Holdstock, Robert – Bone Forest, The (Mythago Wood 3)

_Die Magie des Waldes und der Geister_

Diese Storysammlung vom Autor des „Mythenwaldes“ (1985) umfasst die Novelle, die „Mythenwald“ vorangeht, sowie eine Reihe von Fantasy-Erzählungen, von denen bislang nur zwei bei uns erschienen sind. Die Geschichten entführen den Leser in jene Zeit, als die Magie der lebenden und wachsenden Dinge noch eine Rolle im Leben der Menschen spielte.

_Der Autor_

Robert Holdstock wurde 1948 in der südostenglischen Grafschaft Kent geboren. Er studierte und machte einen Abschluss in medizinischer Zoologie. Sein erster Roman erschien 1976, woraufhin er sich vollberuflich dem Schreiben widmete. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an |Sword and Sorcery|-Romanen, u. a. mit Angus Wells.

Nach einigen Science-Fiction-Romanen wie „Where time winds blow“ und „Earthwind“ (Erdwind, dt. bei |Goldmann|) gelang ihm der internationale Durchbruch mit dem genialen Fantasyroman „Mythago Wood“ (dt. als „Mythenwald“ bei |Bastei Lübbe|) sowie dessen ebenbürtiger Fortsetzung „Lavondyss“ (dt. „Tallis im Mythenwald“, bei |Bastei Lübbe|).

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts auf. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der dem Kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein dimensionaler Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, der Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; Mythenwald)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. The Bone Forest (1991; Sammlung)
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. [The Gate of Ivory and Bone 1422 (2000)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. Broken Kings (2007)
4. Avilion (2008)

Die zentrale Novelle „The Bone Forest“ der vorliegenden Sammlung erzählt die Vorgeschichte zu „Mythago Wood“. Worum es im Mythenwald-Zyklus geht, erkläre ich anhand der Novelle.

_Die Erzählungen_

1) |The Bone Forest| (Novelle)

Am 4. Januar 1935 findet die Familie des Dozenten George Huxley im Schnee die Spur einer „Schneefrau“, wie sein achtjähriger Sohn Steven sie bezeichnet. Er und sein jüngerer Bruder haben die Gestalt in der Nacht gesehen, aber als sie ihren Vater holten, war sie schon wieder weg. Huxley findet die Spur wieder und folgt ihr mit Steven zum Hühnerstall. Der Stall ist ein Schlachthaus; keine der Hennen lebt mehr. Tatsächlich hat sich jemand aus den zerfetzten Leibern ein Bett gemacht, die Hühnerköpfe zu einer Kette aufgefädelt und diese quer durch den Stall gespannt. Und derjenige hat auch gleich über einem Feuerchen seine Beute gekocht. Huxley, zunächst erschüttert, sagt seiner Familie, dass der Fuchs alle Hühner geholt habe. Denn sie wohnen nahe am Wald von Ryhope, und von dort kommen alle Arten von Wesen. Am Zaun findet Huxley aus Stoff, Knochen und Holz ein kleines Amulett, das er Steven gibt.

Vier Monate später trifft Huxleys Freund Edward Wynne-Jones aus Oxford ein. Er lehrt Menschheitsgeschichte und erforscht Ryhope Wood seit zwei Jahren mit Huxley. Mit einem elektrischen Gerät verstärken sie ihre Fähigkeit, Dinge aus dem Augenwinkel wahrzunehmen. Den Vorschlag, dies auch an dem sensitiven Steven auszuprobieren, lehnt Huxley kategorisch ab und Steven muss zurückbleiben, als die beiden Forscher sich zur einer Exkursion in die Tiefen des Waldes begeben.

Ryhope Wood hat zwei einzigartige Eigenarten. Er verhält sich wie ein lebendiges Wesen und versteht es, durch Verwirrung den Eindringling draußen zu halten. Erst zwei bis drei Zonen konnten die Forscher entdecken. Die zweite, noch wichtigere Eigenschaft ist die Erzeugung von Mythagos, Mythen-Imagos, also Gestalten, die in den meisten Legenden der Menschheit vorkommen, so etwa der Mann, der wie Robin Hood in den Wäldern lebt. Huxley hat Angst vor der Urgestalt des ersten Helden, einer Gestalt, die es vielleicht schon vor der Jungsteinzeit gab: den Urscumug.

Vier Tage später erwacht Huxley aus einer tiefen Bewusstlosigkeit am Ufer eines Baches, geküsst von einem weiblichen Mythago. Von Wynne-Jones keine Spur. Er durchquert das Tal der Wolfsmenschen und erreicht den Pferdeschrein, nur noch eine Zone vom Waldrand entfernt. Hier stößt er auf eine scheue Frau, mit der er sich in Zeichensprache verständigen kann. Sie kennt Huxley, denn sie ist die „Schneefrau“, nennt sich Ash (= Esche) und ist offenbar eine Schamanin. Er zeigt ihr, was er gefunden hat, und sie erschrickt bzw. wird wütend. Bevor sie verschwindet, schenkt sie ihm einen Talisman aus Knochen und Holz.

Auf dem Suche nach dem Rand des Waldes gerät Huxley in eine furchtbare Opferzeremonie, die ihn zutiefst erschüttert. Mehrere Menschen werden auf fliehenden Pferden geopfert, darunter auch in Flammen, und wilde Menschen jagen die Pferde in ein Dickicht, um sie dort zu töten. Eines der fliehenden Pferde berührt Huxley so heftig, dass er stürzt. In diesem Moment muss eine magische Erzeugung stattgefunden haben, hinter der ohne Zweifel Ash steckt. Denn als Huxley nach Hause zurückkehrt – er war viel länger weg als geplant – stößt er in seinem geheimen Tagebuch auf Eintragungen eines Fremden. Dieser Fremde, von dem ihm Steven und seine Frau Jennifer berichten, ist ein graugrüner Mann, der sich rasend schnell wie ein Schatten bewegen kann.

In einer der folgenden Nächte bemerkt Huxley zu seinem Entsetzen, dass der andere mit Jennifer schläft und in ihr eine abgekühlt geglaubte Leidenschaft entfacht. Dies geht sogar so weit, dass in einer weiteren Nacht Huxley seinem Alter Ego, diesem stinkenden animalischen Doppelgänger, im Ehebett Platz machen muss, damit der andere Jennifer nehmen kann. Natürlich muss der „echte“ Huxley seiner Frau alles erklären. Doch das Rätsel muss geklärt werden, wer die Schneefrau Ash ins Leben gerufen hat.

Unauffällig beginnt Huxley seinen Söhnen Steven und Christian hinterherzuspionieren und macht eine überraschende Entdeckung, die ihn vor eine schreckliche Wahl stellt.

|Mein Eindruck|

Ryhope Wood verwirrt den ungebetenen Besucher nicht nur durch sich verändernde Örtlichkeiten in seinem Innern, sondern auch die sich plötzlich verändernde Zeit. Besonders dieser Faktor, von dem Huxley bislang nichts ahnte, erweist sich als verhängnisvoll. Doch um diesen Time-warp-Effekt herbeizuführen, ist ein Agent nötig. In diesem Fall bewirkt Ash, die frühzeitliche Schamanin, den nötigen Wandel. Es kommt zugleich zu einer Aufsplittung von Huxleys Person. Der graugrüne Mann, der sich so schnell bewegt, stellt Huxleys Anima dar (seine Instinkte und Triebe) und stammt aus jener Zeit, als das Pferdeopfer beim Schrein der Pferde vollzogen wurde. Als Huxley seinen Doppelgänger mit Ashs Hilfe besiegt hat und in seine Heimat zurückkehrt, merkt er, dass etwas nicht stimmt. Alles scheint zwar an seinem Ort zu sein, doch kleine Details weichen von dem, was er als Erinnerung gespeichert hat, ab – dies ist nicht ganz seine Heimat. Aber sie muss genügen.

Der Autor übt seine Magie der Orts-, Zeit- und Identitätsverzerrung auf eine leicht verständliche Weise. Würde er sie in einem Science-Fiction-Kontext präsentieren, hätte der Leser jede Menge Probleme, solche Phänomene mit seinem wissenschaftlich-rationalen Weltbild zu vereinbaren. Magie bietet also eine willkommene Abkürzung. Sie ist allerdings kein Selbstzweck und hat ihre eigenen Gesetze. Huxley respektiert die Schamanin Ash ebenso wie deren Magie und wird dafür belohnt. In einer variierten Zeremonie des Pferdeopfers erhält er seinen Freund Wynne-Jones zurück. Der Preis ist nicht gering: Huxley selbst ist verändert.

Ein erzählerischer Kniff erlaubt es dem Autor, uns Huxleys Gedanken sehr nahezubringen: Wir dürfen sein geheimes Tagebuch lesen. Und wir werden so Zeuge, wie Huxley sich in diesem Tagebuch mit seinem Alter Ego auseinandersetzt, das hier ebenfalls Einträge macht. Spannend ist daher die Frage, welche Version die Oberhand behalten wird. Diese häuslichen Szenen wechseln sich mit insgesamt zwei Exkursionen ab, die sehr detailliert geschildert werden. Wer von archaischen Ritualen abgestoßen ist, der kann mit solchen Szenen wenig anfangen, doch wem Jean Auels [„Kinder der Erde“ 2069 gefiel, wird sich sofort zurechtfinden.

2) |Thorn| (1986)

Thomas Wyatt lebt in der Zeit der Gotik, als überall in England große Kathedralen gebaut wurden und die freien Steinmetze und Maurer überall im Land umherzogen, um ihre Arbeit zu verrichten. Eine solche Freimaurergilde ist in Thomas‘ Dorf gekommen, um auf dem Tanzhügel über dem Dorf eine Steinkirche anstelle der alten Holzkirche zu errichten. Der Priester hat jedoch darum gebeten, dass aus jeder Zunft auch ein Mann aus der Gegend bei der Arbeit an der Kirche beschäftigt werde, und so kam Thomas als Steinmetz zu seinem Job. Er ist froh darüber, denn mit seiner kinderlosen Frau Beth lebt er mehr schlecht als recht in seiner Hütte, und Thomas ist immerhin schon betagte 30 Jahre alt.

Eines Nachts wird er von einem Mädchen, das sich in der alten Sprache des Landes Anuth nennt, zu einem Ort am Fluss geführt, wo sich ihm der Herr des Waldes offenbart, ein Wesen aus Holz, dessen Kopf mit Dornen umrankt ist, weshalb er den Namen Thorn trägt. Thorn gibt Thomas den Auftrag, seinen Kopf, den er meißeln werde, in einer Mauernische der neuen Kirche zu verstecken. Überwältigt von der Präsenz und Autorität des alten Gottes, willigt der Steinmetz ein.

Wieder einmal ist Thomas heimlich bei dieser heidnischen Arbeit, als der junge Simon Miller ihn besucht und sich zufrieden über den Fortgang von Thomas‘ Arbeit äußert. „Alle im Dorf reden heimlich darüber“, meint Simon, und dass Thomas ein Held sei. Als Simon weg ist, grübelt der entsetzte Steinmetz darüber nach. Was er hier tut, ist Frevel gegen die offizielle Religion, und der angelsächsische Ritter im nahen Schloss kann ihn dafür hängen lassen. Aber als sogar der Priester selbst heimlich Thomas‘ Thorn-Kopf bewundert, ist Thomas völlig verwirrt. Was wird hier eigentlich gespielt? Ist er ein ahnungsloser Trottel, der in eine Falle läuft?

Doch als sich Thomas weigert, an Thorns Kopf weiterzuarbeiten, kippt er ohne sein Wissen einen geheimen Pakt, bei dem der Fruchtbarkeitsgott seiner Frau Beth ein Kind geschenkt hätte. Vor Eifersucht rasend zerstört Thomas sein Werk und führt damit seine eigene Vernichtung herbei …

|Mein Eindruck|

Nicht umsonst heißt die Hauptfigur der Geschichte Thomas, und das ist bekanntlich eine biblische Figur: Thomas, der Zweifler, der ungläubige Thomas. Es geht um den Glauben an die alten Götter des Landes, die Götter der Kelten und noch davor. Dass draußen in den Wäldern Englands noch um das Jahr 1000 oder 1100 herum heidnische Götter verehrt worden seien, ist eine Erfindung des Autors, aber es gab eine Zeit, in der sich der christliche Glaube auch in England erst einmal gegen den der „Heiden“ durchsetzen musste.

Was wäre, wenn die alten Götter einen Weg gefunden hätten, sich mit Hilfe lokaler Zunftangehöriger auch in den christlichen Kirchen zu verbreiten? Die entscheidende Frage für ihren Erfolg wäre, was sie den Bewohnern bieten, das der lichte Jesus nicht bietet? Es ist in dieser Geschichte das Geschenk der Fruchtbarkeit. Doch jedes Geschenk hat seinen Preis. Und Thomas, vom Glauben abgefallen, wendet sich nichts ahnend gegen die alten Götter und vereitelt so die Übergabe des Geschenks an seine Frau.

3) |The Shapechanger| (1989)

Mittelengland im Jahr 731 AD. Der Schamane Wolfskopf ist mit seinem zehn Jahre alten Schreiber Tintenkleckser in das Lager von Gilla gekommen, um aus dessen etwas entfernt liegendem Dorf einen Daemon zu vertreiben. Gilla berichtet, der Daemon habe angefangen, sein Unwesen zu treiben, nachdem Gillas zwei Söhne im Übermut eines Sieges ihren Namen auf die Steine des Dorfbrunnens geritzt hätten. Da seien auf einmal seltsame Dinge erschienen und die Häuser hätten sich über Nacht verändert. Also musste das Dorf vor 25 Tagen in Sicherheit ziehen.

Angetan mit magischem Schutz, wagt sich Wolfskopf ein erstes Mal in das Geisterdorf. Reiter auf riesigen Pferden erscheinen aus dem Nichts und trampeln den vorwitzigen Magier fast in Grund und Boden. Er kann nicht einmal bis zur Quelle des Übels, dem Brunnen, vordringen und muss umkehren.

Unterdessen hat sein unzufriedener Lehr- und Schreiberling Bekanntschaft mit einem Hund geschlossen, der sich sehr seltsam verhält. Geisterhaft erscheinen ein riesiger Jagdhund und sein Herr aus dem Nebel und verschwinden im Nichts. Der Junge weiß, dass dieser große Jagdhund Cunhaval war, aus der Anderwelt. Das bringt ihn auf eine dumme Idee. Als der Dorfhund stirbt, macht sich der Junge aus dessen Gesichtsfell, etwas Holz und Efeu eine Reisemaske, mit der er in die Geisterwelt reisen kann – ein alter Trick des Schamanen, der zehn Stück solcher Masken für die Geistreise bei sich hat.

Auch er erblickt die angreifenden Ritter, kann sich aber in Sicherheit bringen und gelangt zum Brunnen. Die Söhne Gillas sind mittlerweile in die Steine eingebettet. Doch der Junge sieht noch mehr: arthurische Ritter vor einem prächtigen Schloss, das sich auf einer Insel in einem See erhebt. Die Ritter sind ganz in strahlendes Silber gerüstet, und ihren Fahnen und Wappen leuchten prächtig in der Brise. Da hört der Junge eine jammernde Stimme: „Bringt mir meinen Hund, ich will meinen Hund.“ Es ist die Stimme eines kleinen Jungen, der einsam und verloren klingt, als habe man ihn eingesperrt. Im Geist eines Hundes tappt der Schreiberling durch weiße Gänge, um der Stimme zu folgen …

… da wird ihm die Maske von seinem Herrn heruntergerissen. Der Junge muss erzählen, was er Schreckliches und Wunderbares gesehen hat, oder es bringt ihn um. Wolfskopf scheint zufrieden zu sein und gibt ihm endlich etwas zu essen. Von diesen arthurischen Kriegern hat er schon gehört, aber das war vor Jahrhunderten, und es gab viele Artors und so. Dann macht er sich mit ihm auf den Weg ins Geisterdorf, um der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Er erlebt eine Überraschung, denn plötzlich wendet sich sein Lehrling gegen ihn, um den Daemon zu schützen. Es sei nur ein kleiner Junge in einem Ort namens Gillingham, der aus einem Buch lese, das von Rittern und Burgen handle, wer weiß wo, und Wolfskopf dürfe dem Jungen nichts tun. Verwundert wartet Wolfskopf ab, was passiert. Mit der Hundemaske auf dem Gesicht verwandelt sich sein Lehrling wieder in einen Hund – und verschwindet durch eine Wand in die Zukunft – wo ein eingesperrter Junge schon sehnsüchtig auf ihn wartet.

|Mein Eindruck|

Die meisten Geschichten gestalten diese Verbindung zwischen Gegenwart und legendenhafter Vergangenheit in umgekehrter Richtung, doch der Autor hat ein so tiefgehendes Verständnis der alten Kulturen Englands, dass er in der Lage ist, einen Schamanen und seinen Lehrling einen Blick in unsere Gegenwart, ihre Zukunft werfen zu lassen.

Wolfskopf ist eine bemerkenswerte Gestalt. Er scheint durch die Jahrhunderte und Jahrtausende gewandert zu sein, von Babylon bis nach London und weiter nach Norden, wo die Wikinger das Land erobern wollen. Im Jahr 731 sind die Invasionen der Sachsen, Angeln und Jüten abgeschlossen, ihre Eroberungen sind Grafschaften wie Essex, Kent, Sussex und East Anglia geworden. Nun versuchen die Wikinger aus Norwegen, es ihnen gleichzutun.

Doch wer wehrt sie ab? Leute wie Artor gibt es nicht mehr, obwohl sie sicher sehr wünschenswert wären. Die Realität, die Wolfskopf kennt, ist sehr viel trister: keine Ritter in schimmernder Rüstung. Die Legenden aus den Büchern, die wir kennen, hat es nie gegeben. Der Einfall, solch einen träumenden Jungen damit zu konfrontieren, was wirklich im Jahr 731 geschah, entbehrt nicht einer gewissen kritischen Ironie.

4) |The Boy who jumped the Rapids| (1984)

Das Dorf des Jungen Caylen liegt zwischen tiefen Wäldern, durch die keine Straße führt. Wege gibt es nur auf den Hügelgraten. Dennoch schafft es ein fremder Mann, sich seinen Weg zum Dorf von Caylens Vater, Häuptling Caswallon, zu bahnen. Der Fremde ist offenbar auf der Flucht vor Verfolgern, abgerissen, unbewaffnet und hungrig, als er um Hilfe bittet. Caswallon gewährt sie ihm. Der Fremde hat etwas Wertvolles bei sich: einen Speer, der mit Runen bedeckt ist. Hierfür errichtet er auf einer Lichtung am nahen Fluss einen Schrein.

Als Caylen und sein Freund Fergus diesen Schrein betreten und den Speer begutachten, der offenbar entweder für einen Prinzen oder ein Kind gemacht wurde, erzählt ihnen der Fremde seine Geschichte. In dem Speer sei die Seele einer wunderschönen Prinzessin namens Rianna gefangen. Sie sei die letzte Hoffnung ihres Volkes gewesen, und er, der Fremde, habe sie im Auftrag eines königlichen Eroberers getötet. Doch ihr Beschützer, der magische Kräfte hatte, versetzte ihre Seele in den Speer. Den Schrein habe er für das Andenken an Rianna errichtet, denn er wolle die Hoffnung ihres Volkes nicht begraben.

Als die schwer bewaffneten Verfolger des Fremden eintreffen, zeigt ihnen Caswallon den Weg zum Schrein. Cayden, Fergus und der Fremde fliehen zum Fluss, doch der Fremde verstaucht sich den Fuß und wird zu langsam. Er übergibt Cayden den Speer, der ihn gerne entgegennimmt, um mit ihm und Riannas Andenken ein neues Volk zu gründen. Doch als Cayden im Gegensatz zu allen anderen Angehörigen des Dorfes und anders als die Fremden die Stromschnellen überqueren kann, durchkreuzt sein Freund Fergus seine Pläne. Cayden muss eine harte Lektion über Geschichten lernen.

|Mein Eindruck|

Cayden ist durch seine Fähigkeit, durch Illusionen hindurchzuschauen, ein Außenseiter, und der Dorfdruide hat seinen Tod beschlossen. Cayden hat keine Zukunft außer an einem anderen Ort. Er lässt sich nicht von Totems schrecken oder von wilden Ebern. Solchen Aberglauben hat er hinter sich gelassen. Aber die Geschichte des Fremden, die dieser durch eine Geistmaske vorträgt, bewegt Cayden durch die Macht ihrer Bilder: eine verfolgte Prinzessin, ihr machtvolles Symbol als Vermächtnis – wer könnte diesem Zauber widerstehen?

Cayden muss auf die harte Tour lernen, dass auch diese wunderbare Verbindung der Geschichte mit dem Speer nur eine Illusion ist, die einem Gegenstand verliehen wurde – und dass das eine nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hat. Die Geschichte kann auch ohne das zugehörige Symbol weiterbestehen. Durch die Übergabe des Speers an die Verfolger des getöteten Fremden gibt er nichts auf, doch er gewinnt das Vertrauen seines Freundes und erhält dessen Freundschaft aufrecht. Dass Fergus nun ebenfalls ein Ausgestoßener ist, begreift Cayden sofort, aber Fergus setzte Caydens Ruf, übernatürliche Kräfte zu haben, aufs Spiel. Für alles gibt es einen Preis, begreift Cayden. Aber man muss herausfinden, welcher Preis der richtige ist.

Die Geschichte, ebenfalls über einen Jungen in einer primitiven Kultur, ist nicht so lebhaft und bilderreich erzählt wie die über den Gestaltwandler. Aber sie ist anschaulich und führt die Geschichte aus den zwei grundlegenden Konflikten Caydens und des Fremden zusammen und von da ab zu einer Krise, deren Spannung gelöst werden muss. Wir können Verständnis und Mitgefühl für Cayden aufbringen. Der einzige Punkt, der nicht erklärt wird, ist der Sinneswandel des Fremden. Wenn er Rianna tötete, warum will er dann ihr Andenken in Gestalt des Speers bewahren? Um der Hoffnung ihres Volkes willen?

5) |Time of the Tree| (1989)

Ein Forscher, der namenlose Ich-Erzähler, ist aus Versehen Opfer eines Unfalls geworden. Er hat sich in der Kühlkammer seines Labor eingeschlossen. Bis man ihn fand, war er schon fast erfroren. Während er auftaut, halluziniert er (so meine Deutung), sein Körper sei eine Art Kontinent und werde von der Vegetation des Waldes besiedelt. In seinem Nabel schwimme als See der Omphalos. Dort würden die ersten wilden Stämme den Wald zu fällen beginnen. All diese Vorgänge kann der Ich-Erzähler durch sein Fernglas beobachten, denn die Bäume und erst recht die Menschen sind winzig klein, so als wäre er [Gulliver 1076 und sie die Liliputaner.

Es kommt zu Stammeskriegen, zur Erbauung Stonehenges und zu rituellen Opferungen im Omphalos-See. Ein junges Mädchen wird erschlagen und stürzt in die Tiefe des Sees. Ihr Geist geht über in die Unterwelt, so dass der Gott ihrer Welt mit ihr kommunizieren kann. Er schickt ihr das Wissen, wie man aus Stein Metall gewinnen kann, dann lässt er ihren Geist wieder in die Außenwelt: durch den Mannhügel, der seinem Penis entspricht. Der Erguss spült sie wieder in die Welt ihres Stammes, dem sie von der Hölle berichtet – und von Metall.

Doch dann beginnt das Jucken und Brennen, und er muss sich kratzen. Er entfernt die besonders harten Ekzeme und Verhärtungen, die aus den Städten bestehen. Als er wieder sauber ist und sich gut fühlt, lässt er die Evolution wieder von vorne beginnen.

|Mein Eindruck|

Diesen Text eine Geschichte zu nennen, wäre schon recht gewagt. Obwohl etwas geschieht und man von einer Handlung sprechen könnte, so fehlen doch alle Zutaten wie etwa Figuren, um sie unterhaltsam zu machen. Darüber hinaus ist die Erde hier nicht weiblich, sondern ein männlicher Gott, der sich ausschließlich für den Wald und seine Bewohner zuständig fühlt. Das Weltbild ist also ziemlich eingegrenzt. Wir werden Zeuge des Lebens eines Gottes. Im Einklang mit oben stehender Story könnten wir ihn „Thorn“ nennen.

6) |Magic Man| (1976)

Einauge ist der Höhlenmaler des Bisonjägerstammes, und alles, was er malt, tritt auch ein. Das ist seine Magie. Nur der Häuptling Roter Speer nervt den alten Mann, weil er nicht das bekommt, was er sich wünscht. Eines Tages bekommt Einauge Besuch vom kleinen Häuptlingssohn. Er will auch malen, hat genug vom Speereschnitzen. Zuerst verbietet ihm Einauge das Höhlenmalen, besonders als der Kleine unbedingt einen Bären zeichnen will – das ist ein mächtiges Tier, das Menschen tötet, also tabu. Der Lehrling darf nur harmlose Beutetiere malen. Aber ungehorsam, wie er nun mal ist, malt er einen Jäger daneben. Entsetzt will Einauge das Bild auswischen, doch das gelingt ihm nur bei einem Arm. Am nächsten Tag ist dieser Einarmige tot, aber die anderen haben einen Bison erlegt. Keiner freut sich. Wieder droht Roter Speer Einauge.

Einauge beschließt, den Speer umzudrehen und durch seine Magie den Häuptling zu töten. Allerdings macht er den Fehler, zu früh schlafen zu gehen und sich am Morgen den Jägern anzuschließen. Der Lehrling hat diese beiden Gelegenheiten genutzt, um seine eigenen Vorstellungen von der Jagd dieses Tages an die Wand zu malen. Die Jagd endet für Einauge und den Häuptling in einem Fiasko. Denn der Lehrling hat noch nie in seinem jungen Leben einen echten Bären gesehen …

|Mein Eindruck|

Es ist anfangs eine einfühlsame Zauberlehrlingsgeschichte mit vielen schönen Details, für die der Autor bekannt ist. Der Leser fühlt sich in Annauds Film „Am Anfang war das Feuer“ zurückversetzt. Doch auf der finalen Jagd passieren unheimliche und dramatische Dinge. Nicht nur geraten Einauge & Co. im Nebel mitten in die Bisonherde, sondern es schleichen auch noch schattenhafte menschliche Gestalten herum. Bei diesen Humanoiden mit einer hohen Stirn könnte es sich um Cro-Magnon-Menschen handeln oder um andere während der Eiszeit eingewanderte Stämme. Sie verdrängten, so eine Theorie, den Neanderthaler-Menschen, der mehrere zehntausend Jahre lang Europa besiedelt hatte.

Das dritte Thema ist natürlich der Zusammenhang zwischen Mensch, Natur (Tiere, Beute, Jäger) und der Magie, die sie verbindet. Dass Magie funktioniert, scheint vielleicht nur Einauge so. Dass man aber auch noch bzw. wieder an Magie glaubt, ist relevanter, denn die Beziehung zwischen Mensch und Natur gibt es ja weiterhin. Was Einauge hierüber denkt, lässt sich ohne weiteres auf unser (Miss-)Verhältnis zur Natur übertragen. Er kritisiert die Missachtung der Tiere, die doch wie die Menschen eine Seele und ein Recht auf Leben hätten. Doch Jäger wie Roter Speere sehen das ganz anders. Für sie ist die Natur nur Fleischlieferant, ein Diener, ein Sklave des Menschen, nicht umgekehrt. Darüber lohnt es sich nachzudenken.

HINWEIS: Diese Erzählung erschien unter dem Titel „Der neue Magier“ im |Heyne Science Fiction Magazin| Nr. 5 auf den Seiten 90 bis 109. Die Übersetzung erledigte Hans Maeter und Olga Rinne trug zwei Illustrationen bei.

7) |Scarrowfell| (1987)

Das junge Mädchen Ginny (= Virginia) hat seine Eltern bei einem Brand verloren und lebt seit Jahren bei seiner Ziehmutter in einem der Häuschen im Dorf Scarrowfell, irgendwo im nördlichen Bergland. In letzter Zeit hat Ginny schreckliche Albträume von drei blinden Männern, die um sie freien. Ihre Mutter tröstet sie dann immer.

Nicht so heute, am Tag des Festes des Herrn. Ginny kann es nicht fassen: Sie hat 15 Stunden durchgeschlafen! Warum hat ihre Mutter sie nicht geweckt? Jetzt hat sie den Einzug der Moriskentänzer verpasst. Und wo sind überhaupt ihre Spielgefährten Kevin und Mick? Sie findet Kevin in der Pfarrkirche, darf aber während des Gottesdienstes nicht mit ihm reden. Mr. Box, der Gastwirt, schickt Ginny hinaus, wo auch niemand mit ihr reden will. Was ist hier bloß los?

Auf dem Platz ist ein riesiger Holzstoß für das Freudenfeuer errichtet worden. Bevor dieses entzündet wird, haben alle ihren Spaß, tanzen und die Moriskentänzer und ihre Begleiter singen zotige Lieder – auf Ginnys Kosten. In einem unbeobachteten Moment gelingt es Ginny, Mr. Box zu sprechen und ihm ein paar Antworten zu entlocken. Heute komme ein großer Krieger zurück, ein Mann namens Cyric, und das sei eine große Ehre. Doch Ginnys Mutter kommt und haut ihm eine runter, weil er Ginny das verraten hat.

Die Mutter erwischt die geflohene Ginny auf dem Friedhof und bringt sie zu jenem eisernen Tor, wo abends um zehn die heilige Zeremonie zu Ehren von Herrn Cyric beginnt. Das Freudenfeuer wurde bereits entzündet. Jetzt wird Ginny endlich klar, warum sie den ganzen Tag geschnitten wurde: Sie ist die Auserwählte! Das Tor öffnet sich und offenbart eine Reihe sich bewegender Schatten.

Der Priester begrüßt Cyric, den größten der Schatten, um ihn einzuladen. Er dankt ihm für den Schutz, den er dem Dorf Scarrowfell seit eintausendfünfhundert Jahren gewährt habe. Und nun soll ihm etwas zurückgegeben werden. Ginny übergibt nicht nur einen Hasen als Opfer, sondern auch sich selbst – als Gefäß für den Geist des Cyric, damit sie in menschlicher Gestalt unter ihnen wandeln können. Ginny ist aus der Linie Cyrics, versichert ihre Mutter. Als der Geist Cyrics sie ganz erfüllt, rezitiert Ginny-Cyric das Glaubensbekenntnis der Leute von Scarrowfell:

Vater unser, der du bist im Walde,
Der Gehörnte sei Dein Name,
Dein Königreich ist im Walde, Dein Wille ist im Blut
Auf der Lichtung wie auch im Dorf.
Unseren Kuss der Erde gib uns heute
Und vergib uns unsre Missetaten.
Zerstöre jene, die uns Übles tun
Und führe uns in die Anderwelt.
Denn Dein ist das Königreich des Schattens,
Dein ist die Macht und die Herrlichkeit.
Du bist der Hirsch, der mit uns freit,
und wir sind die Erde unter deinen Füßen.
Drocha Nemeton–

|Mein Eindruck|

Diese Zeremonie findet nicht etwa, wie zu erwarten, irgendwann im Mittelalter statt, sondern in der Gegenwart, vielleicht in den 60er oder 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Prämisse des Autors, dass solch eine Zeremonie, mit all ihren heidnischen Elementen, in den abgeschiedenen Bereichen seines Landes stattfinden könnte, ist schon ziemlich provokativ. Dass aber die Verehrung älterer Gottheiten als des Weißen Jesus für die Menschen in Scarrowfell notwendiger und nützlicher ist, das ist für Christen eine Herausforderung. Dabei braucht man heute nur einmal Cyric durch Allah oder Buddha zu ersetzen und man sieht sich sofort in ein Problem der religiösen Toleranz verwickelt.

Wie auch immer man dazu steht: Diese Erzählung ist für mich neben „Bone Forest“ die schönste und am anschaulichsten geschilderte des Bandes. Sie ist zunächst unschuldig und humorvoll, dann rätselhaft und unheilvoll, um schließlich mit einem positiven Wunder aufzuwarten. Was der Autor nicht über den Ort schreibt, kann man sich leicht hinzudenken und seine Phantasie spielen lassen. Wer genau liest, wird die Touristen in Jeans und Anoraks bemerken, die neben den Moriskentänzern (die es überall in England gibt; ich habe sie selbst erlebt) recht kurios aussehen müssen.

8) |The Time Beyond Age| (1976)

Die Biologen um Dr. Raymond McCreedy haben Geld für ein einzigartiges Experiment bekommen. Sie wollen herausfinden, ob a) Menschen über 100 Jahre alt werden können, b) wie alt sie überhaupt werden können und c) ob sich sich dadurch signifikant verändern. McCreedy glaubt an übernatürliche Dinge wie die Seele. Das finden manche seiner Kollegen unangemessen.

Zunächst läuft alles gut. Yvonne und Martin werden in einer künstlichen Gebärmutter gezeugt, ausgebrütet und geboren. Sie sind ganz normale Kinder, bis auf die Tatsache, dass sie durch die Sterilisierung ihrer Umgebung nicht krank werden und durch Zugabe von bestimmten Chemikalien an einem Tag biologisch um einen Monat altern. Sie leben also dreißigmal schneller als ihre Beobachter, und zwar in einer künstlichen Umgebung, an die sie durch Hypnose angepasst werden. Auch ihre sozialen Kontakte sind allesamt solche künstlich induzierten „Geister“.

Wir sehen alles aus dem Blickwinkel von Dr. Lipman. Er verliebt sich in die elfjährige Yvonne und macht sich durch Hypnose zu einem ihrer Liebhaber. Zunächst schaut er gespannt zu, wie sie seinen „Geist“ liebt, doch dann ist ihm das alles nur noch peinlich. Zum Glück kommt ihm keiner auf die Schliche. Martin hingegen hasst er: seine Jugend, seine Liebe zu Yvonne, seinen Sex mit Yvonne, einfach alles. Aber auch dies hat keine Folgen.

Dr. Josephine Greystone ist eine junge Kollegin Lipmans, die sich besonders gegen McCreedys „Lebensplan“-Vorgaben ausspricht. Sie findet, dass beim Experiment etwas völlig Falsches beobachtet wird. Statt sich auf die Biofunktionen der zwei Subjekte zu beschränken, sollte man ihrer Meinung nach ihre Träume untersuchen, also das, was sie zu Menschen macht. Sie verlässt das Team vorzeitig, als Yvonne und Martin mit der Überschreitung ihres hundertsten Lebensjahres McCreedy einen Medientriumph verschaffen.

Als Yvonne und Martin noch älter werden (aber niemals krank), verändern sie sich natürlich, doch als die das 200. Lebensjahr überschreiten, wird ihre Veränderung grotesk. Ihre Köpfe vergrößern sich (nicht aber ihre Gehirne) und ihre Augen verkleinern sich entsprechend. Yvonne wird fett und unförmig, wohingegen Martin hager wird. Wie so häufig sitzt Martin unter der Eiche und brütet vor sich hin. Plötzlich spricht er einige Sätze japanisch, bevor er sich zu Yvonne begibt, um mit ihr Sex zu haben. Die letzten Stunden der beiden beginnen … Dr. Lipman sieht ein, dass Josephine von Anfang an Recht hatte. Er kann McCreedys Wahnsinn nicht ausstehen.

|Mein Eindruck|

Diese frühe Science-Fiction-Story Holdstocks bringt ein ethisches Problem der empirischen (an experimentell gewonnenen Daten interessierten) Wissenschaft auf den Punkt: Um möglichst „objektiv“ über die „Subjekte“ berichten und urteilen zu können, darf sich der Beobachter und Forscher nicht auf eine Interaktion mit ihnen einlassen. Das wäre eine andere Disziplin, etwa Psychologie und Ethologie.

Gleichzeitig aber nimmt der Forscher eine bedeutende Änderung am Menschsein der Subjekte vor: Er beschleunigt und verlängert ihr Leben über das gewohnte Maß hinaus. Wäre dies nicht ein Grund, sich auch mit den sich daraus ergebenden Änderungen ihres Verhaltens auseinanderzusetzen? Lipman will es so scheinen. Er bringt es auf den Punkt: Sein Team hat nur die Symptome des Lebens erforscht, aber nicht das Leben selbst. Demnach ist das Experiment als gescheitert zu betrachten. McCreedy wühlt sogar noch in den ekligen Überresten seiner zwei „Subjekte“, um auf das Gesuchte (die Seele?) zu stoßen.

Die lange Erzählung ist in der für Wissenschaftler typischen unanschaulichen, mit abstrakten Begriffen gespickten Sprache erzählt. Da kaum etwas passiert, ist sie obendrein ziemlich langweilig. Kein Wunder, dass sie in den internationalen Anthologien kaum jemals zu finden ist.

Diese Geschichte wurde von |Heyne| bislang zweimal abgedruckt: in Nr. 06/4000 („25 Jahre HSF, Das Lesebuch“) und vorher in Nr. 06/3860 („SF Story Reader 17“) unter dem Titel „Die Zeit jenseits des Alters. Eine Exkursion“.

_Gesamteindruck_

Man würde es sich zu einfach machen, wollte man den Autor Robert Holdstock nur als Träumer abstempeln, der nur über den Wald, dessen Magie und Geister erzählen könne. Wald und Geister sind nie Selbstzweck, sondern werden immer in Beziehung beschrieben. Der Wald ist Lebensraum wie für Caswallons Dorf oder ein Erzeuger von mythischen Gestalten (Ryhope Wood).

Dass der Wald mit Magie in Verbindung gebracht wird, ist nur eine Methode der jeweils betroffenen Be- und Anwohner (die Huxley-Familie), sich selbst und ihr (Er-)Leben in Beziehung zum Wald zu setzen. Wenn der Wald als lebendiges Wesen mit Macht betrachtet wird, dann kann er genauso gut die Gestalt eines Gottes annehmen. Denn mit einem Gott konnten Menschen schon immer besser interagieren als mit dem anonymen Ding an sich. Ein Gott verlangt Verehrung und Opfer für das, was er Gutes tut, und bestraft, wenn ihm beides versagt wird. Die Unfruchtbarkeit von Thomas Wyatts Frau – woher rührt sie? Wie lässt sie sich beenden?

Ryhope Wood besitzt im Gegensatz zu Thorn und Cyric, dem gehörnten Wald- und Schutzgott, nicht göttliche Attribute, aber seine Fähigkeiten stehen denen eines Gottes in nichts nach. Dieser „Mythenwald“ ist schöpferisch tätig, in seinen Zonen entstehen die ersten Menschen, die sich von Tieren noch kaum unterscheiden, und die ersten Helden. Schamanen sind in Ryhope Wood in der Lage, bestimmte Wesen ins Leben zu rufen, um wiederum einen bestimmten Interaktionszauber zu vollbringen – George Huxley spaltet sich auf diese Weise in zwei konkurrierende Wesen.

Robert Holdstock ist der Autor, der John Boormans Film „Der Smaragdwald“ in die Form eines Romans gießen konnte – die Geschichte eines weißen Jungen, der im südamerikanischen Urwald von Indios aufgezogen wird und fortan die Welt inner- wie auch außerhalb des Waldes in den Begriffen seiner animistischen Welt-Anschauung interpretiert. Wenn er seinen Vater findet und dessen Totemtier beschwört, so sieht er einen Jaguar, und wie ein Raubtier verhält sich der Ingenieur, wenn er durch einen Staudamm die Vernichtung des Urwaldes herbeiführt. Um diese falsche Beziehung zu korrigieren, sind Mächte zu beschwören, die der Junge als Magie bezeichnen würde. Es ist nur eine Methode, die Welt zu beeinflussen, die animistische Variante der Technik.

Man mag die Magie belächeln, weil sie statt Rädchen und Hebeln nur Knochen, Holz, Haar und Stoff benutzt, aber auf diesen Unterschied kommt es nicht an, sondern der Glaube zählt. Wer könnte von sich behaupten, genau sagen zu können, welche Bauteile in seinem Automotor für welches Verhalten des Motors und des Autos verantwortlich sind? Man muss nicht verstehen können, wie ein Motor ein Autor bewegt, solange man nur daran glaubt, dass zwischen Motor und Auto eine Beziehung besteht, die das Auto zum Fahren tauglich macht.

Dass auch Sprache ein Teil der Magie ist, mutet uns heute schon als postmoderne Idee an. Tatsächlich war diese Idee aber schon den Rhetorikern und Demagogen des alten Athen bekannt und davor sicherlich den Schamanen und Priestern. Dass Sprache nicht unbedingt Bestandteil eines Gegenstandes sein muss, belegt ein Blick auf eine Marienstatue. Steht die Statue in einer Kirche, wird sie verehrt und ermahnt die Frommen an einen Schutzgeist. Steht die gleiche Statue hingegen in einem leeren Museum, ist sie nur ein Kunstgegenstand, ihrer sakralen Bedeutung völlig einkleidet. Theoretisch könnte man dennoch ein Avemaria zu ihr sprechen. Im Museum klingt dieser Sprechakt jedoch nicht nur deplatziert, sondern sogar anstößig. Man braucht es nur einmal zu versuchen und schon kommen die Wärter herbeigeeilt …

_Unterm Strich_

Man muss nicht unbedingt auf Geschichten von Wäldern à la Tolkien stehen, um auch Holdstocks Waldromanen ihren Reiz abzugewinnen. Es reicht schon, sich für die Wirklichkeit jenseits unserer fünf Sinne zu interessieren, für jenen Ort, von wo unsere Träume kommen. In Holdstocks Geschichten kommen kaum jemals Zauberer vor, geschweige denn Zauberlehrlinge, und wenn doch, dann sind sie etwas ganz anderes als Harry Schotter und Artemis Fowl. Tintenkleckser, der Lehrling Wolfskopfs, tut zwar Gutes durch seine Magie (er bastelt eine Maske für die Geistsicht), aber er ist alles andere als ein Held. Aber er befreit den Daemon (der nicht automatisch böse ist, nur weil er solcher bezeichnet wird): ebenfalls einen kleinen Jungen.

Ich fand die Geschichten mit den Kindern – es sind mindestens vier oder fünf – als die interessantesten in dieser Sammlung. Und sie lassen sich auch am leichtesten lesen und verstehen. Yvonne und Martin in der Science-Fiction-Geschichte „Die Zeit jenseits des Alters. Eine Exkursion“ sind zunächst ebenfalls Kinder und Jugendliche. Wir lieben sie sofort aufgrund ihrer Lebendigkeit und Unerschrockenheit. Aber nie verschweigt der Autor, dass Kindheit und Jugend enden müssen, so wie die Unschuld immer nach Erfahrung strebt und dieser schließlich weichen muss. Holdstock schreibt keine Eiapopeia-Geschichten, sondern lässt die hellen Seiten immer nur vor einem dunklen Hintergrund aufscheinen.

Die tiefste und dunkelste Geschichte ist in diesem Hinblick die titelgebende Novelle. Der Doppelgänger Huxleys ist auf Befriedigung seiner animalischen Bedürfnisse aus, unter anderem auf Sex – mit Huxleys Frau, versteht sich. Dieser Doppelgänger ist mit einem Tier- und Menschenopfer verbunden. Aber die Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Schamanin Ash entsprang nicht dem Wald an sich oder Huxleys Hirn wie Athene dem Kopf von Zeus, sondern der träumenden Phantasie eines Kindes, der von Steven Huxley, der eine alte Kindergeschichte verarbeitete. Nehmt euch also in Acht vor den Träumen eurer Kinder – sie können euer Verhängnis werden. Und wenn man sich die diversen Schulmassaker und Amokläufe ansieht, dann findet dies bereits im Hier und Jetzt statt.