Hesse, Andree – Schwester im Jenseits, Die

Andree Hesse hat sich in Deutschland zunächst einen Namen als Übersetzer gemacht, doch gleich sein erster eigener Kriminalroman „Der Judaslohn“ ließ Kritikerherzen höher schlagen und brachte Hesse als Nachfolger Mankells ins Spiel. Hesses Krimiheld Arno Hennings hat einfach zu viele Ähnlichkeiten mit dem gebeutelten Kurt Wallander, als dass die Parallelen nicht auffielen, und auch in Hesses jüngstem Krimi „Die Schwester im Jenseits“ beweist er wiederum, dass er nicht nur sympathische Figuren zeichnen, sondern auch einen spannenden Krimi mit brisant politischem Hintergrund aufs Papier zaubern kann.

_Aus zwei Kriminalfällen mach‘ einen_

Es ist Neujahr in Celle, und der junge Kurde Mehmed Duman wartet auf einem Parkplatz auf seine weibliche Verabredung. Dass er zittert, liegt nicht nur an der eisigen Kälte in Norddeutschland, sondern auch an Mehmeds mulmigen Gefühlen, wenn er an seine Verabredung denkt. Doch die Frau taucht nicht auf, stattdessen trifft Mehmed eine tödliche Kugel. Als die Polizei Drogen in seinem Auto findet, fällt der Verdacht gleich auf das Drogenmilieu, denn Mehmed war erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen Drogenmissbrauchs eingesessen hatte.

Von all dem ahnt Arno Hennings noch nichts, als er auf dem Rückflug von Danzig nach Hamburg sitzt. Über Weihnachten hatte er seine Freundin Aglaja und den gemeinsamen Sohn Andrzej besucht. Die Stimmung während des Besuches war allerdings mehr als getrübt, die Beziehung zwischen Arno und Aglaja erweist sich als immer schwieriger und Arno glaubt auch nicht mehr an Aglajas Rückkehr nach Deutschland. Kaum trifft er wieder in Celle ein, wartet allerdings zunächst Ablenkung auf Hennings. Schon auf dem heimischen Bahnhof trifft er auf seinen Kollegen Karsten Müller, der ihm von dem toten Kurden berichtet.

Zunächst scheinen die Ermittlungen eindeutig, doch je weiter die Polizisten in den Fall eintauchen, umso verwirrender wird er. Kurz darauf greifen einige Rechtsradikale zwei yezidische Kurden an. Aus dem Angriff wird schnell eine Massenschlägerei, bei der Arno Hennings unter Einsatz seines eigenen Lebens das eines Kurden retten kann. Und wo immer Hennings ermittelt, wohin auch immer er geht, eine Frau taucht immer wieder auf – Ronahi Duman, die Schwester des Toten, von der Arno Hennings auf den ersten Blick fasziniert ist.

Bevor die Polizisten der Lösung des Falls näherkommen, wird die Celler Kripo vom Fall abgezogen. Als kurz darauf der angesehene Chirurg Dr. El Tahir verschwindet und Arno wieder an einem Fall ermittelt, findet er schnell einige Parallelen zwischen den beiden Ereignissen und muss erkennen, dass die jungen Kurden beide Male der Schlüssel zur Lösung sind …

_Kein guter Start ins neue Jahr_

Das Jahr ist noch jung, als die Celler Polizisten in einem neuen Fall ermitteln müssen. Zunächst ist alles klar, Drogenhändler haben sich an Mehmed Duman gerächt. Aber natürlich ist bei Andree Hesse nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Das erkennt auch bald Arno Hennings, der sich in die Arbeit stürzt, um nicht über seine gescheiterte Beziehung zu Aglaja nachdenken zu müssen. Kaum ist er nämlich wieder in Celle angekommen, erreicht ihn ein Anruf aus Danzig, bei dem Aglaja ihm mitteilt, dass sie sich in einen Autohändler verliebt hat und nicht gedenkt, jemals wieder zurück nach Deutschland zu kommen. Arno hatte es befürchtet, doch offen ausgesprochen, trifft ihn die Wahrheit wie ein Messerstich mitten in die Brust. Sein einziger Trost in dieser Situation ist seine geliebte Hündin Basta, die er nach seinem Besuch in Danzig endlich wieder bei seinem Cousin abholen kann.

Bei Arno bricht einiges zusammen; die Frau seines Cousins vertraut ihm an, dass sie gedenkt, ihren Mann zu verlassen, weil sie nicht mehr an ihre Ehe glaubt, und auch auf eine alte Bekannte trifft Hennings wieder, nämlich auf Emma Fuller, die er bei früheren Ermittlungen kennengelernt hat, die wir ihn „Der Judaslohn“ nachlesen können. Die aktuellen Ermittlungen führen Hennings zu einem ehemaligen Soldaten, zu dem er mit Emmas Hilfe Kontakt herstellen will. Emma ist einsam und hat von Arnos Problemen mit Aglaja gehört. Als sie versucht, sich an Hennings heranzumachen, weist dieser sie allerdings brüsk zurück, was ihm im Nachhinein schon wieder leid tut, doch bei Arno Henning ist zurzeit einfach der Wurm drin.

Ähnlich gebeutelt scheint er uns wie unser aller Freund Kurt Wallander. Die Ähnlichkeiten setzen sich fort, denn auch Arno ist nun ein verlassener Mann, der seinem Kind hinterhertrauert, zu dem er kaum Kontakt haben kann. Er ist einsam, aber auch etwas kauzig, sodass andere Menschen es nicht leicht haben, sich ihm überhaupt zu nähern. Andree Hesse gibt seinem Krimihelden Arno Hennings immer mehr Profil, er baut sein Leben immer mehr aus, sodass er zu einem festen Bestandteil dieser Krimireihe geworden ist. Alle anderen Figuren verblassen neben Arno Hennings, sodass ich jetzt kaum etwas über seine Kollegen sagen könnte. Das finde ich schon etwas schade, denn zu sehr sollte man ein Buch oder eine ganze Reihe nicht auf einer einzigen Figur aufbauen.

_Heiße Kämpfe bei eisigen Temperaturen_

Eine Stärke von Andree Hesse ist ganz klar seine Fähigkeit, einen spannenden und komplexen Plot zu konstruieren. Seine Geschichte beginnt im Jahr 1987 im Irak, wo wir die kleine Nasira kennen lernen. Ihren Vater hat sie bereits verloren, doch nun haben Soldaten ihr Dorf überfallen und erschießen vor ihren Augen auch noch die geliebte Mutter. Mit ihrem Onkel und den anderen Dorfbewohnern flieht Nasira vor den feindlichen Soldaten, aber die Flucht ist schwer und fordert weitere Opfer. Die Menschen haben wenig zu essen und zu trinken, und Nasiras Tante bekommt mitten auf der Flucht auch noch ein Baby. Außerdem muss Nasira die meiste Zeit ihre kleine Schwester tragen, die selbst noch zu klein ist, um die Strapazen des Weges zu ertragen. Immer wieder schaltet Hesse zurück zu Nasira, die zu einer kurdischen Freiheitskämpferin wird. Es ist ganz klar, dass in ihrer Person die Lösung des Falles liegt, doch was Nasira mit den Kriminalfällen in Celle zu tun hat, erfahren wir natürlich erst ganz zum Schluss.

Hesse hat sich wieder einige brisante Themen für seine Geschichte herausgepickt. So schreibt er nicht nur über die Kriegsgräuel und die Flucht der Kurden im Irak, sondern er thematisiert auch den Fremdenhass und die Probleme der Kurden in Deutschland. Aber auch generell die Einwanderungsproblematik diskutiert Hesse, nämlich in der Person El Tahirs, der angeblich aus dem Libanon stammt. Das allerdings ist extrem praktisch, denn Flüchtlinge aus dem Libanon werden nicht abgeschoben, da sie von ihrem Land nicht wieder aufgenommen werden. Kommt El Tahir also gar nicht aus dem Libanon? Aber wer ist er wirklich? Und was hat ihn veranlasst, aus seiner Heimat zu fliehen und in einer kleinen Stadt in Norddeutschland ein neues Leben aufzubauen? Genau diese Frage wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.

Wie Andree Hesse uns seine Lösung präsentiert, ist absolut gelungen. Zwar ist er nicht gerade ein Meister des Spannungsbogens, aber seine Konstruktionen überzeugen dennoch. Vielleicht mögen es am Ende zu viele Zufälle sein, die die beiden Fälle in Celle miteinander verbinden, aber das verzeiht man Hesse dann schnell. Von selbst wird man als Leser wohl nicht auf die Lösung kommen, doch hält Hesse uns bei der Stange, indem er immer neue Informationen einstreut, die uns allerdings mehr verwirren als Klarheit zu schaffen.

Etwas Entwicklungspotenzial sehe ich noch im Spannungsaufbau, denn obwohl das Buch gut zu lesen ist und mich auch sehr schnell interessiert hat, wird die Handlung erst zum Schluss hin so packend, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Hesse versucht es mit einigen Cliffhangern, wie auch sein schwedisches Vorbild Mankell es immer wieder praktiziert hat, doch überzeugen diese bei Hesse nicht. Oft genug erkennt Arno Hennings nämlich, dass er etwas Entscheidendes übersehen hat, dass ihm eine Person bekannt vorkommt, er sie aber nicht zuordnen kann oder dass er das Gefühl hat, etwas Wichtiges übersehen zu haben (das kommt Mankell-Fans bekannt vor, nicht wahr?). Doch die Auflösung gibt es manchmal so gut wie gar nicht oder sie führt eher zu einem Stirnrunzeln. So findet er beispielsweise in einer Szene den Personalausweis einer wichtigen Zeugin und hat sofort ein Aha-Erlebnis. Und zwar hat Hennings auf den ersten Blick erkannt, dass sie nicht die Schwester ihres angeblichen Bruders sein kann, da nur wenige Monate zwischen ihren Geburtstagen liegen. Ehrlich gesagt fand ich es allerdings nicht schlüssig, dass Hennings sämtliche Geburtstage der handelnden Figuren sofort parat hat. Eine Kleinigkeit, über die man hinwegsehen kann, aber es sind mehrere solcher Szenen, die mitsamt dem verbesserungswürdigen Spannungsbogen den Gesamteindruck ein wenig trüben.

_Eine turbulente Woche geht zuende_

Nur eine Woche dauern die Ermittlungen an, dann ist die Lösung schon klar. Kaum zu glauben, wie viel in dieser kurzen Woche in Celle passiert ist. Aber obwohl die Polizei anfangs ziemlich im Dunkeln getappt ist, haben einige glückliche Zufälle dazu geführt, dass beide Kriminalfälle schnell aufgeklärt werden konnten. Andree Hesses dritter Kriminalroman rund um Arno Hennings gefällt gut, muss allerdings einige Abstriche in der B-Note hinnehmen. Hesses Versuche, die Spannung zu steigern, wirken manchmal etwas unbeholfen, dabei hat er es eigentlich kaum nötig, ungeschickte Cliffhanger einzubauen, da sein Plot wirklich gut gefällt. Thematisch und personell punktet Hesse, und auch sein Schreibstil gefällt gut, wobei er hier aber noch nicht mit Mankell gleichziehen kann. Hesses Bücher machen bei der Lektüre schon etwas „Arbeit“ und lesen sich nicht von alleine, wie es mir bei Mankell praktisch immer ergangen ist. Dennoch hat Andree Hesse mit seinem nunmehr dritten Arno-Hennings-Krimi bewiesen, dass er konstant gelungene Romane abliefert – Glückwunsch.

http://www.rowohlt.de/

_Andree Hesse auf |Buchwurm.info|:_
[„Der Judaslohn“ 1213
[„Das andere Blut“ 3044

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