Hanson, Neil – Nur das Meer war Zeuge

Tollesbury ist eine kleine Hafenstadt an der Nordseeküste der englischen Grafschaft Essex und im 19. Jahrhundert als Heimat besonders fähiger Seeleute bekannt. Trotzdem ist Arbeit rar, die Konkurrenz groß. Der junge Navigator Tom Dudley ist daher nach einem für ihn und seine Familie harten Winter im Frühjahr 1884 geneigt, auf ein verlockendes aber riskantes Angebot einzugehen: Als Kapitän soll er die Rennjacht „Mignonette“ von Tollesbury nach Sidney zu ihrem neuen Eigner überführen – eine Seereise von 10.000 Seemeilen! Dudley ist ein guter Seemann, aber die „Mignonette“ ist zwanzig Jahre alt und wurde für die Küstenschifffahrt, nicht jedoch für die hohe See gebaut. Doch der gute Lohn lockt, und so stellt Dudley nach einigen Schwierigkeiten eine kleine Crew zusammen, mit der er im Mai in See sticht. Mit ihm reisen Edmund „Ned“ Brooks als Vollmatrose und Schiffskoch, der Maat Edwin Stephens und der 17-jährige Richard Parker, der als Leichtmatrose auf seine erste große Fahrt geht.

Kapitän Dudley ist als Hochseeschiffer ein Neuling. Die Sicherheit von Schiff und Mannschaft steht für ihn an erster Stelle. Er steckt einen Kurs ab, der die „Mignonette“ fern bekannter Sturmzonen halten soll. Doch ihm entgeht, dass ihn seine Route weitab der befahrenen Segel- und Dampfschiffrouten führt. Das rächt sich bitter, als am 5. Juli 1884 die „Mignonette“ in einem gewaltigen Sturm binnen weniger Minuten sinkt. Die vier Männer können sich retten, doch als sich die Wogen glätten, finden sie sich auf der halben Strecke zwischen Afrika und Südamerika ohne Lebensmittel und Wasser in einem halb lecken Dingi von gerade einmal vier Meter Länge und 1,20 Meter Breite wieder. Fast drei Wochen halten die Schiffbrüchigen trotz unglaublicher Strapazen und Entbehrungen aus. Am Ende ihrer Kräfte, den Tod unmittelbar vor Augen, berufen sich Kapitän Dudley, Stephens und Brooks auf den „Brauch des Meeres“: Sie töten Richard Parker, den Schwächsten ihrer Crew, und verzehren ihn. Das rettet ihnen das Leben, bis sie Tage später vom deutschen Dreimaster „Moctezuma“ gefunden und aufgenommen werden.

Der „Brauch des Meeres“ ist eine in Seemannskreisen wohlbekannte, doch naturgemäß niemals schriftlich fixierte Regel, rührt sie doch an ein uraltes Tabu. Das soll Kapitän Dudley und seinen beiden Begleitern zum Verhängnis werden. Während sie sich in dem Bewusstsein, etwas Furchtbares, aber letztlich Unvermeidbares getan zu haben, an Bord der „Moctezuma“ allmählich erholen, braut sich über ihren Köpfen ein Sturm ganz anderer Natur zusammen: Kannibalismus passt gar nicht in das Selbstbild der stolzen Seefahrernation England, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Weltmacht aufsteigt. Der brave britische Seemann hat gefälligst gefasst und entschlossen und wenn möglich mit einem Hoch auf die Königin in den Tod zu gehen.

Das Unglück der „Mignonette“ wird zum Politikum, als das Innenministerium beschließt, an Dudley und seinen Begleitern ein Exempel zu statuieren, um auf diese Weise den verhassten „Brauch des Meeres“ endgültig auszurotten. Das unglückliche und völlig überraschte Trio, das aus seiner Tat keinen Hehl macht, wird des Mordes angeklagt. Es entspinnt sich ein Rechtskampf durch alle Instanzen, in dem die Angeklagten niemals eine Chance haben. Sie werden zum willkommenen Bauernopfer in einem politischen Schachspiel, das sie weder verstehen noch fassen können, als sie es endlich durchschauen. Dudley, Stephens und Brooks verlieren alles – ihre Freiheit, ihren Ruf, ihre Würde und schließlich ihre Selbstachtung, als sie in ihrer Not beginnen, einander zu verraten. Nach einem in den Annalen der Justizgeschichte einmaligen und beschämenden Schauprozess, der sich über Monate hinzieht, werden die drei Angeklagten zum Tode verurteilt – und sogleich zu einer sechsmonatigen Haftstrafe begnadigt.

Die Resonanz der Öffentlichkeit und vor allem der Presse hält sich anschließend in Grenzen, und so haben es die Drahtzieher auch geplant. Als die Überlebenden der „Mignonette“ dann freigelassen werden, geschieht dies in aller Stille. Ihr Leben ist zerstört. Verbittert bemühen sie sich um einen Neuanfang, doch die Ereignisse des Jahres 1884 werden sie bis zu ihrem Tode verfolgen.

Als die unglücklichen Überlebenden der „Mignonette“ gerettet werden, hat der Leser gerade die Hälfte des Buches erreicht. Das sorgt für Verblüffung, bis sich herausstellt, dass die Geschichte nun richtig beginnt. Manches Mal werden sich Kapitän Dudley und seine Gefährten wohl gewünscht haben, auf See umgekommen zu sein, während sie durch die unerbittlichen Mühlen der britischen Justiz gedreht wurden. Dem Mord als letztem Ausweg für ein Überleben folgte der ungleich verdammenswertere Mord durch eine unheilige Allianz von Politikern, Richtern und Anwälten und selbsternannten Streitern für den ‚britischen‘ Geist.

Entschlossen ist der Journalist und Historiker Neil Hanson in die mehr als ein Jahrhundert tiefe Schicht von Prozessakten, Zeitungsartikeln und Büchern zum Fall „Mignonette“ abgetaucht, um bis auf den Grund der Geschichte vorzudringen. Das eigentlich Unglaubliche ist ja die Tatsache, dass die Beteiligten des Justizskandals von 1884 ihr Tun kaum verbargen. Deprimierend ist die Erkenntnis, dass dazu auch kein Grund bestand: In den Augen des Gesetzes waren diejenigen, die über Kapitän Dudley und seine Männer ihr Urteil sprachen, durchaus im Recht – jedenfalls aus juristischer Sicht.

Die Urteil stand von vornherein fest. Den Weg dorthin zu verfolgen, ist dank Neil Hanson fesselnd, und die Fakten können wahrlich für sich selbst sprechen Auch die letzte Fahrt der „Mignonette“ und die Leiden der Schiffbrüchigen rekonstruiert der Autor mit großer Meisterschaft. Auffällig ist die kunstvolle Verschränkung der einzelnen Kapitel; im Erzählfluss tauchen immer wieder Brüche in Gestalt interessanter, doch eigentlich nicht zum Thema gehörender Exkurse auf, die jedoch an anderer Stelle plötzlich ihren wahren Sinngehalt offenbaren. Wie nebenbei erhält der Leser auf diese Weise Informationen nicht nur über den Kannibalismus in der Geschichte, sondern auch über die Handelsschifffahrt nach 1850, das Gesellschaftsleben, die Politik und die Justiz im England an der Schwelle zur modernen Industrienation.

Und die haben es durchaus in sich. Allgemein bekannt ist die rohe Grausamkeit, die auf den Schiffen der britischen Kriegsmarine an der Tagesordnung war. Hanson deckt nunmehr auf, dass es auf den Handelsschiffen keineswegs gesitteter zuging. Die perfide Geldgier skrupelloser Geschäftsmänner, die das Recht nach ihrem Gusto beugten, machte es möglich, unschuldige Seeleute auf halb wracken, überladenen und hoch versicherten Frachtschiffen – den berüchtigten „Seelenverkäufern“ – hinaus aufs Meer zu schicken, wo auf diese Weise Zehntausende ein elendes Ende fanden.

Aber auch mit der Solidarität der Seeleute untereinander war es nicht besonders weit her. In Literatur und Film weit verbreitet ist jene Szene, in der die im Ozean treibenden Überlebenden eines Untergangs in der Ferne das Segel eines anderen Schiffes sehen. Jubel angesichts der nahen Rettung bricht aus, und das zu Recht, denn später sehen wir die Geborgenen in Decken gehüllt an Bord des Retters in die Heimat zurückkehren. So selbstverständlich war dies allerdings gar nicht. Hanson legt dar, dass Schiffbrüchige weitaus öfter von anderen Schiffen entdeckt als gerettet wurden. Die Gründe reichten von eigener Lebensmittelknappheit über Furcht vor ansteckenden Krankheiten bis zu blanker Gleichgültigkeit.

Wenn es etwas einzuwenden gibt gegen die traurige, aber fesselnde Geschichte vom „Gesetz der See“, dann ist es der verhängnisvolle Drang des Verfassers, das tatsächliche Geschehen in eine solche zu verwandeln: Dieses Buch ist keine Dokumentation, sondern ein Tatsachenroman. Was Hanson zu dieser Form veranlasste, bleibt unklar; eventuell fürchtete er, seine Leser durch das allzu ausführliche Zitieren zeitgenössischer Quellen zu langweilen. Doch sein Drang, um jeden Preis zu unterhalten, geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Dafür ist nicht einmal die offenkundige Unbeholfenheit des ehrgeizigen Romanciers verantwortlich, die allerdings auch der arg hölzernen deutschen Übersetzung anzulasten sein mag. (Dies wird unterstrichen durch den deutlichen Bruch zwischen der Geschichte der „Mignonette“ und dem Prozess gegen ihre Besatzung: Beide Teile wurden von verschiedenen – und unterschiedlich begabten! – Übersetzern ins Deutsche übertragen.)

Schlimmer ist Hansons Spiel mit der Realität. Schon früh schwant dem Leser wenig Gutes, wenn er Kapitän Dudley und seine Crew ausführliche und geradezu prophetische, scheinbar im Wortlaut zitierte Gespräche mit dem jungen Parker, dem späteren unglückseligen Menschenopfer, über das „Gesetz der See“ und jene, die ihm folgen mussten, führen sieht. Ans Herz gehen weiterhin zwei Begegnungen der Schiffbrüchigen mit möglichen Rettern, von denen sie jedoch schmählich im Stich gelassen werden. Erst im Nachwort muss man dann lesen, dass Hanson diese Episoden frei erfunden hat – der Melodramatik wegen und weil sich dieses traurige Geschehen so hätte ereignen können. Tatsächlich war die „Moctezuma“ das erste und einzige Schiff, das dem Dingi in den dreieinhalb Wochen seiner Irrfahrt begegnet ist.

Ein solcher ‚Kunstgriff‘ ist unredlich. Was nützt die sorgfältige Recherche, wenn der Leser ständig damit rechnen muss, manipuliert zu werden? Der Verdruss über diese überflüssige Effekthascherei sowie die hausbackene Übersetzung sind denn gewichtige Argumente gegen dieses ansonsten trotz (oder gerade wegen) seines düsteren Themas faszinierende und knapp, aber sorgfältig bebilderte Werk.

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