Harrison, M. John – Nova

_Mr. Anti-Mainstream._

M. John Harrison ist keiner, der sich den Konventionen verschrieben hat oder auf Stereotypen herumreitet, egal ob man seine Fantasy-Werke betrachtet (z. B. den |Virconium|-Zyklus) oder seine Science-Fiction-Storys. Von seinen acht Sci-Fi-Romanen haben es allerdings nur vier zu einer deutschen Übersetzung geschafft: „Idealisten der Hölle“ (1971), „Die Centauri-Maschine“ (1974), „Licht“ (2002) und jetzt auch „Nova“.

_Rauchende Köpfe._

Es ist jedenfalls erfrischend, welche Bandbreite |Heyne| mittlerweile an Science-Fiction anbietet; da gibt es die bildgewaltige Popcorn-SciFi („Mardock“ von To Ubukata) oder technikarme Gesellschaftssatire ([„Sternensturm“ 4043 von Adam Roberts) und plötzlich prügelt M. John Harrison den Leser mit dieser knüppelharten Hardcore-Keule vom Lesesessel. Das Seltsame daran: Alle harten Science-Fiction-Elemente von „Nova“ bewegen sich irgendwie im Hintergrund, sind Statisten und agieren aus dem Off. Normalerweise tauchen Science-Fiction-Geschichten ein in die Welt, die sie erschaffen haben; das Futuristische eines Sci-Fi-Romans ist fast immer eine Hauptfigur, die erschöpfend ausgeleuchtet wird. Oh, auch in „Nova“ ist das Futuristische eine Hauptfigur, aber sie wird niemals erschöpfend ausgeleuchtet, sie ist eine Figur, die ständig präsent bleibt, die jede andere Figur beeinflusst, aber nie wird dem Leser ein erhellender Blick in ihr Inneres gewährt, und das ist oft ein ziemlich faszinierendes Erlebnis.

Worum geht es denn nun in „Nova“? Es geht um eine Gruppe Menschen, die in „Saudade“ leben, einer Stadt auf einem unbenannten Planeten, gezeigt in einer unbenannten Zeit. Das Besondere an dieser Stadt ist, dass die „Ereignis-Aureole“ in sie eingeschlagen ist, ein rätselhaftes Gebiet unbekannter Physik, in dem keine der uns bekannten Gesetze gelten. Es gibt in Saudade so genannte „Entradistas“, die sich auf wagemutige Expeditionen in die Aureole begeben.

Vic Serotonin ist einer von ihnen. Seine Gründe sind profan: Er verdient sich sein Geld damit, Touristen in die Aureole zu führen und so genannte „Artefakte“ mit in die heimische Realität zu bringen, um sie illegal zu verkaufen. Artefakte sind Gegenstände oder Lebewesen, die eine völlig andere Gestalt annehmen, wenn sie die Aureole verlassen. Dabei sollte Serotonin es besser wissen. Sein Freund Emil Bonaventura hat von diesen Expeditionen irreparable Schäden davongetragen, er ist geistig verwirrt, kann nicht mehr träumen und sein Körper wird förmlich zerfressen von Geschwüren und seltsamen Blutkrankheiten; es ist, als ob sich Bonaventuras Fleisch nicht mehr an die Regeln halten würde.

Nun sind diese Ausflüge nicht nur gefährlich, sie sind verboten. Lens Aschemann ist Fahnder der so genannten Gebietskripo. Schon lange hat er Vic Serotonin im Auge, und er beginnt ihm auf den Zahn zu fühlen; ob er etwas wisse, fragt er ihn, über die Menschen, die sich im Café Surf aus dem Nichts zu materialisieren scheinen, die eine wilde Nacht verbringen, um sich dann wieder in Luft aufzulösen.

Als ob das nicht genug wäre, sitzt Vic noch eine aufdringliche Touristin im Nacken, die von ihm verlangt, dass er unbedingt mit ihr in die Aureole gehen soll. Solche Kleinigkeiten wie Polizeibeschattung interessieren sie dabei nicht. Und um dem Übel den letzten Schliff zu geben, entpuppt sich Vics letztes verkauftes Artefakt als eine „Tochter“, als ein Code also, der seinen Besitzer befällt und ihn in etwas völlig Unbekanntes verwandelt. Deswegen sitzt ihm nicht nur Gebietsfahnder Aschemann im Genick, sondern auch die Leibgarde seines letzten Kunden …

_Irrfahrt durch Weirdo-City._

Man betrachtet also Vic Serotonin, den Gebietsfahnder Aschemann und all die anderen Figuren auf ihrem bizarren Trip durch diese bizarre Zukunft. Bizarr ist nämlich das Zauberwort: Bei der Lektüre hat man oft das Gefühl, nur die Hälfte zu verstehen, es ist, als ob man einen Film in fremder Sprache betrachtet, dessen Bilder spannend genug sind, dass man ihn unbedingt zu Ende sehen möchte.

Das ist auch das Verstörende an „Nova“, das Anstrengende und das Faszinierende: Direkte Infos gibt es kaum, nirgends finden sich erklärende Zwischenbemerkungen des Erzählers, der den Leser des 21. Jahrhunderts an der Hand nimmt, um ihn in das fremde Universum einzuführen. Nein, der Leser muss sich selbst in dieser Zukunft zurechtfinden, muss die futuristische Sprache ohne Hilfe entschlüsseln, denn „Nova“ scheint nicht für uns geschrieben worden zu sein, sondern für die Menschen der Zeit, in der der Roman spielt. Beispiel gefällig? Bitteschön:

|“[…] das Tank-Proteom schwappte wie warme Spucke: Kaskaden von Autokatalyse in einem Substrat aus vierzigtausend Molekülarten, um alle zwanzig Minuten auszuschwemmen, was die Chemie nicht eliminieren konnte.“|

Alles klar? Und das bereits auf Seite 18. Aber keine Bange, an den Absurditätenfaktor von John Clutes [„Sternentanz“ 380 kommt Nova noch lange nicht heran, es gibt da schon noch die eine oder andere Begebenheit, an der sich auch ein Leser aus unserer Zeit festhalten kann.

Aber die Faszination der Sprache hält nicht den ganzen Roman durch an, irgendwann drängt sich einem nämlich der Eindruck auf, dass solche Sätze wie die obigen nichts weiter als Imponiergehabe sind. Man wird nie erfahren, was ein Codejokey so tut, wer die SED ist, und so weiter. Das alles würde nicht stören, wenn einem die Story suggerierte, dass es wenigstens der Autor weiß. Aber da bin ich mir gar nicht so sicher. Oh, natürlich will ich nicht behaupten, dass Harrison nur schicke Science-Fiction-Worthülsen abfeuert, aber manchmal sieht es schon so aus, als ob gar zu kräftiges Begriffsgepolter davon ablenken soll, dass dann doch nicht soo viel Substanz dahintersteckt …

Auch die sinnverschleiernden Schachtelsätze erhärten obigen Eindruck, die „Satzgirlanden“, wie Wolf Schneider sie bezeichnen würde, der Sittenwächter über deutsche Sprachästhetik. Auch hier wird ein Beispiel erhellen, was ich meine:

|“Elektromagnetisch desorientiert und immer noch auf Instruktionen wartend, fand sich das SED der Gebietskripo – bestehend aus Codejokeys, Waffenexperten und einer menschlichen Pilotin, die mit einem DBH-Einsatzvehikel verdrahtet war – mit munteren dreißig Knoten quer zur Längsachse ins Ereignisgebiet treiben.“|

Quizfrage: Wie oft musste dieser Satz gelesen werden, um herauszufinden, worum es da eigentlich geht? Dass das „SED der Gebietskripo“ noch immer „auf Instruktionen wartet“ und dabei „ins Ereignisgebiet treibt“, „mit munteren dreißig Knoten“ und „quer zur Längsachse“? Solche potthässlichen Satzmonster vergewaltigen alle Verständlichkeit, und das kann sich so abgefahrener Stoff wie „Nova“ gleich fünfmal nicht leisten.

Das Finale ist ein drittes Indiz dafür, dass „Nova“ ein Roman ist, der mit erzähltechnischen Bizeps-Prothesen seine mageren Plot-Muskeln aufplustern will: Zwar findet jede Figur zu einem stimmigen Schlusspunkt, aber irgendwie scheint alles etwas in der Luft zu hängen; als hätte Harrison beschlossen, hier und jetzt einen Schnitt zu setzen, weil es seiner Meinung nach jetzt so weit sein müsste. Entscheidende Informationen über die Aureole bleiben außerdem ungelüftet, sodass man am Ende von „Nova“ das Gefühl hat, weniger über das Storyuniversum zu wissen als vorher.

Nun ja. Trotzdem ist „Nova“ ein abgefahrener Trip, in den man als Freund harter Science-Fiction ruhigen Gewissens einmal reinlesen kann. Man sollte allerdings darauf vorbereitet sein, dass die wachsende Erwartungshaltung enttäuscht werden wird, dass man zwar eine abgefahrene Bilderschau erleben darf, aber nicht auf eine weltbildverrückende Vision hoffen sollte, wie sie ein Greg Egan zustande bringt. Um sich den schalen Geschmack einer Stargate-Vergiftung aus dem Mund zu spülen, taugt „Nova“ aber allemal. Kann man haben, muss man aber nicht.

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_M. John Harrison auf |Buchwurm.info|:_

[„Licht“ 907
[„Die Centauri-Maschine“ 2851