Hammesfahr, Petra – Lüge, Die

Susanne Lasko ist eine einsame Frau Mitte dreißig. Seit drei Jahren ist sie geschieden, ihre blinde Mutter lebt in einem Pflegeheim. Nach zwei miterlebten Überfällen ist Susanne für ihren Beruf als Bankangestellte nicht mehr geeignet, findet jedoch auch keine neue Arbeit und lebt in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung. Um vor allem gegenüber ihrer Mutter den Schein zu wahren, verzichtet sie auf Sozialhilfe und bedient sich stattdessen heimlich an der anvertrauten Reserve ihrer Mutter, in der Hoffnung, das Geld eines Tages zurückzahlen zu können.

In dieser aussichtslosen Lage trifft sie eines Tages im Aufzug ihre Doppelgängerin. Nadia Trenkler ist von kleinen Abweichungen abgesehen ihr genaues Ebenbild. Ihr Leben könnte allerdings nicht verschiedener sein: Nadia ist finanziell unabhängig und seit sieben Jahren mit Michael verheiratet. Susannes Entbehrungen und Unsicherheiten kennt die selbstbewusste Frau nicht. Auf ihr Drängen hin lernen sich die beiden Frauen besser kennen. Nadia erkennt Susannes missliche Lage und bietet ihr Unterstützung an.

Bald stellt sich heraus, dass ihre Handlung nicht uneigennützig war, denn für Nadia ist dieser Zufall ein Glücksgriff. Sie macht Susanne ein atemberaubendes Angebot: Jedes zweite Wochenende soll Nadja in ihre Rolle schlüpfen und sie zuhause vertreten, damit sich Nadia ungestört mit ihrem Liebhaber treffen kann. Zunächst hält Susanne diesen Vorschlag für undurchführbar, doch kleine Tests mit Bekannten beweisen, dass die Täuschung perfekt ist. Die Versuchung ist groß und Susanne willigt ein. Das Geld kann sie gut gebrauchen und es reizt sie, wenigstens für kurze Zeit Nadias luxuriöses Leben zu führen.

Wider Erwarten geht der Plan auf. Von kleinen Pannen abgesehen, wird Susanne immer sicherer in ihrer neuen Rolle. Für Nadias Ehemann Michael empfindet sie sogar ehrliche Gefühle und wünscht sich manchmal, sie könnte für immer in dieser Rolle bleiben. Doch nach kurzer Zeit kommt Misstrauen auf. Es häufen sich die Anzeichen dafür, dass Nadia ein böses Spiel mit ihr treibt und Susannes Identität für dunkle Geschäfte missbraucht …

Petra Hammesfahr ist eine Autorin, die für zerrissene Frauencharaktere, das Spiel zwischen Schein und Sein sowie überraschende Wendungen bis hin zur Undurchsichtigkeit steht. Alle drei Komponenten finden sich auch in diesem Roman wieder, der sowohl Stärken als auch Schwächen ihrer vorangegangenen Werke in sich vereint.

|Altbewährtes Motiv|

Das Bild des Doppelgänger ist eines der ältesten Motive in der Literaturgeschichte überhaupt und taucht im Laufe der Jahrhunderte in den unterschiedlichsten Varianten auf. Sei es im gleichnamigen Werk von Dostojewski, bei „Prinz und Bettelknabe“ von Mark Twain, in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ oder in seinen „Elixiere(n) des Teufels“, in Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ oder in Poes „William Wilson“. Nicht umsonst ist es ein so beliebtes Motiv, denn bei seiner Verwendung sind Verwirrspiele und Spannung vorprogrammiert. Wie so häufig haben denn auch in diesem Fall die beiden Charaktere außer ihrem identischen Aussehen nichts miteinander gemeinsam und ihre Leben sind so verschieden wie Tag und Nacht. Das erhöht für beide Frauen den Reiz, die Rollen für kurze Zeit zu tauschen – und dem Leser ist klar, dass diese Aktion folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen wird. Deutlich wird das schon im Prolog, in dem ein Junge die Leiche einer Frau in einem Müllcontainer findet. Schon auf den ersten Seiten ist also offensichtlich, dass dieses perfide Spiel für mindestens eine der beiden Frauen tödlich endet …

|Identifikation mit Protagonistin|

Der Leser fühlt sich schnell zu Susanne Lasko hingezogen, obwohl oder gerade weil es sich bei ihr eher um eine Anti-Heldin handelt. Susanne Lasko ist eine gescheiterte Existenz, die sich mühevoll über Wasser hält. Ihrer Mutter fühlt sie sich moralisch verpflichtet und bringt es daher nicht über das Herz, ihr von ihrer Armut zu erzählen. Soziale Kontakte beschränken sich auf Gespräche mit der Nachbarin, ein neuer Job ist nicht in Sicht, der Ex-Ehemann neu verheiratet. Nadia Trenkler ist auf den ersten Blick ein Gewinnertyp. Finanziell unabhängig mit sicherem Job, Luxushaus und großem Freundeskreis. Ihr Leben besteht aus Börsengeschäften, Partys und Vergnügungen. Dennoch gehören nicht ihr, sondern der gebeutelten Susanne die Sympathien. Ihr Leben ist eine Verkettung von ungünstigen Umständen. Sogar für das heimliche Geldabheben bei ihrer Mutter hat der Leser Verständnis, denn Susanne leistet sich davon nur das Nötigste, verzichtet unter anderem auf eine Krankenversicherung und ernährt sich wochenlang nur von Nudeln, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Niemand kann es ihr verdenken, dass sie sich auf den gewagten Rollentausch, der ihr immerhin mehrere tausend Euro einbringt, einlässt. Und obwohl man nicht alle ihre Handlungsweisen gutheißen kann, fiebert man mit ihr und hofft, dass ihr Leben eine positive Wendung erhält.

|Abstriche durch Verwirrung und Unglaubwürdigkeit|

Leider gibt es gleich zwei Punkte, die den Lesegenuss schmälern. Der eine ist die offensichtliche Unglaubwürdigkeit, ausgelöst ausgerechnet durch den eigentlichen Aufhänger, durch das Doppelgängermotiv. So faszinierend der Gedanke auch ist, dass man seinen genauen Ebenbild gegenübersteht, so unrealistisch erscheint es auch. Sicher gibt es Menschen, die einander verblüffend ähneln, aber Susanne und Nadia sehen sich, ohne dass sie miteinander verwandt wären, offenbar so ähnlich wie ein eineiiges Zwillingspaar. Auf die Täuschung fallen nicht nur flüchtige Bekannte wie Nadias Hausarzt herein, sondern sogar die engsten Freunde und schließlich auch ihr Ehemann. Susanne verbringt ganze Tage mit Michael Trenkel, an denen die beiden letztlich auch miteinander schlafen. Es ist schwer vorzustellen, dass selbst in dieser Intimität Susanne ihre wahre Identität verbergen kann. Dazu kommt, dass Susanne nicht viel Zeit hat, sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten und mit vielen Gesichtern, Namen und Anekdoten, die ihr als Nadia Trenkler präsentiert werden, nichts anfangen kann. Immer wieder tritt sie ins Fettnäpfchen, immer wieder kommt sie mit Mühe davon – so oft, dass man ins Zweifeln gerät, ob das noch wahrscheinlich oder ihr Umfeld einfach nur verblendet und begriffstutzig ist. Auf der anderen Seite muss man zugute halten, dass man wohl kaum zuverlässig einschätzen kann, wie man selbst auf einen Doppelgänger reagieren würde und ob man tatsächlich in der Lage wäre, ihn zu enttarnen.

Der andere Schwachpunkt des Romans ist die starke Zeitraffung im letzten Drittel und das rasch abgehandelte Ende. Immer mehr Personen treten auf, die Schauplätze scheinen auf jeder Seite zu wechseln und die Ereignisse überstürzen sich. Nicht nur Susanne Lasko, auch der Leser fühlt sich anhand der Entwicklung auf den letzten hundert Seiten hin und wieder überfordert. Fast automatisch baut sich angesichts der vielen undurchsichtigen Charaktere eine Distanz zum Roman auf, weil man nie sicher sein kann, wer auf welcher Seite steht und welche Enthüllungen als nächstes folgen mögen. Erschwerend kommt hinzu, dass die erste Hälfte des Romans deutlich ausführlicher erzählt wird, während man im zweiten Teil sich dahingehend umgewöhnen muss, dass alles mit erhöhter Geschwindigkeit und mit damit einhergehender Oberflächlichkeit geschildert wird. Zeitweise wirkt es so, als habe die Autorin einfach versucht, möglichst viele Ereignisse auf möglichst engem Raum abzuhandeln – was leider auf Lasten der Aufmerksamkeit des Lesers geht.

Unterm Strich fällt auf, dass die Autorin wieder einmal nicht darauf verzichten kann, es mit Doppelbödigkeiten und überraschenden Wendungen zu übertreiben. „Die Lüge“ liest sich dabei jedoch gefälliger als manch anderer ihrer Romane. Der Leser verfolgt nicht nur das Schicksal der Protagonistin, sondern stellt sich automatisch selbst die Frage, wie er angesichts eines Doppelgängers und eines Rollentausches reagieren würde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt sich das Werk flüssig lesen, ohne größere Ansprüche zu stellen. Hin und wieder fallen ein paar abgehackte Sätze, die auf Vollständigkeit verzichten oder unorthodoxen Satzbau mit sich bringen. Dabei gerät man aber nie aus dem Lesefluss, so dass der Stil insgesamt gut zu konsumieren ist.

„Die Lüge“ ist ein Psychothriller über Versuchungen und Intrigen mit einer interessanten Grundidee und einer angenehm unperfekten Protagonistin, die zur Identifizierung einlädt. Nach einer starken, spannenden ersten Hälfte sorgen die sich häufenden Unglaubwürdigkeiten und die sich überschlagenden Ereignisse für eine zunehmende Verflachung bis hin zum allzu abrupt endenden Schluss. Trotz dieser Mankos bleibt ein unterhaltsamer und über weite Strecken fesselnder Roman. Für Petra Hammesfahr-Fans ein Muss und eine Empfehlung für alle Krimifreunde mit Spaß an überraschenden Wendungen.

_Petra Hammesfahr_ wurde 1951 geboren. Bereits mit 17 Jahren begann sie zu schreiben, doch anstatt zu veröffentlichen, arbeitete sie zunächst als Einzelhandelskauffrau. 1991 erschien ihr erster Roman, weitere Kriminalromane folgten. Ab Mitte der Neunziger schrieb sie u.a. auch Drehbücher fürs Fernsehen. Weitere Werke sind u.a.: „Das Geheimnis der Puppe“ (1991), „Merkels Tochter“ (1993), „Die Sünderin“ (1999), „Der Puppengräber“ (1999), „Die Mutter“ (2000), „Lukkas Erbe“ (2000), „Meineid“ (2001) und „Das letzte Opfer“ (2002).