Hill, Joe – Blind

Jude Coyne ist ein Rockstar Anfang fünfzig mit einem makaberen Hobby: Er sammelt morbide und okkulte Gegenstände. Zu seinen Errungenschaften gehören eine Zeichnung des Serienmörders John Wayne Gacy, ein Totenkopf aus dem 16. Jahrhundert, das Sündenbekenntnis einer als Hexe verbrannten Frau, eine Henkersschlinge und sogar ein [Snuff-Film.]http://de.wikipedia.org/wiki/Snuff-Film

Eines Tages erhält sein Assistent Danny den Hinweis auf eine interessante Internetauktion, bei der ein Geist versteigert wird. Jude schlägt zu und erhält für tausend Dollar den Sonntagsanzug des Verstorbenen in einer schwarzen Herzschachtel. Was wie ein schlechter Scherz klingt, entpuppt sich bald als Realität, als Jude den Geist des alten Mannes zu Gesicht bekommt. Es stellt sich heraus, dass der Verkauf kein Zufall war. Der tote Craddock McDermott ist auf grauenhafte Weise mit Judes Vergangenheit verbunden – und er ist hier, um sich für das zu rächen, was Jude seiner Ex-Freundin Anna, Craddocks Stieftochter, angetan hat.

Für den Rockmusiker beginnt ein Horrortrip, in den nicht nur er, sondern auch sein Umfeld miteinbezogen werden und bei dem Craddock nicht mehr der einzige Geist ist, der ihn verfolgt. In seiner Verzweiflung macht er sich gemeinsam mit seiner jungen Gothic-Freundin Georgia und seinen beiden Hunden auf zur Verkäuferin des Geistes, der Tochter des Toten. Dort in Florida hofft er, Antworten zu finden …

Geistergeschichten haben seit Jahrunderten ihren festen Platz in der Horrorliteratur. Umso schwerer ist es da, diesem Aspekt noch eine originelle Seite abzugewinnen. Joe Hill, Pseudonym des Sohnes von Horrormeister Stephen King, erzählt in seinem Debütroman zwar eine typische Geister-Rache-Geschichte, doch dass ein Geist per Internet an sein Opfer gelangt und käuflich erworben wird, ist eine nette Übertragung des Phänomens in die moderne Welt.

|Spannung bis zum Schluss|

Die Handlung geht gleich |in medias res|, ohne sich mit langem Vorgeplänkel aufzuhalten. Schon bald hält der Geist Einzug im Hause Coyne, sorgt für eine unheilvolle Atmosphäre, und Leser wie Hauptfigur ahnen, dass der Kauf keine gute Idee war. Ein Telefongespräch mit der Verkäuferin klärt rasch die persönlichen Hintergründe. Judes depressive Ex-Freundin war die Stieftochter des Verstorbenen, die Verkäuferin die Schwester und für das scheinbare Unrecht, das Jude ihr mit seinem Rausschmiss angetan hat, soll er nun mit seinem Tod büßen.

Auch sein Assistent Danny bekommt bald zu spüren, was es heißt, einem Geist zu begegnen, und spätestens ab diesem Augenblick ist Jude klar, dass er in höchster Gefahr schwebt. Der Leser fragt sich, ob auch Georgia ein Opfer des Geistes werden wird, ob die beiden auf ihrer Flucht Hilfe aus dem Jenseits erhalten, was Jude in Florida von Annas Schwester erfährt, ob diese ihnen helfen wird oder Jude zu drastischen Mitteln greift. Auch eine überraschende Wendung ist enthalten, die plötzlich alle Dinge in einem anderen Licht erscheinen lässt.

|Interessante Charaktere|

Vielschichtigkeit ist ein Stichwort zur Beschreibung der Charaktere. Jude Coyne wächst dem Leser zwar immer mehr ans Herz, doch ein makelloser Held ist er beileibe nicht. Er trägt die typisch verwegene Vergangenheit eines Rockstars mit sich herum, inklusive Drogentrips und den munteren Affären mit halb so alten Gothic-Girls, denen er ihren Heimatstaat als Spitznamen verpasst. Früh erfährt man vom Hass auf seinen sterbenskranken Vater, dem er schon lange den Tod an den Hals gewünscht hat, ebenso von seiner gescheiterten Ehe. Letztlich befremdet auch sein makaberes Hobby, vor allem der Besitz des Snuff-Videos, auch wenn Jude selbst gewisse Skrupel dabei hegt. Der alternde Star ist eine zwiespältige Persönlichkeit und kein moralisches Vorbild, erfährt aber im Verlauf seiner Reise neue Einsichten.

Auch die ehemalige Stripperin Georgia, eigentlich Marybeth, ist anfangs nicht leicht einzuschätzen. Der erste Eindruck entspricht dem einer naiven Bettgefährtin, eines leichenblassen Groupies mit kunstvollem Make-up und oberflächlichen Interessen. Doch als Judes Leben außer Kontrolle gerät, entwickelt sich Georgia zu einer hilfreichen Unterstützung. Sie kennt wenig Furcht und hält zu Jude, auch wenn sie sich damit selber in Gefahr bringt. Auf dem Weg nach Florida machen sie Station bei ihrer Großmutter „Bammy“, einer resoluten und okkult-erfahrenen Frau aus Hillbilly-Kreisen, durch die auch Georgia ein wenig Geister-Kenntnis mitbringt.

|Kleine Schwächen|

Frei von Mankos ist das Debüt dennoch nicht. So lobenswert es auch ist, vielschichtige Charaktere zu erzeugen, so blass bleibt dagegen der Horrorfaktor. Zwar sind die ersten Auftritte von Craddocks Geist durchaus unheimlich, doch danach schwindet die Gruselatmosphäre immer mehr. Dazu trägt auch die ungünstige Beschreibung bei, nach der die Augenpartie der Geister wie mit schwarzem Stift überkritzelt aussieht – ein Effekt, der zweifellos in einem Film besser zur Geltung kommt als in einem Roman. Es fehlt dem Geist an einer geheimnisvollen Aura, die ihn von einem mord- und rachlustigen Psychopathen unterscheidet. Bezeichnend dafür ist, dass eine kleine Nebenepisode mit Bammys Schwester Ruth, die im Kindesalter entführt wurde und nie zurückkehrte, auf wenigen Seiten einen viel intensiveren Schauer auslöst als alle Auftritte mit Craddock McDermott zusammen. Der Roman ist weniger der Horror-Schocker, den der Verlag ankündigt, sondern zeigt eher das Bild eines Mannes auf der Suche nach sich selbst während eines Trips quer durch die USA, vor dem Hintergrund einer Geistergeschichte.

_Unterm Strich_ bleibt ein ordentlicher Debütroman, der nicht allen Lobpreisungen gerecht wird. Vor allem den interessanten Charakteren und dem flüssigen Stil ist zu verdanken, dass „Blind“ ein lesenswerter Geisterroman geworden ist. Der Horrorfaktor dagegen fällt eher gering aus, sodass eingefleischte Schocker-Fans nicht zu hohe Erwartungen haben sollten.

_Der Autor_ Joe Hill, eigentlich Joseph Hillstrom King, ist ein Sohn des bekannten Autorenehepaares Stephen & Tabitha King. 2005 erschien seine Geschichtensammlung „20th Century Ghosts“, die im November 2007 bei |Heyne| unter dem Titel „Black Box“ auf Deutsch veröffentlicht werden soll. Er ist Träger des |Ray Bradbury Fellowship|, wurde bereits zweimal mit dem |Bram Stoker Award| sowie dem |British Fantasy Award|, dem |World Fantasy Award|, dem |A. E. Coppard Price| und dem |William L. Crawford Award| als bester neuer Fantasy-Autor 2006 ausgezeichnet. Erst im Zuge des Verkaufs der Filmrechte von „Blind“, seinem Debütroman, wurde das Pseudonym gelüftet. Joe Hill wurde 1972 in Bangor/Maine
geboren und lebt mit seiner Familie in New Hampshire.

http://www.joehillfiction.com

|Originaltitel: Heart-Shaped Box
Originalverlag: Morrow
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller
Gebundenes Buch, 432 Seiten|
http://www.heyne.de

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