der ganze Spannungsverlauf zielt auf diesen einen Moment ab, und so schafft Haddon es mit Leichtigkeit, den Leser bei der Stange zu halten. Man muss einfach wissen, wie es weitergeht, und so entwickelt sich „Der wunde Punkt“ zu ganz unerwarteter Spannungslektüre.

Haddon bedient sich so gesehen einer sehr geschickten Erzählweise. Was auf den ersten Blick wie ein ganz lockerer Unterhaltungsroman wirkt, zeigt bei genauerer Betrachtung ganz andere Qualitäten. Ein spannend aufgebauter Plot wird mit facettenreichen Figurenskizzierungen und unerwartet tiefen Einblicken in die Abgründe der verschiedenen Persönlichkeiten verquickt – und das glaubwürdig und in sich stimmig.

Eine weitere Qualität ist Haddons wunderbarer Erzählton. Ganz leichtfüßig erzählt er seine Geschichte, locker und unverkrampft. Er streut immer wieder Gags ein und bringt den Leser zum Schmunzeln, baut dabei aber im Laufe der Kapitel auch eine gewisse Dramatik auf. „Der wunde Punkt“ ist eine ausgeglichene und toll erzählt Tragikomödie, die voller Leben steckt und dabei das Kunststück vollbringt, gleichermaßen herrlich skurril, unspektakulär normal und voller ehrlicher Ansichten über das Leben zu sein.

Von Anfang bis Ende schafft Haddon ein stimmiges Romangefüge und eine dichte Atmosphäre. Leichtfüßiger Unterhaltungsroman und tiefgründiges Drama in einem: Haddon gelingt damit ein gewisser Balanceakt, der sich ganz nebenbei wunderbar unterhaltsam liest.

Bleibt unterm Strich ein durchweg positiver Eindruck zurück. Mark Haddon hat mit „Der wunde Punkt“ ein herrlich liebenswürdiges und skurriles Familienporträt abgeliefert, das von der ersten bis zur letzten Seite keine Sekunde Langeweile aufkommen lässt. Wer schon Spaß daran hatte, Jonathan Franzens Lamberts in den „Korrekturen“ zu beobachten, und wer britisch angehauchte Tragikomödien mag, für den dürfte „Der wunde Punkt“ absolut lohnenswerte Lektüre sein.

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