Robert Harris – Angst. Thriller

Der Hedgefonds ist das Monster

Der Physiker Alex Hoffmann hat eine Software geschrieben, mit der sein Hedgefonds hohe Profite erzielen soll – mit der Angst der Anleger. Nun hat es offenbar jemand auf ihn abgesehen. Es beginnt mit einem Einbruch, geht weiter mit mysteriösen Überweisungen und Einladungen, und mit einem Mord endet es noch lange nicht. Wird Alex, die Geister, die er rief, wieder los?

Der Autor

Robert Harris wurde 1957 im britischen Nottingham geboren. Nach seinem Geschichtsstudium in Cambridge war er als BBC-Reporter und politischer Redakteur des „Observer“ tätig. Die historischen Hintergründe seiner Romane recherchiert Harris als Historiker exakt. Trotzdem schreibt er keine Sachbücher: Er will die Leser gleichzeitig unterhalten und informieren, schreibt der Verlag.

Mit seinem Roman „Vaterland“ gelangte er 1992 in die internationalen Bestsellerlisten, danach folgten das ebenfalls verfilmte „Enigma“ sowie „Aurora“ (1998). Harris ist heute ständiger Kolumnist der Tageszeitung „The Times“. Zuletzt erschien von ihm eine Trilogie über Marcus Tullius Cicero. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in einem alten Pfarrhaus in Kintbury bei London.

Handlung

Das Grauen beginnt morgens um vier. Alexander Hoffmann, der milliardenschwere Ko-Inhaber des Hedgefonds Hoffmann Investments, erwacht in seiner 60-Millionen-Villa am Genfer See von einem Geräusch. Seine Frau Gabrielle ist nicht dafür verantwortlich. Also muss es woanders herkommen. Alex steigt ins Erdgeschoss hinab. Dort bemerkt er zu seinem Entsetzen, dass die Alarmanlage deaktiviert ist.

Nach kurzer Suche findet er den Eindringling in seiner Küche. Alex, der von außen hineinschaut, fragt, wie dieser schmierige Mittfünfziger mit dem grauen Zopf einfach so in sein maximal gesichertes Haus spazieren konnte. Alex versucht, Gabrielle zu warnen, dass der Einbrecher gerade die Messer wetzt – buchstäblich. Doch ihr Handy liegt auf dem Küchentisch – und warnt den Mann. Alex versucht, den Flüchtenden am Haupteingang abzufangen, doch im Eingang erhält er einen so schweren Schlag auf den Hinterkopf, dass er im Land der Albträume landet.

Die Polizei wird automatisch eingeschaltet. Inspektor Leclerc, der kurz vor der Pensionierung mit 60 Jahren steht, findet heraus, dass Alex nicht nur Forscher am nahen Kernforschungszentrum CERN war, sondern auch eine Psychotherapie hinter sich hat. Von der weiß nicht einmal Gabrielle Hoffmann. Leclerc fragt sich, ob sein Klient vielleicht etwas weniger als optimal zurechnungsfähig ist.

Und das fragt sich bald auch Alex selbst. Wegen des schweren Schädeltraumas, das er davontrug, wird ein CT-Scan angefertigt. Dabei entdeckt die Medizinerin eine merkwürdige Struktur an der Schädelinnenseite. Hat Alex deshalb so häufig Albträume und leidet unter Schlaflosigkeit? Er soll sich genauer untersuchen lassen, rät sie ihm.

Unterdessen stößt Alex auf etliche Ungereimtheiten wie etwa ein seltenes Buch, das er angeblich per Internet bestellt hat, und eine Rücküberweisung von 42 Mio. Dollar, die er angeblich auf den Cayman Islands angelegt hat. Hat jemand seine Identität gestohlen? Doch eine Nachforschung in seiner Firma ergibt, dass das Cayman-Konto seiner Firma gehört. Hat er ein Alter Ego, von dem er nichts weiß?

Mit Müh und Not steht er eine ultrawichtige Präsentation vor den Kunden des Fonds durch, in der er seinen neuen Algorithmus VIXAL-4 vorstellt. Diese Berechnungsmethode arbeitet mit Indikatoren wie Angst und Panik. Kaum ist VIXAL-4 in Betrieb, als er auch schon besorgniserregende Mengen an Aktienoptionen ankauft. Doch der Kauf von Vista Airways stellt sich als goldrichtig heraus, als eine von deren Maschinen in Spanien abstürzt. Der Hedgefonds scheffelt weniger Stunden Millionen. Die Kunden sind begeistert. Sie überschütten Alex und seinen Partner mit neuen Investitionen.

Doch als das begossen werden soll, erspäht Alex‘ unruhiges Auge den Einbrecher wieder. Ohne auch nur einen Pfifferling auf Höflichkeit zu geben, sprintet er los, um den Mann zur Rede zu stellen. Denn auch Gabrielle hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht, nachdem es einen Streit gegeben hat. Alex‘ Nerven liegen blank.

Und so gerät er in den schäbigen Rotlichtbezirk von Genf, von dem er nicht gedacht hätte, dass es hier so etwas gibt. Die SMS eines Unbekannten lotst ihn in ein Stundenhotel und ein Zimmer, das leer zu sein scheint. Doch nur solange, bis jener Einbrecher wieder zurückkehrt und behauptet, er, Alex, habe ihn eingeladen – um sich töten zu lassen…

Da beginnt Alex, um sein Leben zu kämpfen. Doch wer ist der wahre Feind?

Mein Eindruck

Vieles an der Handlung erinnert in den Grundzügen an Mary Shelleys Schauerklassiker „Frankenstein oder der neue Prometheus“. Sie empfing die Idee dazu im Sommer 1816 am Genfer See, als Lord Byron und Dr. Polidori in der Villa Diodati logierten und ihre nicht so betuchten Gäste, die beiden Shelleys und ihre Freundin Claire Clairmont, einluden, Schauergeschichten – ja, erst zu erzählen und dann selbst zu erfinden. Polidori klaute Byron die Idee zum Vampir, doch Mary Shelley inspirierte er zu jenem byronesken Faust-Charakter, der als „Viktor Frankenstein“ in die Literatur einging, zusammen mit dem Ungeheuer, das er schuf.

Aufgrund dieser Folie, auf die die Story in Schauplatz, Namen und Verlauf verweist, erhält der anfänglich so harmlos erscheinende Handlungsverlauf eine viel tiefere Bedeutung. Was, so fragt sich der Laie, kann schon Dämonisches oder Monströses an einem Hedgefonds sein? Recht vieles, wie das Finale zeigt: Die Welt steht vor dem Untergang des Börsensystems.

Doch wie konnte dazu kommen? Alex Hoffmann, unser Frankenstein-Nachfahre, hat ein selbstlernendes Datenauswertungs- und Optimierungssystem geschaffen und ihn auf die Börsen gehetzt. Das Monster hört auf den täuschend harmlosen Namen VIXAL-4 und beginnt, für Hoffmann Investment Technologies Geld zu scheffeln.

Soweit, so schön. Doch wie sein Schöpfer herausfindet, tut es noch viel mehr für ihn. Es ist offenbar so intelligent, dass es seine E-Mails fälscht und ein Überwachungssystem einrichtet, in der Firma und in Hoffmanns trautem Heim. Nicht genug damit, klont es sich selbst und macht sich praktisch unangreifbar, außer für Hoffmann. Um absolute Sicherheit zu erzielen, fädelt es einen Plot ein, der Hoffmanns vorzeitigem Ableben führen soll. Nicht in der Villa Diodati, sondern im Hotel Diodati.

Sobald alle Widersacher aus dem Feld geschlagen sind, kann sich VIXAL-4 daran machen, die Weltherrschaft an den Börsen zu übernehmen. Tatsächlich reichen ihm 24 Stunden, um 4,1 Milliarden Dollar für Hoffmann Investments zu scheffeln – eine gigantische Summe, die nun an allen Ecken und Enden der Welt fehlt. Schon kracht es gewaltig im Gebälk der Geldinstitute. Chicagoer Börse und NASDAQ erklären Selbstschutz und schotten sich gegen die NYSE (New York Stock Exchange) ab! All dies ist ebenso legal wie unerhört.

Man kann fast den Autor vor Schadenfreude grinsen sehen: Er hat ein Monster geschaffen, das die Börsen das Fürchten lehren soll. Und wir fiebern mit ihm mit. Wird es unserem Helfen gelingen, den Untergang des Geldsystems abzuwenden? Wird er dabei sein Leben opfern müssen?

Nun ist die Idee eines bewusst und wild gewordenen Computers keineswegs neu. Man denke an die Hollywoodschinken „Colossus“ und „WarGames“. Von diesen Machwerken setzt sich Harris ab, indem er sagt: Hier haben wir einen hochgezüchteten Algorithmus, wie er in den meisten Hedgefonds der Welt eingesetzt wird. Nur dass dieser eben lernfähig ist – und möglicherweise etwas gegen jene Kohlenstofforganismen namens Homo sapiens hat.

Diese Prämisse ist nicht sonderlich sexy und schon gar nicht menschlich interessant. Deshalb ist das Drama, in das sich Hoffmann verstrickt sieht, umso wichtiger. Bei Mary Shelley erreicht die Schauerromantik ihren Höhepunkt, ohne dass irgendwelche Gespenster aufträten, nur weil es ein Drama gibt, das Viktor, seine Frau und sein Ungeheuer involviert. (Am besten dargestellt im Film von Kenneth Branagh.) Daraus ergeben sich Schuld, Tragik und Opfer.

Nicht so bei Harris. Von Schuldbewusstsein kann bei Alex keine Rede sein. Vielmehr hat er gerade mal ein Verantwortungsgefühl entwickelt und stellt sich den Konsequenzen seiner Tat. Gabrielle ist keine Hilfe, denn von der Arbeit ihres Mannes hat sie keine Ahnung. Auch Dr. Polidori (!), Alex‘ Therapeutin bringt wenig ein: Sie hält Alex möglicherweise für schizophren.

Der Einzige, der wirklich die Dimension zur Sprache bringt, die der VIXAL-4-Vorgang angenommen hat, ist Gana Rajamani, der Risikomanager von Alex‘ Firma. Er weiß, dass schon bald diverse Aufsichtsbehörden aufkreuzen werden, um die Dimension des Verbrechens in dieser stillen Genfer Firma auszuloten. Zwecklose Warnung. Kein Wunder, dass er gefeuert wird: Die Gier von Alex‘ Partner Quarry, der gerade Investments von 2 Milliarden Dollar an Land gezogen hat, ist viel zu groß.

Hier kommen wir endlich an den Punkt, den die zahllosen Zitate aus Charles Darwins zwei Büchern „Die Entstehung der Arten“ (1859) und „Die Abstammung des Menschen“ (1871) permanent ansprechen: Die Kräfte der Evolution, nämlich Mutation und Selektion, walten auch in der Wirtschaft, der Technik (besonders Waffen) und Wissenschaft. Deshalb finden sich auch Zitate von Bill Gates über „Digitales Business“ (1999) und Andy Grove, Ex-Chef von Intel.

Der Einsatz von VIXAL-4, also des Monsters, konnte nur deshalb in Betracht gezogen werden, weil die Menschen, die Wirtschaft treiben, ihren Verstand den Computern übergeben haben. Die Quants, also Computer-Bediener, beobachten nur noch, greifen aber nur im Notfall ein. Die Rechner sind die Akteure, ihrem jeweiligen Algorithmus gehorchend. Nun folgt daraus die letzte Konsequenz des Digitalen Business, und VIXAL-4 wandelt das Firmenmotto nach seinen Zwecken um:

„DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT HAT KEINE MITARBEITER.
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT KENNT KEINE MANAGER.
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT IST EIN DIGITALES WESEN.
DAS UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT LEBT.“

Das ist die ultimative Ironie der Handlung und ihrer Aussage. Sie sollte uns zur Warnung dienen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist ausgezeichnet gelungen. Nicht nur kennt sich der Übersetzer bestens mit Mary Shelleys Werk und der Computerei aus, sondern auch mit der Stadt Genf, CERN und dem Börsenjargon. Dieser Jargon wird leider nicht durch ein Glossar erklärt, was das einzige Manko am Text ist. Man muss also selber wissen, was „short“ und „long“ bedeutet sowie „puts“ und Futures.

Druckfehler entdeckte ich nur einen, nämlich Rue de Cerv al statt Rue de Clerval. (Auch dies ein Verweis auf „Frankenstein“. Denn Henri Clerval ist ein Freund von Viktor Frankenstein.)

Unterm Strich

Ich habe den Roman in nur zwei bis drei Tagen gelesen, aber man kann ihn zweifellos auch an nur einem Nachmittag und Abend schaffen. Die Story ist flott und flüssig erzählt. Notwendige Hintergrundinfos werden im Laufe des zunehmend rätselhafteren Geschehens nachgeliefert, so dass die Story immer mehr Tiefe erhält.

Die ominösen Zitate von Darwin, Canetti, Dawkins und anderen stoßen den Leser mit der Nase darauf, dass hier etwas grundlegend in die falsche Richtung läuft – und somit gefährlich wird. Die Verweise auf Mary Shelley und das Jahr 1816 am Genfer See verheißen ebenfalls nichts Gutes: Damals erblickte Frankensteins Ungeheuer das Licht der Welt – und es sieht ganz danach aus, als würde Alex Hoffmann schon bald auf die Taten seines eigenen bösen Babys stoßen. (Nicht von ungefähr kann er mit Gabrielle keine eigenen Kinder bekommen. Seine Kreativität steckt vollends in dem Algorithmus – wie Sauron, der seine Kraft in den Einen Ring steckt.)

Das Finale ist selbstverständlich fulminant und durchaus befriedigend – wenn man ein Pyromane ist. Ansonsten hätte ich dem Autor etwas mehr Emotionalität für seine Prosa gewünscht. Seine Figuren handeln doch weitgehend rational, außer wenn sie sich in lebensgefahr befinden. Ironischerweise ist Alex in dieser Hinsicht der einzige Lichtblick. Erst als alles den Bach runtergeht, beginnt auch Quarry die Nerven zu verlieren. War ja auch Zeit.

Kurzum: Der Roman ist ein Reißer, wie er im Buch steht. Er könnte auch von Ken Follett geschrieben worden sein. Aber Robert Harris hat schon in „Enigma“, „Aurora“ und „Pompeji“ seine Könnerschaft bewiesen. Nur ging er dort wesentlich subtiler und vielschichtiger vor – und zwar auch hinsichtlich der Emotionen seiner Figuren.

Gebunden: 384 Seiten
Originaltitel: The Fear Index (2011)
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
ISBN-13: 978-3453267046

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

_Robert Harris bei |Buchwurm.info|:_
[„Vaterland“ 1485
[„Pompeji“ 274
[„Pompeji. Das Hörspiel“ 3530
[„Imperium“ 2916
[„Ghost“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5619