Haubold, Frank W. (Hrsg.) – Mirakel, Das (Jahresanthologie 2007)

Wie im Jubiläumsjahr 2006 präsentiert sich auch die Jahresanthologie von 2007 als Doppelband mit mehr als zwei Dutzend Geschichten. Bekannte und weniger bekannte Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geben ein phantastisches Stelldichein. Zusammengestellt wurde die Anthologie von Frank W. Haubold und mit Schwarzweiß-Illustrationen von Thomas Homann versehen.

_“Bubble Boy“_ (Malte S. Sembten): Der neunjährige Jakob erzählt seinen Eltern von seinem neuen Freund, einem Jungen in einem Weltraumanzug mit vogelartigem Gesicht, der angeblich Kaulquappen isst. Anfangs halten seine Eltern es nur für ein Märchen, bis sie schwebende Gesteinsbrocken bei Jakob entdecken, ein Geschenk des seltsamen „Bubble Boys“ …

_“Absolutum“_ (Wolfgang Fienek): In einem Café geraten zwei Männer ins Gespräch. Einer der beiden behauptet, das absolute Gedächtnis zu besitzen. Er erinnert sich nicht nur an eine flüchtige Begegnung der beiden Jahre zuvor, sondern auch an das kleinste Detail ihrer ersten Unterhaltung …

_“Slomo“_ (Heidrun Jänchen): Eigentlich heißt er Eyk, aber weil er sich so viel langsamer bewegt als die Menschen der neuen Generation, wird er schon als Kind hämisch „Slomo“ gerufen. Eyk gehört nicht zu den geboosteten Kindern, die später in wichtigen Berufen begehrt sein werden. Doch Booster zu sein, hat nicht nur Vorteile …

_“Madame Delvaux“_ (Hans-Dieter Furrer): Ein Brüsselreisender besucht eine Kunstausstellung und findet Gefallen an den Bildern des Malers Delvaux. Kurz darauf macht er in einem Lokal eine merkwürdige Begegnung …

_“So was wie Joghurt_“ (Friederike Stein): Auf dem Planetoiden C-4 wird eine sonderbare Lebensform entdeckt …

_“Inspektor Pyrrhon und der Killerfön“_ (Frank Schweizer): Nachdem 2948 der letzte große Krieg wegen verschiedener Staatsphilosophien entbrannte, führten die überlebenden Völker den Skeptizismus als Staatsreligion ein. Jeder Satz, den ein Bürger von sich gibt, muss einen Zweifel beinhalten, um keine Angriffsfläche mehr zu bieten. In diesen schwierigen Zeiten wird Inspektor Pyrrhon mit seinem Gehilfen zu einem potenziellen Mordfall gerufen …

_“Der Klomann“_ (Anke Laufer): Montageteile für den Körper sind der letzte Renner. Wer es sich leisten kann, lässt sich damit aufrüsten …

_“Terminal“_ (Michael Iwoleit): Gabriel trifft sich in Riga mit der hübschen Madara. Aus guten Gründen erinnert sie ihn an seine geliebte Anjelica …

_“Meine liebe Stella“_ (Stephan Peters): Nachdem Frank und seine Frau Stella beschlossen haben, sich eine Auszeit voneinander zu nehmen, zieht er sich in ein abgelegenes Ferienhaus zurück. Hier will er in Ruhe das düstere Bild restaurieren, das er vor einiger Zeit auf dem Dachboden gefunden hat …

_“Die List in der Ehre“_ (Christel Scheja): Fürstin Auna von Tylandis ist voller Hass auf die junge Königin Reiya, da sie ihr den Verrat des Reiches ankreidet. Im Kerker unter der Arena erwartet Auna, von den Dienern der Königin hingerichtet zu werden – doch stattdessen fordert die Königin sie zum Zweikampf heraus …

_“Invasive Techniken“_ (Nicklas Peinecke): Drei Forscher entwickeln die Möglichkeit, per bakteriengroßem Exkursionskörper in andere Körper einzudringen. Während Dr. Shankar die Technik nur für medizinische Projekte einsetzen will, hofft van Gerken auf den großen Reichtum …

_“Das Mirakel“_ (Lothar Nietsch): Ein Junge beobachtet von seinem Dachfenster aus eine Krähe, die zu ihrem Schlafplatz im Maurwerk fliegt. Seit jeher fühlt er sich von diesem Ort angezogen. Wie in Trance gibt er schließlich dem Drang nach und klettert aufs Dach …

_“Doppelte Hochzeit“_ (Bertram Kuzzath): Ein Affe scheint in einen Baum geflohen zu sein. Ein Mann hört eine lockende Stimme aus dem Geäst und wird kurz darauf von der Polizei als mutmaßliches „Plamplam“ festgenommen …

_“Nur ein wenig Grün“_ (Andrea Tillmanns): Frank und seine Verlobte Marie mieten sich ein Haus in Italien. Während Frank von dem Anwesen begeistert ist, findet Marie es zu düster. Vor allem das Moos an den Wänden bereitet ihr von Anfang an Unbehagen …

_“Gerolsteiner Fit“_ (Hartmut Kasper): Beim Getränkekauf testet Bergengruen die neue Sorte für sportlich-fitte Kunden. Zu seiner Überraschung entsteigt der Flasche eine Dschinni, die ihm drei Wünsche freigibt …

_“Der mikrokosmische Maler_ (Volker Groß): Der opiumabhängige Maler Borkat träumt von einem vollendeten Meisterwerk. Kurz vor der Fertigstellung fehlt ihm jedoch eine wichtige Zutat für die perfekte Farbe …

_“Pleissetal-Blues“_ (Uwe Schimunek): Endlich hat Schorsch einen festen Job als Lektor in einem Verlag und ein hübsches Haus auf dem Land. Sein aktuelles Projekt ist eine Lindwurmgeschichte, deren Autor sich als komischer Kauz erweist …

_“Andromeda“_ (Matthias Falke): Pete ist fasziniert von seiner Kommilitonin Andy, über die alle möglichen Gerüchte umgehen. Das unnahbare Mädchen wohnt abgeschieden am See und scheint ein Geheimnis zu verbergen …

_“Thors Hammer“_ (Frank W. Haubold): Deutschland steht am Ende des Zweiten Weltkrieges kurz vor der Einnahme der Alliierten. Standartenführer Roehner plant, das Dritte Reich mit Hilfe des Projektes „Thors Hammer“ unsterblich zu machen. Währenddessen plagen Oberleutnant düstere Träume von riesigen Vögeln und dunklen Reitern …

_“Feuerpause“_ (Hahnrei Wolf Käfer): Vier grundverschiedenen Brüder, unterdrückte Spannungen und Zwergenschießen als Sport …

_“Haft“_ (Achim Stößer): Ein Gefangener schreibt in der Fremde sein bedrückendes Tagebuch …

_“Gothic Tours Inc.“_ (Alexander Amberg): Tess sorgt sich um ihren überarbeiteten Ehemann Hagen, der sich, wenn überhaupt, nur noch von Horrorbüchern ablenken lässt. Zur Erholung bucht sie eine gemeinsame Woche Aufenthalt in einem schottischen Spukschloss …

_“Ölkollaps“_ (Horst Geßler): Bert und Otto grübeln über eine zündende Idee für ihr gemeinsames Drehbuchprojekt. Otto schlägt vor, in der Geschichte Benzin in Wasser verwandeln zu lassen. Aus den Folgen lässt sich eine originelle Handlung schmieden …

_“Der Puppenspieler von Mex-III-Ko“_ (Frank Neugebauer): Im Sommer des Jahres 2207 hält ein kleiner Zirkus von einer Erdkolonie Einzug. Der Postbeamte schlägt einem der Zirkusleute einen Kredit aus, besucht aber als Wiedergutmachung eine Vorstellung …

_“Franks Spruch“_ (Wilko Müller jr.): Karls Freund Frank hat eine Vorliebe für witzige Ansagen auf seinem Anrufbeantworter. Während Karl an die vergangenen Sprüche denkt, braut sich ein Unwetter zusammen …

_“Die Angst und die Stadt“_ (Michael Siefener): Auf der Suche nach einem Restaurant streift David abends durch die verregnete Stadt. Zufällig landet er dabei in einem Geschäft und wird durch eine Tür geschickt, hinter der eigenartige Dinge auf ihn warten …

Sowohl Fantasy, Horror, Science-Fiction als auch Mischformen werden geboten, wobei diesmal vor allem SF-Freunde auf ihre Kosten kommen.

_“Bubble Boy“_ bildet einen ruhigen Auftakt, in dem sich nach nach die Spannung immer weiter zuspitzt. Die Geschichte um den mysteriösen Fremden streift die Science-Fiction nur so leicht, dass man kein Leser dieses Genres sein muss, um Gefallen daran zu finden. Auch wenn die Geschichte gerne noch etwas unheimlicher und schockierender hätte ausfallen können, ist sie ein guter Einstieg in den Band, der zum Weiterlesen einlädt.

_“Absolutum“_ ist eine sehr dialoglastige Geschichte über eine ungewöhnliche Begegnung und eine noch ungewöhnlichere Begabung, Segen und Fluch zugleich. Die Stimmung schwankt zwischen leicht humorvoll, skurril und nachdenklich, der Abschluss überzeugt auch ohne spektakuläre Pointe.

In _“Slomo“_ entwirft Heidrun Jänchen eine erschreckende Zukunftsvision mit düsterer Atmosphäre. Trotz weniger Seiten entwickelt sich beim Leser ein Gespür für die futuristische Welt, in der die alte Generation als überholt und unnütz gilt und die Schwächen der auf Leistung gepolten Menschen übersehen werden. Eine kleine, feine Geschichte, die sich auch für nicht Nicht-SFler eignet.

_“Madame Delvaux“_ ist leider eine sehr vorhersehbar geratene Gruselgeschichte, die eine der meistgewählten Pointen bietet, auch wenn sich der ruhige, flüssige Stil angenehm lesen lässt.

Bei _“So was wie Joghurt“_ deutet schon der Titel den saloppen Tonfall der Geschichte an, der sich durch die ganze Handlung zieht. Der Leser wird auf amüsant-schnodderige Weise mit dem Fund einer außerirdischen Lebensform konfrontiert. Der Verlauf ist nicht wirklich überraschend, aber unterhaltsam aufbereitet.

_“Inspektor Pyrrhon und der Killerfön“_ ist das erste große Highlight des Bandes. Der staatlich verordnete Zweifel, der bei Nichtbeachtung drakonische Strafen nach sich zieht, ist eine originell-absurde Idee, welche die Geschichte zu einem vergnüglichen Genuss mit geistreichen Witzen macht. Der Clou am Ende wird zwar unnötig ausführlich erklärt, anstatt dem Leser etwas Denkarbeit zu lassen, trübt aber nicht den sehr guten Gesamteindruck.

_“Der Klomann“_ ist eine flotte SF-Geschichte, in der sich die reichen Leute ihre defekten Körperteile aufrüsten lassen können. Der Ich-Erzähler verfolgt misstrauisch den mysteriösen Klomann, der ein Geheimnis zu verbergen scheint, und der Leser gewinnt dabei einen Einblick in eine veränderte Welt. Das Ende kommt recht plötzlich, und was bleibt, ist eine solide, unterhaltsame Geschichte, die allerdings nicht länger im Gedächtnis haftet.

Die SF-Story _“Terminal“_ besticht vor allem durch eine gute Pointe, die der technikgespickten Handlung sensible Töne verleiht und erfreulicherweise nicht aus dem Hut gezaubert, sondern, im Nachhinein erkenntlich, bereits zuvor in der Handlung unauffällig angedeutet wird. Ermüdend sind allerdings die zu ausführlichen Schilderungen, insbesondere der Umgebung, die den Einstieg erschweren.

_“Meine liebe Stella“_ besteht aus einer Reihe von Briefen, aus denen sich eine unheimliche und geheimnisvolle Geschichte mit düsterer Atmosphäre entwickelt. Leser des Vorgängerbandes „Die Jenseitsapotheke“ werden einige Begebenheiten wiedererkennen, da es sich um eine (eigenständige) Fortsetzung der Geschichte „Mein lieber René“ handelt. Gelungener als der Vorgänger und schön gruselig, allerdings ist unrealistisch, wie chronologisch und ausführlich Frank seine schockierenden Erlebnisse an seine Freundin schreibt.

_“Die List in der Ehre“_ ist die einzige klassische Fantasygeschichte des Bandes. Sie verbindet eine interessante Geschichte mit einer guten Pointe, allerdings braucht es eine Weile, bis man den Überblick über das Geschehen gefunden und sich in den etwas gestelzten Stil eingelesen hat.

Die Titelgeschichte _“Das Mirakel“_ stellt einen wunderlichen Jungen in den Mittelpunkt, der auf ungewöhnliche Weise zu seiner wahren Berufung findet. Ein leicht melancholischer Text mit Fantasyeinschlag, nicht spektakulär, aber doch nett zu lesen.

_“Doppelte Hochzeit“_ ist eindeutig die komplizierteste Geschichte des Bandes, ein Füllhorn von Absurditäten, die sich in bissig-ironischer Weise aneinanderreihen. Definitiv keine leichte Kost, dafür eine Herausforderung für anspruchsvolle Leser.

_“Nur ein wenig Grün“_ ist eine auf sanfte Weise unheimliche Geschichte, die ohne blutigen Horror auskommt. Sie wird souverän erzählt, entwickelt jedoch nur mäßige Spannung, da Titel und Verlauf zu vorhersehbar sind.

_“Gerolsteiner Fit“_ ist eine kurze, sehr amüsante Geschichte mit Fantasy-Anleihen. Geschichten mit Flaschengeistern und fatalen Wünschen sind nichts Neues, die Idee wird hier aber auf witzige, moderne Weise umgesetzt und auch die Pointe überzeugt. Definitiv ein Highlight des Bandes.

_“Der mikrokosmische Maler“_ ist eine futuristische Variante zum alten Thema des wahnsinnigen Genies und seiner grenzenlosen Leidenschaft für die Kunst. Trotz des bekannten Plots kann die Geschichte am Ende überraschen und überzeugt vor allem durch ihre wohldosierten Horrormomente, die ohne platte Ekeleffekte auskommen.

_“Pleissetal-Blues“_ beginnt harmlos und harmonisch im Lektorenalltag, bis zur originellen Wendung. Eine sehr angenehm erzählte Geschichte, die eine amüsant-fantastische Entwicklung nimmt und gut unterhält.

_“Andromeda“_, wie die seltsame Andy von Pete genannt werden will, ist eine düstere Liebesgeschichte mit einer gelungenen Wendung. Lediglich der etwas umständliche Stil beeinträchtigt den Lesegenuss.

_“Invasive Techniken“_ ist eine gelungene SF-Geschichte, bei der man als Leser eine Exkursion in den Kopf eines EU-Angestellten verfolgen darf. Allein die originelle Ausgangslage weckt bereits Interesse, das durch den eingefügten Rückblick verstärkt wird.

_“Thors Hammer“_ verbindet eine Alternativwelt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs mit phantastischen Einschlägen. Eindrücklich wird das Grauen des Krieges demonstriert und trotz der Kürze treffsicher eingefangen, die Pointe setzt dem ohnehin schon düsteren Szenario die Krone auf. Ungewöhnlicher, aber wirkungsvoller Horror.

_“Feuerpause“_ ist wiederum skurrile Science-Fiction mit einer Geschichte, die zunächst vor allem Verwirrung stiftet, bis man sich in die Verhältnisse eingelesen hat. Interessant ist vor allem der lakonische Stil, in dem beiläufig die Absonderlichkeiten und Spannungen geschildert werden.

_“Haft“_ ist die wohl kürzeste Geschichte des Bandes, die zudem nur aus knappen Tagebucheinträgen besteht, in denen sich die deprimierende Stimmung der Gefangenschaft eines Häftlings entfaltet, der ungewöhnliche Folterqualen erleidet. Daher nicht nur eine SF-Geschichte, sondern zugleich auch ein Plädoyer für Veganismus.

Bei _“Gothic Tours Inc.“_ handelt es sich um eine klassische Geistergeschichte, die sich langsam entwickelt und in einer netten Pointe endet. Die Geschehnisse auf dem schottischen Schloss sind zwar nicht unbedingt originell, hinterlassen aber einen soliden Eindruck.

_“Ölkollaps“_ ist eine unkonventionelle, ironische Geschichte, die trotz des vorschnell erahnten Endes auf launige Weise gut unterhält.

_“Der Puppenspieler von Mex-III-Ko“_ bietet unterhaltsam-amüsante Science-Fiction, die mit einer skurrilen Idee aufwarten kann. Während man allerdings recht wenig über die Hintergründe der terranischen Kolonien erfährt, fallen zur Pointe wiederum unnötig detaillierte Erklärungen.

_“Franks Spruch“_ umfasst nur knapp drei Seiten, braucht aber auch tatsächlich keine Zeile mehr, um seine Wirkung zu entfalten. Eine humorvolle und dennoch dramatische Geschichte mit sehr guter Pointe, die vielleicht nicht lange im Gedächtnis bleibt, aber sehr positiv auffällt.

_“Die Angst und die Stadt“_ bildet den kompakten, düsteren Abschluss des Bandes. Die Ausgangslage ist zwar recht alltäglich angesiedelt, doch die Handlung wird schon bald mit traumartigen Sequenzen angereichert. Über der ganzen Geschichte liegt eine beklemmende Stimmung, die sich zum konsequenten Ende hin immer weiter steigert.

_Als Fazit_ bleibt eine empfehlenswerte Sammlung von Kurzgeschichten, die sich vor allem für SF-Freunde, grundsätzlich aber für jeden Leser phantastischer Literatur eignet. Obwohl nicht alle Geschichten gleich stark gelungen sind, lohnt sich der Kauf alleine schon wegen der Highlights, zumal kein Beitrag wirklich schwach zu nennen ist.

_Der Herausgeber_ Frank W. Haubold, Jahrgang 1955, studierte Informatik und Biophysik. Seit 1989 veröffentlicht er in unterschiedlichen Genres. 1997 erschien sein Episodenroman „Am Ufer der Nacht“. Weitere Werke sind u. a. die Geschichtensammlungen „Der Tag des silbernen Tieres“ (mit Eddie M. Angerhuber), „Das Tor der Träume“, „Das Geschenk der Nacht“ und aktuell „Die Schatten des Mars“. Parallel dazu gab er mehrere Anthologien heraus.

http://www.edfc.de/

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