Robert Holdstock – Tallis im Mythenwald / Lavondyss (Ryhope Wood Zyklus 2)

Ins Vogelgeistland: die Verwandlung der Seele

Holdstock hatte mit seinem Roman „Mythenwald“ 1984 den World Fantasy Award gewonnen. Offensichtlich versuchte er mit „Lavondyss“, an diesen Erfolg anzuknüpfen, wie uns der deutsche Verlag Bastei-Lübbe durch den deutschen Buchtitel „Tallis im Mythenwald“ suggerieren will. Dies ist der zweite Band in seiner Reihe über den geheimnisvollen Ryhope-Forst.

Wenn man berücksichtigt, dass fast alle nachfolgenden Romane in einem Mythago-Wald spielen, dann erkennt man, dass „Mythenwald“ einen konzeptionellen Durchbruch für Holdstock bedeutete. Es wäre ein Wunder, wenn der Erzähler dieses Neuland nicht weiter erkundet hätte. Später folgten daher noch „The Hollowing“ (Band 3), „Gate of Horn, Gate of Ivory“ (Band 4), „The Bone Forest“ (das Prequel) – siehe auch das Werksverzeichnis unten.

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an Sword and Sorcery-Romanen, u. a. mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts im Roman „Mythago Wood“ auf, für den der Autor den |World Fantasy Award| erhielt. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der dem kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; [Mythenwald, 4139 World Fantasy Award!)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. [The Bone Forest 4088 (1991; Sammlung)
4. [The Hollowing 4161 (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. [Gate of Ivory 1422 (2000)
8. Avilion (2008)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. The Broken Kings (2007)

Handlung

Als Tallis Keeton vier Jahre alt war, weckte sie ihr Stiefbruder Harry und küsste sie. „Ich muss gehen“, sagte er, „doch irgendwann werden wir uns wiedersehen.“ Dann verschwand er. Er ging in den Ryhope-Forst, einen beinahe undurchdringlichen Wald, den Forscher wie George Huxley Mythago Wood nannten. Hier nehmen die alten Archetypen und Legenden aller Zeiten (bis zu 10.000 Jahre v. Chr.!) Gestalt an und führen dort ein für Menschen fremdartiges Leben.

Nach Harrys Fortgang und vermutlichem Tod 1948 sind die Keetons eine zerrissene Familie. Diese Zerrissenheit wird von jedem ihrer Mitglieder anders bewältigt. Tallis geht ihren ganz eigenen, sehr gewagten Weg, wie schon ihr Bruder Harry und ihr Großvater Owen. Owen hat ihr ein kommentiertes Märchenbuch geschenkt und ihr einen langen Brief hinterlassen. Außerdem ist er für ihren Namen verantwortlich: Tallis sei die weibliche Form von Taliessin, und der war neben Merlin bekanntlich der größte Magier Englands. Er kommt im Legendenkreis des walisischen „Mabinogion“ vor. Tallis‘ Weg als Zauberin ist vorgezeichnet.

Als sie fünf ist, bemerkt sie die ersten Geistwesen aus dem Augenwinkel, doch wie ihr Owen geraten hat, fürchtet sie sich nicht vor ihnen. Es sind nur Mythagos, und sie geben ihr Geschichten, Wissen und Visionen. Schon bald fallen ihr die geheimen Namen fast aller Orte ein, beispielsweise Morndun-Hügel statt Barrow Hill. Nach einem Besuch im verfallenden Haus von George Huxley (er starb 1946, seine Söhne verschwanden 1947 und 1948) versucht sie, das Gesicht auf dem Totempfahl vor dem Haus nachzuschnitzen. Aber es kommt nur eine bemalte Rindenmaske heraus. Sie nennt sie The Hollower, denn damit könne man alle Hollowings (Hohlwege) zwischen unserer und den anderen Welten sehen. The Hollower ist eines der Geistwesen, die sie aus dem Augenwinkel zu sehen pflegt.

Im Laufe der Jahre schnitzt und bemalt Tallis zehn Masken und gibt ihnen ihre wahren Namen:

1) The Hollower – Der Hohlweger: erleichtert Visionen durch Hollowings, Abkürzungen zu anderen Orten und Zeiten; Tallis hat mehrere Hollowings entdeckt.
2) Gaberlungi: eine ganz weiße Maske: Erinnerung an das Land
3) Sinisalo: Das Kind im Lande sehen
4) Morndun: die erste Reise eines Geistes in ein unbekanntes Land
5) The Silvering – Der Silberling: Der Zug eines Salms in den Flüssen eines unbekannten Lands
6) Falkenna – Das Falkengesicht: Der Flug eines Vogels in ein unbekanntes Land
7) Moondream – Mondtraum: …um die Frau im Land zu sehen
8) Skogen: Schatten des Waldes
9) Cunhaval: Das Rennen eines Jagdhundes durch die Wege eines unbekannten Landes
10) Lament – Wehklage

Die 13-jährigen Tallis ist zu einem phantasievollen Mädchen herangewachsen und hört immer häufiger Stimmen und Gesänge aus dem Ryhope-Wald – den sie den „Alten Verbotenen Ort“ nennt, kurz AVO bzw. OFP (Old Forbidden Place). In einer wunderbar fröhlich-ironischen Szene berichtet sie einem befreundeten Komponisten, dem 84-jährigen Mr. Williams, davon und erzählt ihm die Geschichte von den drei Brüdern Arthur, Mordred und Scathach: „Das Tal der Träume“. Das Lied, das sie danach hört, identifiziert der alte Musiker als das Volkslied „Der reiche Mann und Lazarus“.

Als sie Mr. Williams kennenlernt, hat sie bereits eine einschneidende Erfahrung hinter sich, in der sie das Vogelgeistland begründet hat. Als sie in der alten Eiche Stark-gegen-den-Sturm ein Hollowing entdeckt, erblickt sie einen schönen jungen Krieger, in den sie sich sofort verliebt. Allerdings liegt er schwer verletzt auf einem großen Schlachtfeld. Sie nennt ihren Namen, Tallis, und er nennt sich Scathach. Auf keinen Fall will sie ihn sterben lassen, wirft ihm durch das Hollowing hindurch Verbandszeug hinunter.

Da sieht sie zu ihrem Schrecken, wie mehrere Gefahren ihren Geliebten bedrohen: ein dunkler Sturm, eine Schar Aasvögel und zu guter Letzt vier schwarz gekleidete alte Frauen, die die Gefallenen ausplündern und zerstückeln. Das darf ihrem Scathach nicht passieren! Und so versucht sie die drei Gefahren abzuwehren. Mit diversen magischen Objekten wehrt sie die Aasvögel ab und schafft so Vogelgeistland. Fortan meiden alle Vögel diese Eiche, die in zwei Dimensionen steht. Die vier Leichenfledderer kann sie nur aufhalten, doch nicht vertreiben. Ein Schamane und eine fünfte Frau kommen und tricksen Tallis aus: Sie bewegen die Zeit. Als Tallis das nächste Mal zum Hollowing zurückkehrt, liegt Scathach bereits auf dem Scheiterhaufen und brennt. Eine junge Kriegerin erweist ihm die letzte Ehre. Tallis sieht ein, dass sie alles missverstanden hat. Die Leichenfledderer haben nur Scathach gesucht, um ihn zu bestatten.

Fortan beschließt Tallis, bedachtsamer zu sein. Und sie gibt Scathach (ähnlich wie ihrem Bruder Harry) ein Versprechen, das sie in einem Lied zusammenfasst:

„Ein Feuer brennt im Vogelgeistland,
Im Vogelgeistland liegt mein junger Liebster.
Ein Sturm tobt im Vogelgeistland,
Ich werde die schwarzen Aasvögel verjagen,
Ich werde über meinen Liebsten wachen,
Ich werde bei ihm sein im Vogelgeistland.
Ein Feuer brennt im Vogelgeistland,
Mein Körper glüht.
Ich muss dorthin reisen.“

(S. 116 der Übersetzung)

Mr. Williams – es handelt sich um den Komponisten Ralph Vaughan Williams (1874-1958) – hat ihr als Lohn für dieses schöne, eigenartige Lied den wahren Namen des letzten Stücks Land verraten, das sie vom Betreten Ryhope Woods abgehalten hat: Find-mich-wieder-Feld. Nun kann sie erneut Oak Lodge, das vom Wald zurückeroberte Haus von George Huxley, besuchen. Es gelingt ihr, sich vor bronzezeitlichen Eindringlingen zu verstecken und Huxleys geheimes Tagebuch zu stibitzen. Ihr Großvater Owen hat ihr davon erzählt, denn er kannte Huxley. Dieses Buch liest sie nun – ein echter Augenöffner. Sie erfährt von Mythagos, Geistzonen und Edward Wynne-Jones, Huxleys verschollenem Freund und Kollegen.

Abschied

Eines Abends, als ihre Eltern Freunde besuchen, begibt sich Tallis mit ihrem Schulkameraden Simon auf einen Hügel. Dort begegnet ihr eine der drei Mythagofrauen, die sie unterwiesen haben: Weiße Maske. Diese nennt Tallis „Oolerinnen“, eine Frau, die Hollowings formen kann. Simon macht sich vor Angst aus dem Staub. Hier erweist sich, dass ihre beschwörenden Kräfte enorm gewachsen sind. Aus der Erde erheben sich riesige stehende Steine. Vor Angst verduftet nun auch Tallis, doch auch in ihrem Zimmer ist sie vor den Reitern, die sie aus dem Wald hat kommen sehen, nicht sicher.

In ihrem Zimmer besucht sie der junge Scathach aus ihrer Vision. Sie hat ihn jagen und auf dem Schlachtfeld liegen gesehen – ist er ihr Mythago oder ein eigenständiges Wesen? Von beidem etwas, denn sein Vater ist Wynne-Jones, ein mächtiger Schamane tief im Herzen des Waldes, erzählt er. Scathach drängt sie, mit ihm in den Wald zu kommen. Sie soll einen furchtbaren Fehler korrigieren, den sie mit der Schaffung von Vogelgeistland begangen hat. Von dort kommen böse Wesen in den Rest des Waldes, ganz besonders nach Lavondyss. Und was könnte dort deshalb auch Harry zugestoßen sein? Sie muss ihre eigene Schöpfung, die sie aus Liebe bewirkt hat, wieder rückgängig machen. Doch um welchen Preis?

Nun gelingt Tallis der Durchbruch in Gebiete jenseits der Waldgrenzen. Als sie den Grenzbach überschreitet, verliert sie allerdings ihre Maske Moondream, und das ist alles, was ihrem Vater von ihr bleiben wird. Auch wenn sie ihm verspricht, in einer Woche zurückzukehren. (In „The Hollowing“ kehrt James Keeton von seiner vergeblichen Suche wieder zurück und läuft Richard Bradley direkt vors Auto. Die Maske wird noch viel Unheil anrichten.) Tallis aber macht sich auf den Weg, um im Mythenwald ihren verschollenen Bruder zu suchen.

Mein Eindruck

Tallis folgt einer Vision. Diese hatte sie in dem Märchen vom Tal der Träume beschrieben. Darin kommen sie selbst, Scathach und Harry vor, doch sie muss herausfinden, wie alles zusammenhängt. Ryhope Wood ist eine Landschaft der Seele, und die Reise führt in Tallis‘ tiefstes Unterbewusstsein, dorthin, wo älteste Erinnerungen der Menschheit schlummern. Diese Erinnerungen sind dazu geeignet, den heutigen, unvorbereiteten Zeitgenossen gehörig in Schrecken zu versetzen. Es kommen mehrere Morde vor …

Eine kleine Ahnung davon, was auf Tallis zukommt, hat uns ihre Vision vom auf dem Schlachtfeld von Mount Badon sterbenden Scathach vermittelt. Überall Leichen und ihre Überreste. Hier verliert sie Scathach erneut, aber da sie dieses Ereignis vorausgeahnt hat, ist sie nicht allzu sehr erschüttert, wenn auch ihre Trauer um den Geliebten groß ist. Was sie jedoch überrascht, ist das wütende Auftreten von Scathachs Halbschwester Morthen, die von Wynne-Jones zur Schamanin ausgebildet wurde. Morthen liebt ihren Bruder und verletzt die Rivalin Tallis derart, dass Tallis eine Zeitlang genesen muss.

Verwandlungen

Ihre Weiterreise führt sie in die Festung im Alten Verbotenen Ort, die sie aus ihrem Märchen vom Tal der Träume kennt, und lässt sie auf ein Zeichen von Harry stoßen, seinen Revolver. Doch um weiterzukommen, ist es erforderlich, dass sie sich verwandelt: zunächst in einen Baum, dann in eine Maske, schließlich in ein Stechpalmenwesen (einen Daurog), das ein Naturgeist ist, dann wieder in einen Menschen. Diese Verwandlung kann nur in Lavondyss vonstatten gehen, an einem Ort also, wo Menschenseelen jenseits der Zeit überdauern können. Der Sinn und Zweck ihrer Verwandlungen ist die Befreiung von Harrys Geist, der durch Tallis‘ Eingreifen im Vogelgeistland gefangen war. Damit ist ihre große Aufgabe eigentlich erfüllt.

Taliesin

Dieser Zyklus der Verwandlungen erinnert mich an Tallis‘ berühmten Namensvetter, den Zauberer Taliesin, der sich in viele Lebewesen verwandeln konnte, wie uns die Quellen berichten, so etwa das „Mabinogion“ und das Buch „Die weiße Göttin“ von Robert Ranke-Graves. Was daraus zu lernen ist? Dass die Seele (spirit) dazu in der Lage ist, ihr eigenes Unbewusstes zu erforschen und dort auf uralte Wahrheiten zu stoßen. Wenn von Geistern die Rede ist, dann nie im Sinne von „ghost“, sondern immer im Sinne von „spirit“.

Der unvorbereitete Leser mag denken, dass all diese Verwandlungen ziemlich seltsam sind, aber das ist nur der Fall, wenn man vergisst, dass ganz Ryhope Wood und besonders Lavondyss Landschaften der Seele sind. Hier kann die Seele andere Gestalten als „Bekleidungsformen“ annehmen und auf diese Weise auf ihre Umgebung einwirken. So verändert beispielsweise Tallis‘ Auftauchen den Wald um sie herum, und sie selbst wird stets in allen möglichen Formen von den zur Erkenntnis fähigen Wesen erkannt.

Darstellung und Vermittlung

In Lavondyss herrschen andere Gesetzmäßigkeiten, aber sie gehorchen nicht dem Zufall, sondern haben stets einen Sinn und einen Zweck, den uns der Autor zu vermitteln versteht. Die Art und Weise dieser Vermittlung gelingt ihm in der ersten Romanhälfte – ich habe sie oben skizziert – ausgezeichnet. Auch das zweite Drittel, aus der Perspektive von Wynne-Jones erzählt, stellt kein Problem dar. Doch alles, was im Lavondyss-Zyklus der Verwandlungen geschieht, stößt an die Grenzen des Erzählbaren. Man merkt es an den kurzen, stakkatohaften Sätzen, zu denen der Autor Zuflucht nehmen muss. Noch schwieriger wird es selbst für den Autor, all die Zeitschleifen unter Kontrolle zu bringen und zu erklären, die sich gegen Schluss ereignen. Da war ich häufig nicht sicher, mit welchen Geistern ich bzw. Tallis es gerade zu tun hat: Ist dies nun Scathach oder Harry oder sonstwer?

Eine runde Sache?

Tallis durchläuft offensichtlich mehrere Zyklen, als sie zu Wynne-Jones‘ Volk zurückkehrt, wo Scathach und Morthen zuerst auftraten. Natürlich muss sie auch den befreiten und zurückgekehrten Harry, ihren Bruder, wiedertreffen. So wird aus ihren Abenteuern in Lavondyss in zeitlicher Hinsicht „eine runde Sache“. Aber dies alles grenzt an das Wundersame, und wenn der Leser nicht schon vorher ziemlich misstrauisch war, so wird er es spätestens jetzt, wenn sich alles so wunderbar fügt.

Schön ist hingegen wieder die Coda, in der sich ein kleiner Junge namens Kyrdu fragt, auf welche Weise man wohl aus dem Wald hinaus in jene westliche Welt gelangen könnte, von der Großmutter Tallis, das Orakel, so oft erzählt hatte.

Die Übersetzung

Die deutsche Übersetzung durch Barbara Heidkamp ist zum Abgewöhnen und dazu angetan, nie wieder eine Übersetzung lesen zu wollen. Nicht nur, dass ich noch nie zuvor und nie danach derart viele Druckfehler vorgefunden habe, nein, auch der Text wurde gegenüber dem Original entscheidend gekürzt!

Ich war regelrecht geschockt, als ich auf folgenden Seiten auf Lücken stieß: 105 (Tallis‘ Gedicht), 112, 383, 386, 389 und 390. Offensichtlich sollte der Umfang des Buches so getrimmt werden, dass 400 Seiten nicht überschritten würden. Das ist der Übersetzerin vollauf „gelungen“, doch der deutsche Leser schaut in die Röhre. Er bekommt kein Produkt, das dem Original entspräche. Bis heute liegt keine verbesserte oder vollständige Ausgabe vor.

Was mich dann vollends von der Unfähigkeit der Übersetzerin überzeugte, war ihre Verwendung des Verbs „stieben“, was so viel wie „dahinfegen“ bedeutet. Die Vergangenheitsform (Präteritum) des Verbs lautet nicht „stieb“, wie auf den Seiten 331 und 364 nachzulesen ist, sondern „stob“. Viele Male wird statt „sie“ auch „sich“ geschrieben. Und „holly“ übersetzt sie uneinheitlich mal (korrekt) mit „Stechpalme“, mal mit „Eibisch“, was nur Spezialisten kennen.

Angesichts all dieser Unzulänglichkeiten rate ich daher dringend zur Lektüre des Originals „Lavondyss“. Einige der Originalausgaben sind mit faszinierenden Abbildungen der eingesetzten Masken, die ich oben aufgelistet habe, illustriert.

Unterm Strich

Unter allen fünf Ryhope-Wood-Romanen ist „Lavondyss“ sicherlich für den Uneingeweihten am schwersten zu lesen. Deshalb rate ich dazu, erst Band 1 und Band 3 zu lesen, bevor man sich an „Lavondyss“ wagt. Wer mit C. G. Jungs Theorie der Archetypen im kollektiven Unbewussten und der Sprache der Symbole nicht vertraut ist, wird das Buch sowieso als unverständlich in die Ecke feuern. Die Persönlichkeitsentwicklung von Tallis entspricht nicht dem gewohnten Muster des westeuropäischen „Bildungsromans“, in dem sich der Held bzw. die Heldin mit der Gesellschaft arrangiert oder nicht.

Metamorph

Denn was hier an Gesellschaft vorhanden ist, sind jungsteinzeitliche Jäger, Sammler und Schamanen mit nicht besonders appetitlichen Angewohnheiten, sowie seltsame Zwitterwesen, die sowohl Stechpalme und Winterwolf als auch Vogel sein können. Diese Daurogs sind die Vorläufer des Waldgeistes namens The Green Man, den man heute nur noch aus dem Märchen „Jack and the Beanstalk“ bzw. „Hans der Riesentöter und die Bohnenranke“ kennt. Eine solche sekundäre Welt ist der Leser von traditioneller Fantasykost nicht gewöhnt. Der englische Literaturkritiker John Clute erfand deshalb für Holdstocks Schreibweise die Bezeichnung „metamorphic fiction“, also „Dichtung der Verwandlungen“.

Wanderlust

Ich hingegen liebte den Roman, als ich ihn im Original las, und wollte mir gleich als Erstes eine Maske schnitzen. Wie wäre es, wenn man durch eine solche Maske seinen Geist auf Reisen schicken und Dinge erblicken könnte, die man mit normalen Augen nie erblicken würde? Da könnte Supermans Röntgenblick glatt einpacken.

Die deutsche Ausgabe

Von der Lektüre der deutschen Fassung, die sich Übersetzung schimpft, ist hingegen dringend abzuraten. Nicht nur ist die Sprache malträtiert worden, sondern zudem wurde der Text im Vergleich zum Original um mehrere Seiten gekürzt.

Originaltitel: Lavondyss, 1988
399 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von Barbara Heidkamp

https://www.luebbe.de