Annegret Held – Die letzten Dinge. Roman

Der Alltag in einem Altersheim – klingt eigentlich nicht unbedingt nach dem Thema eines großartigen Romans. Wer will darüber schon eine Geschichte lesen? Diese dunklen Winkel des Lebens klammert man doch am liebsten so lange aus, wie man es noch kann. Lieber so lange ignorieren, bis sie irgendwann Realität werden. Aber bis dahin will man lieber nicht zu viel darüber hören. Na ja, es kommt allerdings immer darauf an: Es gibt Menschen, die führen uns so sanft, freundlich und mit einem Augenzwinkern an einen so düsteren Ort, dass man selbst ein Altersheim glatt noch lieb gewinnen könnte. Annegret Held kann so etwas.

Annegret Held erzählt in ihrem Roman „Die letzten Dinge“ die Geschichte von Lotta. Lotta hat einst ihre Ausbildung hingeschmissen, um mit einem englischen Industriearbeiter nach Manchester durchzubrennen. Als die Beziehung in die Brüche geht, kehrt Lotta nach Deutschland zurück und weil sie den Eltern, die natürlich immer gewusst haben, dass es so kommen musste, den Triumph nicht gönnt, will sie sich alleine durchschlagen. Sie findet einen Job im Altenpflegeheim „Abendrot“ und kann dort in einer kleinen Wohnung in der Dachkammer unterkriechen. Kein Paradies, aber immerhin hat Lotta ein Dach über dem Kopf und steht auf eigenen Füßen.

Die Arbeit auf Station III ist für Lotta gewöhnungsbedürftig. Als Stationshilfe arbeitet sie dort. Sie bringt das Frühstück und trägt Kaffeekännchen auf die Zimmer, macht die Betten und sorgt für Sauberkeit und Ordnung. Ordnung hat Station III auch bitter nötig. Unterbesetzt, unterbezahlt, unterversorgt – in der Altenpflege liegt vieles im Argen und so ist auch der Alltag für Lotta anstrengend und auszehrend.

Doch die Kollegen halten zusammen. Da wäre Rosalinde, die Stationsschwester, die den Überblick behält, da wäre Pflegerin Gianna, die nebenbei zusammen mit Pater Ludolfus auf dem Dachboden Gespenster vertreibt, und die resolute Russin Nadjeschda. Und zu guter Letzt ist da auch noch der schwule Pflegerhelfer Ivy, dessen ausschweifendes Nachtleben mehrfach für Unannehmlichkeiten sorgt und auch Lottas Leben durcheinander wirbelt.

Rund um diese Figuren erzählt Annegret Held eine Vielzahl von Geschichten. Anekdoten, die zum Schmunzeln anregen oder traurig stimmen. Schicksale, die auch immer wieder zum Nachdenken anregen. Annegret Held beweist, dass Geschichten aus dem Altersheim keine trockene Angelegenheit sind und sich besser für Unterhaltungslektüre eignen, als man ihnen zutrauen mag.

Mein Eindruck

Ein |“sterbenskomischer Roman über das Leben“| soll „Die letzten Dinge“ laut Klappentext sein, und das kann man durchaus als passende Umschreibung gelten lassen. Held schreibt mit einem feinsinnigen Humor, mit einem Blick für die skurrilen und komischen Begebenheiten des Alltags und mit einer warmherzigen Ironie, ohne es am nötigen Ernst mangeln zu lassen. Sie findet die Balance zwischen Tragik und Komik und präsentiert dem Leser eine Geschichte, der man gerne folgen mag.

„Die letzten Dinge“ ist absolut bodenständig und schräg zugleich. Mit viel Liebe legt Held ihre Figuren an. Sie wirken realistisch, sind sympathisch, aber haben eben auch ihre Macken. Gerade die Bewohner des Pflegeheims werden mit viel Liebe geschildert und bekommen viel Raum, ihre Schrullen auszuleben. Da werden Gebisse in Blumentöpfen versteckt und alte Mütterchen mit Irokesenschnitt frisiert. Da landet Grießbrei an der Wand und Gesprächsinhalte werden im 5-Minuten-Takt wiederholt.

Man darf rätseln, welche der geschilderten Anekdoten auf wahren Hintergründen beruhen und welche nicht, denn Held blickt auf eigene Erfahrungen in der Altenpflege zurück. Vermutlich wirkt „Die letzten Dinge“ auch deswegen so lebensecht und menschlich. Es ist ein Roman, der seine Wurzeln im wahren Leben hat und Geschichten und Einzelschicksale schildert, die sich mitten in unserer Gesellschaft abspielen.

Überhaupt ist die Biographie von Annegret Held bewegt genug, um an dieser Stelle mit ein paar Worten bedacht zu werden. In Annegret Helds eigenen Worten klingt das so: |“Ich habe in einer atemberaubenden Kombination aus Geldnot und leidenschaftlichem Interesse in allen möglichen Jobs gearbeitet. Ich war Polizeibeamtin, habe in einer Kistenfabrik gearbeitet, bei einem rechtsradikalen Rechtsanwalt Zwangsvollstreckungen abgetippt, war in der Buchhandlung Hugendubel tätig, habe Leiharbeiter beaufsichtigt, war im Ministerium für Kunst und Wissenschaft, Sekretärin bei Siemens, … aber meine Liebe gilt eindeutig den sozial schwachen Menschen, Randgruppen und so weiter.“|

Die Liebe zu den sozial Schwachen merkt man ihr deutlich ein. „Die letzten Dinge“ ist ein Roman, der nicht nur streckenweise komisch und skurril ist, sondern sich auch dadurch besonders auszeichnet, dass die Autorin so wunderbar warmherzig und liebevoll erzählt. Dabei schafft Held durchaus die Gratwandlung zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung, in der auch Platz für kritische Zwischentöne ist.

Die chronische Unterbesetzung der Station, die den verbliebenen Mitarbeitern an die Nieren geht, das ständige Hin- und Hergerissensein zwischen dem Wunsch, die Menschen besser betreuen zu können und der Realität eines gnadenlos eng kalkulierten Tagesablaufs – „Abendrot“ ergeht es da sicherlich nicht anders als anderen Pflegeheimen heutzutage. Das Budget wird immer knapper und wenn dann vor Monatsende die Windeln ausgehen, dann ist das für die ohnehin schon unterbesetzte Station ein absoluter Albtraum.

Held erzählt ohne Sentimentalität den gnadenlosen Alltag in der Altenpflege und stimmt damit auch nachdenklich. Unentwegt versucht das Pflegepersonal, das Leben der Pflegeheimbewohner angenehmer und erträglich zu machen, und das trotz solch widriger Umstände. Held mahnt uns auch, etwas mehr Hochachtung vor der Leistung dieser Menschen zu haben. Schließlich werden wir vermutlich irgendwann selbst auf sie angewiesen sein.

Dass diese Mahnung ganz ohne erhobenen Zeigefinger daherkommt, ist vor allem Helds liebevollem Erzählstil zu verdanken. Irgendwo schleichen sich immer ein Schmunzeln und ein Augenzwinkern in ihren Schreibstil ein. Sie schildert die harte Realität, tut dies aber mit einer Leichtigkeit, die „Die letzten Dinge“ zu einer geradezu locker-flockigen Lektüre macht. Und das, ohne an Tiefe einzubüßen.

Makel

Der einzige Makel, der dem Roman in dieser ersten Auflage anhaftet, ist das etwas schlampige Korrektorat. Fehlende Buchstaben am Wortende, fehlende Wörter mitten im Satz, dann wird aus Rosalinde plötzlich Rosemarie – Fehler dieser Art gibt es viele und es sind im Grunde mehr, als die Toleranz (zumindest meine …) erlaubt. Bleibt zu hoffen, dass diese Fehler für die nächsten Auflagen noch ausgemerzt werden.

Unterm Strich

„Die letzten Dinge“ ist im Endeffekt ein Roman über das Leben in all seinen Facetten; ernsthaft und augenzwinkernd zugleich. Eine sympathische Geschichte, die ein Wechselbad der Gefühle ist: mal traurig stimmend, mal irrsinnig komisch und mal zum Nachdenken anregend. Ein schöner Roman mit sympathischen und realistisch anmutenden Figuren, der Anekdoten mitten aus dem Leben erzählt und mit einer Botschaft daherkommt, die auch im Angesicht des Todes durchaus noch Lebensfreude vermitteln kann. Ein durch und durch menschlicher Roman.

Werke (Auswahl der Wikipedia.de)

Meine Nachtgestalten, Tagebuch einer Polizistin, Eichborn, Frankfurt a. M. 1988.
Mein Bruder sagt, du bist ein Bulle, Rowohlt Rotfuchs, Reinbek b. Hamburg 1990.
Meine Schatten, mein Echo und ich, Rowohlt Neue Frau, Reinbek b. Hamburg 1994.
Am Aschermittwoch ist alles vorbei, Rowohlt Hardcover, Reinbek b. Hamburg 1997.
Die Baumfresserin, Rowohlt Hardcover, Reinbek b. Hamburg 1999.
Hesters Traum, Rowohlt Hardcover, Reinbek b. Hamburg 2001.
Das Zimmermädchen, marebuch, Hamburg 2004. ISBN 978-3-936384-06-2
Die letzten Dinge, Eichborn, Frankfurt a. M. 2005. ISBN 978-3-8218-5733-6.
Fliegende Koffer, Eichborn, Frankfurt a. M. 2009. ISBN 978-3-8218-5732-9.
Apollonia, Eichborn, Köln 2012. ISBN 978-3-8479-0507-3.
Armut ist ein brennend Hemd, Eichborn, Köln 2015. ISBN 978-3-8479-0593-6.
Das Verkehrte und das Richtige, Eichborn, Köln 2022. ISBN 978-3-8479-0654-4.

Verfilmte Werke

2000: Die Polizistin – Regie: Andreas Dresen, nach dem Roman Meine Nachtgestalten
2004: Das Zimmermädchen – nach dem Roman Das Zimmermädchen
2010–2019: Lotta (Filmreihe) – bislang 8 Fernsehfilme (Hauptrolle: Josefine Preuß) nach dem Roman Die letzten Dinge

Gebunden: 368 Seiten
ISBN-13: 9783821857336

www.luebbe.de/eichborn