Hardy, Robin / Shaffer, Anthony – Wicker Man – Ritual des Bösen

_Gefahr: Ermittlung auf der Insel der Sirenen_

Auf einer kleinen abgelegenen Insel versucht ein Polizist vom Festland das mysteriöse Verschwinden eines kleinen Mädchens aufzuklären. Dabei kommt einem düsteren Geheimnis auf die Spur, das mit den heidnischen Ritualen der Inselbewohner zu tun hat. Zu spät merkt er, dass sie für ihn die Hauptrolle in ihrem Mairitual vorgesehen haben.

_Die Autoren_

Robin Hardy, 1937 in London geboren, führte 1973 Regie bei der ersten Verfilmung von „Wicker Man“. Anthony Shaffer, 1926 in Liverpool geboren, schrieb das Drehbuch. Außerdem verfasste er die Drehbuchvorlagen zu Hitchcocks „Frenzy“ und der Agatha-Christie-Verfilmung „Tod auf dem Nil“.

Der erste Film von 1973 war an der Kinokasse zwar ein Misserfolg, entwickelte sich aber über die Jahre in England zum absoluten Kultfilm, nicht zuletzt wegen der Besetzung mit Christopher Lee, Ingrid Pitt, Diane Cilento und Britt Ekland – lauter B-Movie-Ikonen. Erst 1978 entschloss sich Hardy, die Romanfassung dazu zu schreiben.

Hans Schifferles Buch „Die 100 besten Horror-Filme“ (|Heyne|) ist zu entnehmen, dass es vom Film zwei Versionen gibt, eine mit 86 und eine mit 102 Minuten. 2006 fertigte Neil LaBute („Besessen“) ein Remake an, in dem Nicolas Cage die männliche Hauptrolle des Sgt. Howie spielte. Auch diese Version floppte an der Kinokasse. Der Grund für das fortwährende Floppen dieses Stoffs dürfte nicht zuletzt die Tatsache sein, dass die Geschichte kein Happyend hat.

Mehr Infos unter http://www.wickerman-derfilm.de.

_Handlung_

Polizeisergeant Neil Howie von der West Highland County Police ist das, was man eine männliche Jungfrau nennt. Mit seiner langjährigen Verlobten Mary Bannock hat er es noch kein einziges Mal getan, denn beide sind streng gläubige Protestanten, für die Sex vor der Ehe nicht in Frage kommt. Als er merkt, dass Mary mit ihrer Geduld und ihrem Langmut am Ende ist, verspricht er ihr, sie binnen vierzehn Tagen zu ehelichen. Dazu wird es nicht kommen.

Auf seinem Polizeirevier in Portlochlie an der schottischen Nordwestküste erhält er einen anonymen Brief, worin man ihn bittet, das Verschwinden eines zwölfjährigen Mädchens namens Rowan Morrison auf der Insel Summerisle aufzuklären. Beigelegt ist ein Foto der Verschwundenen. Als pflichtbewusster Polizist macht er sich schon am nächsten Tag, dem Sonntag, nach dem Gottesdienst auf den Weg und nimmt ein Wasserflugzeug zur Insel, die zu den Äußeren Hebriden gehört. Als er das Eiland überfliegt, bewundert er die grünen Auen und die Obstplantagen. Es gibt sogar Palmen. Der warme Golfstrom im Zusammenspiel mit vulkanischem Boden hat das Gedeihen von Apfelbäumen begünstigt. Von hier stammt eine der besten (und teuersten) Apfelsorten des Vereinigten Königreichs.

|Summerisle|

Howie quartiert sich abends im Gasthaus |The Green Man| ein. Der Empfang ist recht feuchtfröhlich, denn hier wird Alkohol offenbar kostenlos ausgeschenkt. Die Lieder, welche die Gäste anstimmen, sind sonderbar schlüpfrig und anzüglich, aber das scheint dem Wirt Alder und seiner schönen Tochter Willow MacGregor nichts auszumachen, ganz im Gegenteil. (Merke: Alle Personen auf Summerisle, außer dem Lord selbst, tragen die Namen von Pflanzen, besonders von Bäumen.)

Er hat sich bereits bei der Mutter von Rowan Morrison darüber informiert, wo ihre Tochter sein könnte. Sie weiß nichts davon, wo sie sein könnte. Natürlich lügt sie. Nach einem weiteren Tag der Ermittlungen ist Sergeant Howie überzeugt, auf einer Insel der Heiden gelandet zu sein, die nichts anderes als Sex und Äpfel im Sinn haben. Und garantiert verstecken sie das kleine Mädchen, das er auf einer weiteren Fotografie entdeckt hat. (Er ist in das Haus des Fotografen eingebrochen.) Selbstredend weiß auch der Lord der Insel, der zugleich das wichtige Amt des Friedensrichters ausübt, nichts vom Verschwinden der kleinen Rowan. Doch wer hat dann den Brief geschrieben?

Doch einem Polizeibeamten Ihrer königlichen Majestät kann man nichts vormachen, und so schnüffelt er weiter, sogar in den Kleiderschränken von alten Jungfern. Die Verführungskunst der üppigen Wirtstochter führt ihn durchaus in Versuchung, doch ein inbrünstiges Gebet kuriert auch diesen Hunger. Selbst die unsittlichen Sexpraktiken der Dorfjugend auf der Dorfwiese bringen ihn nur wenig aus der Fassung. Auch die Tatsache, dass es keinen Pfarrer gibt und die Kirche dem Verfall preisgegeben wurde, macht ihn nur noch entschlossener in seiner Ermittlung. Und dann endlich findet er sie!

|Festtag|

Der 1. Mai ist wie in allen heidnischen Gesellschaften ein hoher Feiertag, denn der Winter ist vorüber und nun muss der Mensch die Götter um Fruchtbarkeit und reiche Ernten bitten. Schon die alten Kelten feierten die Wiederkehr des Sonnengottes Lugh Nuada mit einem Fest, und die Menschen von Summerisle ehren nicht nur ihn, sondern auch die Weiße Göttin, die Erdmutter (Danu).

Für dieses Fest marschiert ein für Howies Empfinden geradezu obszön heidnischer Festzug auf, der von einer Zentaurenfigur, einem Narren und dem so genannten Teaser angeführt wird. Begleitet werden sie von sechs Schwertträgern, die sicherlich eine wichtige Rolle innehaben. Alle Menschen tragen eine Maske, die einem Tier nachgebildet ist: Adler, Fuchs, Eber usw. Inzwischen hat Howie herausgefunden, dass es ein Opfer geben soll, und bestimmt ist damit die kleine Rowan gemeint. Kurzentschlossen klaut er dem Wirt Alder MacGregoer sein Narrenkostüm und mischt sich unter den Festzug. Zwar spielt er seine Rolle nicht sonderlich närrisch, aber er bekommt wenigstens hautnah mit, was passiert.

|Opfer|

Der Festzug passiert mehrere Stationen, um diverse Rituale vorzunehmen, denen allen der Lord der Insel vorsteht. Als schließlich die Küste erreicht wird, steht ein weiteres Fruchtbarkeitsopfer bevor. Da endlich erkennt Howie seine Chance: Er schnappt sich das Mädchen, das er als Rowan erkannt hat, und flieht mit ihr in ein Höhlensystem, das der Erdmutter geweiht ist. Als die beiden wieder an die Oberfläche gelangen, sieht sich Howie jedoch den sechs Schwertträgern gegenüber: Endstation.

Als das kleine Mädchen den Lord fragt, ob es seine Sache gut gemacht habe, erkennt Howie die schreckliche Wahrheit: Nicht sie, sondern er ist das für den Wicker Man, das Idol einer aus Weidenkörben gebauten Statue, vorgesehene Opfer. Denn dafür kommt nur eine männliche Jungfrau in Frage, die zuvor allen Versuchungen des Fleisches (z. B. durch Willow) widerstanden hat.

_Mein Eindruck_

Die bitterböse und mit feiner Ironie vorgetragene Geschichte des streng gläubigen Gesetzesvertreters ist ein Abgesang auf das abgetakelte protestantische Christentum schottischer Prägung, das den nach Fruchtbarkeit drängenden Impulsen der Natur kein Gehör schenkt, ja, ihnen sogar entgegenarbeitet. Mary Bannock kann ein Lied davon singen, wie sie sich nach körperlicher Vereinigung mit „ihrem“ bewunderten Sergeant gesehnt hat und immer wieder abgewiesen wurde. Nicht zuletzt mit der fadenscheinigen, halbherzig vorgebrachten Begründung, sie gehöre ja einer anderen Glaubensrichtung an.

Diese Sektiererei und Selbstverleugnung gibt es auf Summerisle, der Insel der Fruchtbarkeit, nicht mehr. Der Urgroßvater des gegenwärtigen Lords, ein Spätviktorianer, zwang die Insulaner, ihren Pfarrer zu vertreiben und die keltische Fruchtbarkeitsreligion anzunehmen. Seitdem geht es allen gut, denn sie sind nicht mehr auf karge Fischerei angewiesen, sondern können teure Äpfel verkaufen. Und die Fruchtbarkeit der Menschen kennt nur diejenigen Grenzen, die ihnen die Religion auferlegt, also praktisch keine. Folglich kennt man auch keine sexuell bedingten Neurosen, und wenn ein junger Mann sexuell aufgeklärt werden will, so fragt er die schöne Willow, ob sie wohl willens wäre, ihm diesen Gefallen zu tun – unter der Fürsprache des Lords persönlich.

Es versteht sich fast von selbst, dass all dies Sergeant Howie ein Gräuel ist, eine ketzerische Blasphemie. Am liebsten würde er alle verhaften lassen. Tatsächlich hat er schon den Plan gefasst, ein Dutzend Polizisten vom Festland einfliegen und die ganze Brut ausheben zu lassen, um wieder Zucht und Ordnung einzuführen. Genügend Sünden lassen sich ja finden. Zu dumm, dass ausgerechnet am 1. Mai sein Funkgerät streikt, genauso wie der Motor seines Fliegers.

|VORSICHT, SPOILER!|

Doch so erhält er Gelegenheit, zu einem Märtyrer zu werden. So wie Jehoschua von Nazareth am Kreuz sein Leben für die Gläubigen opferte, so bringen auch die Inselbewohner ihrer obersten Gottheit ein großes Opfer dar: eine Arche aus in Weidenkörben (wicker) eingesperrten Tiere. Aus den Körben ist das Idol eines Mannes aufgebaut worden: der Wicker Man. Doch in der Mitte, wo das Herz sitzt, ist ein Käfig noch leer. Hier findet der gefesselte Howie seinen Platz. Dann wird die Konstruktion in Brand gesetzt.

Nachdem er seinen Unglauben über diese unmögliche Situation überwunden hat, verfällt Howie jedoch keineswegs in sinnlosen Wahn, sondern sucht seinem unausweichlichen Ende noch einen Sinn zu verleihen, der nicht von außen kommt, sondern den er selbst stiftet. Er findet diesen Sinn in der Befreiung seiner Lieblingstiere. Als leidenschaftlicher Vogelschützer hat er schon Adler in den Highlands vor Wilderern gerettet (das wird im Prolog hervorragend geschildert). Nun bietet er seine letzten Kräfte auf, um eine Reihe von Vögeln aus dem Gefängnis des Wicker-Man-Gerüstes zu befreien. Jesus würde sagen: „Es ist vollbracht.“

|ENDE SPOILER|

Man kann der Geschichte vorwerfen, hier würden mit den Inuslanern eine Mischung aus Neopaganisten und Flower-Power-Hippies auftreten. Doch man sollte berücksichtigen, dass der Neopaganismus in den letzten Jahrzehnten im Zuge der New-Age-Bewegung starken Zulauf erhalten hat und selbst Autorinnen wie Diane Paxson und Marion Zimmer Bradley („Die Nebel von Avalon“) die alten Riten lobend geschildert haben. Nicht zuletzt aus dem Grund, dass in der alten Religion die Frau eine viel stärkere Rolle innehatte, als ihr im Christentum gemeinhin zugebilligt wird, das patriarchalisch geprägt ist (die Dreifaltigkeit ist durchweg männlich) und die Frau häufig ausbeutet. In letzter Zeit wird auch dies revidiert und die Stellung von zentralen Figuren wie Maria Magdalena neu bewertet (z. B. in „Sakrileg“ und „Das Magdalena-Evangelium“).

|Stil|

Besonders gut hat mir an dem Buch der gediegene Erzählstil gefallen. Dies ist alter englischer Prosastil vom Feinsten, nicht verschachtelt wie bei den Viktorianern, aber auf das Innenleben und die Motivation der Figuren bedacht. Die Aktionen von Sgt. Howie werden erst durch die genauen, feinfühligen Erklärungen über sein Gefühlsleben und seine religiösen Überzeugungen glaubwürdig. Sein Glaube wird niemals belächelt oder kritisiert, sondern stets absolut ernst genommen. Die Kritik und den Spott übernehmen schon die Insulaner.

Zu diesen Inselbewohnern gehört nicht zuletzt Willow Macgregor, die schöne Wirtstochter. Einer der wichtigsten Momente des Buches passiert in der Walpurgisnacht, also der Nacht zum 1. Mai. Sie präsentiert sich dem späten Gast in nackter Pracht, und ein Mann muss schon sehr starke Prinzipien haben, um diese unverblümte Einladung abzulehnen. Howie kann es. Und das verpflichtet den Autor, eine ganze Menge zu erklären.

|Schwäche|

Nur an einer einzigen Stelle ist eine Unstimmigkeit festzustellen. Auf Seite 282/283 wird er von den Schwertträgern auf den Klippen gestellt, doch plötzlich läuft er wieder los, obwohl er nicht entkommen kann, und wird vom Autor obendrein als Sgt. Howie angeredet. Währenddessen redet Lord Summerisle die ganze Zeit mit ihm. Nun, Howie muss herausfinden, dass ihm kein Ausweg geblieben ist: Die Klippen bieten keinen Weg aus der Falle, in die er getappt ist.

_Unterm Strich_

Ich fand den Roman zum Film ungemein spannend und sehr gut erzählt. Howie als Hauptfigur trägt die ganze Handlung und durch seine Brille sehen wir auch – und werden auf diese Weise selbst getäuscht. Als versierter Krimifreund ahnt man zwar schon von Anfang an, dass die anonyme Botschaft vielleicht nur ein Köder ist und Rowan Morrison ein Lockvogel, aber nichtsdestotrotz bleibt lange Zeit unklar, welche Art von Schicksal für Howie vorbereitet worden ist. Der Wicker Man tritt erst im allerletzten Kapitel auf, vorher wird er nie auch nur mit einem Wörtchen erwähnt. Er ist, als wäre Howies ganze Existenz auf einmal ein Rätsel, das es zu entschlüsseln gelte, anstelle der Gesellschaft von Summerisle.

Ob wohl noch heute solche jungfräulichen Superchristen wie Howie in Schottland aufgezogen werden, wage ich zu bezweifeln, aber man kann nie wissen. Und ob die neuheidnische Gesellschaft von Summerisle in dieser Form möglich wäre – kein TV, kein Telefon, kein Funkgerät -, ist ebenfalls zu bezweifeln. Doch der Grundkonflikt Fruchtbarkeitsreligion vs. strenges Christentum schwelt weiterhin, nur auf anderen Ebenen.

Schade, dass dieses Buch, welches das Remake der Verfilmung (s. o.) begleiten soll, ohne Filmfotos ausgestattet veröffentlicht wird. Das ist bei |Heyne| eigentlich unüblich. Aber vielleicht wird der Leser ja auf der oben genannten Internetseite diesbezüglich fündig.

|Originaltitel: Wicker Man, 1978
303 Seiten
Aus dem Englischen von Alexander Wagner|
http://www.heyne.de