Hearn, Lian – Der Ruf des Reihers (Der Clan der Otori, Band 4)

Das Ende des Traumes vom Friedensreich

Japan Ende des 15. Jahrhunderts: Seit 16 Jahren herrschen Takeo und Kaede Otori gemeinsam über die Drei Länders des Westens Japans. Ihre Liebe und Harmonie, aber auch die perfekte Balance zwischen männlicher und weiblicher Kraft haben ihrem Land dauerhaften Frieden und großen Reichtum beschert.

Das bleibt auch dem Kaiser im fernen Miyako und seinem obersten General, Saga Hideki, nicht verborgen. Der General fordert Takeo zu einem Wettkampf in Miyako heraus. Wenn Takeo verliert, muss er nicht nur abdanken und das Land verlassen, sondern auch in eine Heirat seiner Thronerbin Shigeko mit Saga einwilligen. Mit seinen treuesten Gefolgsleuten reist Takeo in die Hauptstadt. Und schon bald überschlagen sich die Ereignisse, denn ein schwerer Verrat durch Kaedes Schwester und ihren Mann Zenko droht alles zu zerstören, was Takeo und Kaede in langen Kämpfen aufgebaut haben. (abgewandelte Verlagsinfo)



Die Autorin

Lian Hearn, die eigentlich Gillian Rubinstein heißt und vor etwa 60 Jahren geboren wurde, lebte als Journalistin in London, bevor sie sich 1973 mit ihrer Familie in Australien niederließ. Ihr Leben lang interessierte sie sich für Japan, lernte dessen Sprache und bereiste das Land.

„Der Clan der Otori“:

1) [Das Schwert in der Stille 950 (dt. in 2004)
2) [Der Pfad im Schnee 968 (2005)
3) [Der Glanz des Mondes 2180 (2005)
4) Der Ruf des Reihers (2007)
5) erschien im Sept. 2007 im Original

„Das Schwert in der Stille“, der mittlerweile in 26 Sprachen übersetzt wurde, wurde mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 2004 ausgezeichnet. Mehr Infos unter http://www.otori.de.

Vorgeschichte

Japan, Ende des 15. Jahrhunderts: Eines Morgens wird Takeos Dorf überfallen, und er überlebt als einziger. Lord Shigeru vom Clan der Otori rettet ihn und nimmt ihn in seine Familie auf. Von ihm, einem Helden wie aus versunkenen Zeiten, lernt Takeo die Bräuche des Clans. Er lehrt ihn Schwertkampf und Etikette. Die Liebe zu Kaede entdeckt Takeo allein.

Als er herausfindet, dass er dunkle Kräfte besitzt – die Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein und sich unsichtbar zu machen, und dass er so gut „hören kann wie ein Hund“ – gerät er immer tiefer in die Verstrickungen der Lügen und Geheimnisse, aus denen die Welt der Clan-Auseinandersetzungen besteht. Trotz seines Widerwillens ist es ihm bestimmt, sich an den Mördern seiner Familie zu rächen. Takeo verbindet sein Schicksal mit dem der Otori.

Am Schluss von Band 1 ließ Lord Shigeru sein Leben, nachdem auch Lord Iida getötet worden war. Als Folge dieser beiden einschneidenden Ereignisse kam es in der Hauptstadt Inuyama zu einem Aufstand, den sich die Armee unter Lord Arai Daiichi zunutze machte, um die Macht zu übernehmen und die tyrannischen Tohan zu stürzen. Er bringt die Drei Länder in seine Gewalt.

Man glaubt, Takeo sei Iidas Mörder, doch in Wirklichkeit war es Lady Kaede. Takeo ist verschwunden, was Arai, der auf ein Bündnis mit dem Krieger hoffte, erzürnt. Er beschließt, gegen den „Stamm“, der ihm Takeo entrissen hat, vorzugehen. Es ist abzusehen, dass Takeo und Kaede im Machtspiel zwischen den Otoris, Lord Arai und dem „Stamm“ eine Schlüsselrolle zufällt. Wenn sie nicht aufpassen, könnte dies ihren Untergang bedeuten.

Doch inzwischen hat sich Takeo dem „Stamm“, aus dem sein leiblicher Vater Isamu stammte, unterwerfen müssen. Mit der Kikuta Yuki zeugte er ein Kind, doch Yuki, die ihm einst in Inuyama Shigerus Schwert brachte, wurde Takeo entrissen und musste einen Stammesangehörigen heiraten. Takeo kann sich nicht mit den opportunistischen Zielen des Stammes anfreunden, er flieht über die Berge. Mehrere Anschläge überlebt er und begegnet einer heiligen Frau, die ihm sein Schicksal prophezeit (s.o.).

Außerdem lernt er die „Verborgenen“ kennen, die verfolgten und ausgestoßenen Christen. Seine Eltern hingen selbst diesem Glauben an, der alle Werte, die die Japaner hochhalten, für ungültig erklärt und sie unterminiert. Der Christ Jo-an hilft ihm, ins Kloster Terayama zu entkommen. Dort kann er endlich Kaede heiraten und die Übernahme ihres Erbes vorbereiten: der Domänen Shirakawa und Maruyama. Dann wäre er als Clanherr eine beachtliche Macht im Westen.

Kaede erwartet Takeos Kind. Es werden Zwillingstöchter. Vielleicht ist das aber auch ganz gut so. Die heilige Frau hat nämlich geweissagt, Takeo werde einst von der Hand seines eigenen Sohnes den Tod finden …

HINWEIS: Der Familienname steht vor dem Eigennamen.

Handlung

Sechzehn Jahre sind seit den Ereignissen in „Glanz des Mondes“ vergangen, als es Kaede und Takeo gelang, ihre Sippen Shirakawa und Otori durch Heirat und siegreiche Schlachten ebenso zu vereinen wie die drei Fürstentümer des Westens. Wohlstand ist eingekehrt, doch nicht alles ist friedlich. Lord Arai Zenko, Gatte von Kaedes Schwester Hana, hegt einen Groll gegen den „Emporkömmling“ Takeo wie auch Kikuta Akio, dessen Vater durch Takeo zu Tode gekommen sein soll. Diese Altlasten erweisen sich nun langfristig als Takeos Verhängnis.

Akio will ebenso wie Zenko die Oberherrschaft im „Stamm“, jenem verborgenen Netzwerk von Menschen mit erstaunlichen Fähigkeiten und Gaben. Takeo ist selbst mit der Gabe des Unsichtbarmachens und dem Zweiten Ich gesegnet. Besorgt bittet er seinen Mentor Muto Kenji, das Oberhaupt des „Stammes“, um Vermittlung eines Waffenstillstands mit Akio. Doch dieser lehnt nicht nur brüsk ab, sondern zwingt Kenji sogar dazu, Selbstmord zu begehen.

Doch zuvor hat Kenji den 15-jährigen Jungen Hisao kennengelernt, angeblich der Sohn Akios, doch in Wahrheit Takeos Sohn, den ihm Kenkis Tochter Yuki gebar. Hisao ist also Kenjis Enkel. Nun wird Hisao vom Geist Yukis verfolgt, denn er ist mit der Gabe des Geistersehens, wie er denkt, verflucht und verbirgt dies vor Akio. Die Nachricht vom Tod Kenjis verwirrt Hisao und betrübt Takeo. Er bestimmt die alte Lady Shizuka zur Nachfolgerin ihres Onkels, doch weder Zenko noch Akio erkennen sie an und unterminieren Takeos Nutzung des Stammesnetzweks als geheime Post. Dadurch fangen sie Nachrichten an Takeo ab, den Oberbefehlshaber der Drei Länder.

Arai Zenko hat es selbst auf die Oberherrschaft im Westen abgesehen. Er hat zwar Takeo Treue geschworen, gibt aber nichts darauf. Heimlich schließt er einen Pakt mit dem Kaiser, der Takeos Reichtum begehrt, und lädt die fremden Barbaren in seine Domäne ein, um an ihre Feuerwaffen zu gelangen. Ja, zum Entsetzen Shizukas, seiner Mutter, konvertiert er sogar zur fremden Religion und gibt vor, Deus zu verehren. Aus Protest begibt sie sich in Hungerstreik im Tempel. Zenkos Untertanen geraten in Aufruhr ob dieses schlechten Omens und verwünschen ihren abtrünnigen Lord. Dieser tut sich mit Kikuta Akio zusammen.

Lady Shizuka hat die beiden Zwillingstöchter Kaedes und Takeos in den Stammeskünsten ausgebildet, im Unsichtbarwerden und dem zweiten Ich. Maya und Miki sind beide 13 Jahre alt und sehr unglücklich. Sie werden von den Bürgern geschnitten, denn Zwillinge werden normalerweise gleich nach der Geburt getötet. Und dazu haben sie nun auch noch Stammestalente, die sie dem Rest der Leute unheimlich machen, obendrein auch ihrer Mutter. Maya lernt sogar, sich in eine Katze zu verwandeln. Takeo schickt Maya und Miki auf abgelegene Höfe zu Verwandten und lässt sie dort unterrichten. Maya büchst aus und gelangt mit Shizuka an Zenkos Hof.

Dort spitzt sich die Lage zu, als Zenko seinen eigenen Bruder Muto Taku verrät, den obersten Spion Takeos. Maya hat viel von Taku und seiner Konkubine Sada gelernt, so auch das Geheimnis, das Hisao umgibt. Als Taku ahnt, dass sein Bruder etwas im Schilde führt, drängt er Sada und Maya zum Aufbruch, doch das Trio kommt nicht weit. Akio und Hisaos neue Feuerwaffe verrichtet ihr unheilvolles Werk. Maya lernt so Akio und Hisao als Gefangene kennen. Hisao gebietet über alle Geister, und da in Maya der Geist einer Katze wohnt, kann er sie zwingen, bei ihm zu bleiben. Erst als Miki ihr hilft, kann sie fliehen. Sie wollen zu Kaede, ihrer Mutter. Sie ahnen nicht, dass bereits alles verloren ist.

Mittlerweile ist nämlich ihr Vater der Einladung des Kaisers gefolgt und in die ferne Hauptstadt gezogen. Weil der General des Kaisers, Lord Saga, ihn im Namen seines Herrn aufgefordert hat, abzudanken und ins Exil zu gehen oder sich das Leben zu nehmen, ist Takeo äußerst vorsichtig. Er lässt seinen Feldmarschall eine Armee an der Ostgrenze aufstellen. Zusammen mit seiner Tochter, der sechzehnjährigen Lady Maruyama Shigeko, zieht er nach Miyako. Shigeko ist eine echte, voll ausgebildete Kriegerin.

Zunächst verläuft alles gut, und es gelingt ihm, die Gunst des Kaisers zu erlangen, indem er ihm eine Giraffe schenkt: ein Zeichen der Gunst der Götter. In einem Wettstreit, bei dem alles auf dem Spiel steht, gewinnt sogar Takeos Mannschaft dank Shigekos Kunst gegen Lord Sagas Team. Sie muss Lord Saga also nicht heiraten und bleibt eine Fürstin, Takeo behält seine Länder.

Doch auf der Hochfläche am Grenzpass kommt es zu dem Unglück, das Takeo schon lange befürchtet, seit die Giraffe zu ihm zurückgekehrt ist: Lord Saga greift ihn mit einer Armee an. Zu spät erreicht ihn die Nachricht, dass gleichzeitig Lord Arai Zenko mit seiner eigenen Armee gegen die Hauptstadt zieht.

Krieg und Bürgerkrieg zugleich – kann es schlimmer kommen? Es kann. Denn Zenkos Frau Hana spinnt nun ihre heimtückische Intrige gegen Takeo bei Kaede, ihrer eigenen Schwester.

Mein Eindruck

Wie schon an diesem stark verdichteten Handlungsabriss zu erkennen ist, macht es die Autorin dem Leser nicht gerade einfach, das Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen zu durchschauen. Dieses Verständnis ist unerlässlich, um die Motivationen der Akteure zu verstehen und die Aktionen einordnen zu können. Bei einer Familiensaga wie dieser war es aber noch nie anders, weder in den Vorgängerbänden noch bei anderen Autoren (man denke nur an „Die Buddenbrooks“). Im Buch findet sich deshalb eine hilfreiche Gedächtnisstütze in Form eines Personenverzeichnisses. Nach einer Weile fand auch ich mich zurecht.

All die Nebenhandlungen sind geschickt angelegt, um die Lage für Takeo, der die Haupthandlung bestreitet, noch weiter zu verschärfen. Während er im Ausland sein Land verteidigt, bricht ihm genau dieses im beginnenden Bürgerkrieg weg. Doch was sind nun die zerstörerischen Kräfte, die den Untergang der Otori herbeiführen, mag sich der Leser fragen.

Neid und Missgunst sind altbekannte Feinde aller Herrscher, und auch Takeo sieht sich ihnen gegenüber. Zenko ist missgünstig, der Kaiser bzw. dessen General Saga ist neidisch. Hinzu kommt der rachedürstende Akio, der wie Zenko nicht vor Brudermord haltmacht. Und Arai Hana, die Frau Zenkos, zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen Kaede und Takeo. Das Resultat ist ein verbrannter Palast.

Barbaren

Rätselhaft sind die Absichten der fremden „Barbaren“. Es sind Portugiesen, die, seit Magellan 1487 die Welt umrundete, von Indien her den Fernen Osten erkunden und missionieren wollen. Da sie über Feuerwaffen verfügen, stellen sie einen beachtlichen Machtfaktor dar. Seit Takeo einen Deal mit den Piraten abgeschlossen hat, hat er auf dem Festland das Monopol über Feuerwaffen inne. Dieses verliert er durch Verrat und den Knowhow-Transfer, den die Fremden an Zenkos Hof in Gang setzen. So lernt Hisao, eine Schusswaffe zu konstruieren und zu schmieden. Wie wirksam diese Waffe ist, erfahren Muto Taku und Sada zu ihrem Leidwesen am eigenen Leib.

Langfristig sind die Fremden wohl auf eine Machtbasis aus, denn sie beantragen die Errichtung eines Handelspostens. Interessant ist die Reaktion der Japaner auf ihre Vorstellung von einem strafenden und rachsüchtigen Gott. Dies steht völlig im Gegensatz zu ihrem eigenen buddhistischen Glauben an die gütige Göttin Kannon und ihr Pantheon. Die Wiedergeburt im nächsten Leben ist keine Strafe, sondern eine ausgemachte Gewissheit von Belohnung.

Zu guter Letzt entscheidet der altbekannte Krieg das Geschick Takeos. Erst hier wird das Buch wirklich spannend. Die Action kann sich durchaus mit der von männlichen Autoren wie David Gemmell oder Bernard Cornwell messen. Natürlich spielen die Frauen eine besonders herausragende Rolle. Shigeo entscheidet die Schlacht mit einem Husarenstück, indem sie Lord Saga verletzt und vertreibt.

Zu guter Letzt bleibt nur die Frage offen, ob und wie sich die Prophezeiung erfüllen wird (siehe oben). Nun hat nämlich Takeo auf einmal zwei Söhne, seinen Neugeborenen und eben Hisao. Das sorgt für weitere Spannung und sogar für packende Action. Es lohnt sich also, bis zum Schluss dranzubleiben.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch Henning Ahrens ist ausgezeichnet, und ich konnte keine Fehler finden. Weil das Personal recht umfangreich ist, enthält das Buch jene Liste der auftretenden Figuren, die unschätzbare Dienste leistet.

Im Buch kann sich der Interessierte – wie im Hörbuch – nicht anhand einer Landkarte orientieren, wie die Ortsnamen und die Namen der Clan-Domänen geschrieben werden. Die Landkarte wurde also entfernt und der Leser ist auf jene in den Vorgängerbänden angewiesen. Kein schöner Service des Verlags.

Unterm Strich

Dieser Band bringt das Ende der Otori-Herrschaft und der Abenteuer Takeos und Kaedes. Aber das muss nicht heißen, dass die Geschichte total deprimierend ist, denn die Autorin baut vier Kinder dieses Paares als Erben auf und führt sie durch die ersten Prüfungen. Sie geben Anlass zur Hoffnung, dass die revolutionären Ideen Takeos und Kaedes – etwa die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der Herrschaft – fortbestehen werden, selbst nach der Eroberung der Drei Länder durch den Kaiser. Der Wandel ist bekanntlich das Einzige, das beständig ist, und so muss auch das Reich der Otori vergehen, um seinen Beitrag zu einem größeren Ganzen leisten zu können. Hier lobt die Autorin den Beitrag der Frauen zur Geschichte des Landes, vielleicht ein wenig blauäugig und utopisch.

Wie zu erwarten, fand ich die Handlung weitverzweigt und abwechslungsreich. Das erfordert allerdings, sich jede Menge Namen zu merken. Nach einem Auftakt mit leichter Action – Attentäter werden unschädlich gemacht – ist klar, dass in allen möglichen Ecken Gefahren die Otori-Herrschaft bedrohen. Doch erst mit der monumentalen Drei-Tage-Schlacht findet diese unterschwellige Spannung ihren offensichtlichen Ausbruch.

Das ist ein ziemlich langer Spannungsbogen. Und er wird von den Konflikten um Zenko, Akio, Taku und Hisao in einem zweiten Spannungsbogen ergänzt. Das Ergebnis sind Krieg und Bürgerkrieg. Mit bemerkenswertem Geschick fädelt die Autorin alle Konflikte ein und löst sie wieder auf. Sie schreckt vor keiner Konfliktart zurück, und seien es eine Palastintrige oder der Tod eines Babys. Zarte Gemüter seien gewarnt.

The harsh cry of the heron, 2006
798 Seiten
Aus dem US-Englischen übersetzt von Henning Ahrens
ISBN-13: 9783551581600

http://www.otori.de
http://www.carlsen.de
http://www.lianhearn.com

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