Hunter, Stephen – Im Fadenkreuz der Angst

Bob Lee Swagger ist einer aus dem Millionenheer blutjunger Amerikaner, die einst für die USA und scheinbar für eine „gerechte“ Sache in den Vietnamkrieg gezogen sind. In Asien hat er dem Marinekorps alle Ehre gemacht, doch Anerkennung und Ehre durfte er dafür nicht erwarten: Swagger ist der geborene Scharfschütze. Als „Bob der Knipser“ konnte er 87 bestätigte „Abschüsse“ verzeichnen, bis die Kugel eines noch geschickteren Vietkong-Heckenschützen seiner Laufbahn jäh ein Ende setzte.

Im Zivilleben stürzte Swagger tief und kehrte nie wirklich aus dem Krieg zurück. Töten will er zwar nicht mehr, aber Waffen sind immer noch sein Leben, und seine Treffsicherheit hat eher noch zugenommen. In seinem Heimatort Blue Eye im ländlichen West-Arkansas führt er am Rande der Gesellschaft ein zurückgezogenes Leben und wird von den Bürgern in Ruhe gelassen.

Swagger ist der einsame amerikanische Waffennarr par excellence. Das macht ihn zum wertvollen Instrument und Sündenbock für die düsteren Pläne des skrupellosen Colonel Raymond Shreck. Der hoch dekorierte, doch sang- und klanglos in den Ruhestand geschickte Soldat ist inzwischen ein verbitterter, aber einflussreicher und auch geschäftlich erfolgreicher Mann mit einer eigenen Firma, die vorgeblich Sicherheitsdienste aller Art anbietet. „RamDyne Security“ ist aber auch das ideale Aushängeschild für Shrecks wahre Aktivitäten, Sammelbecken für eine handverlesene Schar rücksichtsloser, zu allem entschlossener Söldner – und Anlaufpunkt für jedes korrupte und machtgierige Regime dieser Welt, das sich seiner Gegner gewaltsam entledigen will.

Der von Shreck umworbene Swagger kann der Verlockung, wenigstens als angeblicher „Berater“ endlich wieder einmal sein immenses Fachwissen unter Beweis stellen zu können, nicht widerstehen. Als Shrecks Falle zuschnappt, muss Swagger mit zwei Kugeln im Leib und dem gesamten Polizei- und Geheimdienstapparat hart auf den Fersen erkennen, dass er Opfer eines internationalen Komplotts geworden ist. Aber auch Shreck muss sich nun sorgen, denn er weiß sehr wohl: Sein Opfer wird ihm den Verrat niemals verzeihen, sondern sich rächen. Deshalb schickt er ihm ein Killerheer hinterher. Allein gegen scheinbar übermächtige Verfolger zu stehen, ist freilich nicht neu für Bob Lee Swagger. Wenn er ehrlich sein soll, fühlt er sich sogar wie neugeboren, als er beginnt, RamDynes Schergen aus dem Hinterhalt – wie in alten Zeiten – aufzurollen …

„Im Fadenkreuz der Angst“ ist ein bemerkenswerter Thriller. Kompromisslos ignoriert Autor Stephen Hunter beinahe jede Regel, die sein Werk für ein möglichst breites Massenpublikum kompatibel machen könnte. „Amoralisch“ ist wohl der Terminus, mit dem sich die Welt beschreiben ließe, in der sich seine Protagonisten bewegen. Das gilt für die „Bösen“ genauso wie für die „Guten“. Bob Lee Swagger, der „Held“, ist wahrlich kein angenehmer Charakter. Hat der Wolf anfangs noch Kreide gefressen, kehrt er schon sehr bald zu dem zurück, was er am besten kann: Töten auf große Entfernung.

Über die Existenz von Scharfschützen in allen Kriegen seit der Erfindung von Waffen, mit deren Hilfe sich Projektile – Speer- und Pfeilspitzen, später Metallkugeln – über weite Strecken verschießen lassen, scheinen nicht einmal jene gern nachzudenken, die dem Militärischen gegenüber üblicherweise aufgeschlossen sind. Der Gedanke ist – wie alle genialen Einfälle – bestechend simpel: Schalte so viele deiner Gegner aus, wie es dir möglich ist, ohne dich selbst dabei in Gefahr zu bringen, und richte dein Augenmerk dabei auf jene, die jenseits der eigenen Linien die Entscheidungen treffen. Doch es ist in der Tat schwer, etwas Heldenhaftes darin zu finden, ahnungslose Menschen aus dem Hinterhalt niederzuknallen.

Aber Stephen Hunter wählt sich als zentrale Figur einen Mann, der genau dies getan hat. Er geht sogar noch weiter: Bob Lee Swagger haben seine Erlebnisse in Vietnam nur marginal geläutert. Tatsächlich ist er als Zivilist mehr denn je eine menschliche Zeitbombe, der in seiner Hütte, die einer vom Feind dauerbelagerten Festung gleicht, mehr Waffen und Munition lagert als eine mittelgroße Guerillatruppe.

Überhaupt: Waffen! Es gibt „Im Fadenkreuz der Angst“ eine Erzählebene, die man als Hymne auf die Kunst verstehen kann, mit Faust- und Langfeuerwaffen Unglaubliches anzustellen. Das muss auf den europäischen Leser noch wesentlich provokanter wirken als auf das amerikanische Publikum, das ja in seiner Mehrheit das Recht des Bürgers auf seinen eigenen Schießprügel (oder deren zwei oder drei …) gegen alle Widerstände anders denkender Zeitgenossen erbittert verteidigt. Hunter schwelgt in technischen Daten und betont sachlich gehaltenen Darstellungen dessen, was Bob Lee Swagger mit einer Waffe in der Hand zu leisten vermag: das Gewehr als Stradivari des Scharfschützen.

„Im Fadenkreuz der Angst“ ist (abgesehen von der unglaublich rasanten und hochspannenden Handlung) auch deshalb als Thriller so überragend, weil Hunter auf jegliche Anbiederung oder moralisierende Bücklinge verzichtet: In diesem Buch spielen neben den menschlichen Figuren Waffen eine entscheidende Rolle; es ist daher erforderlich, mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, wie sich dies auf den Gang der Geschehnisse auswirkt – und Punkt. Die Schlüsse aus dem, was Hunter dem Leser präsentiert, muss dieser schon selbst ziehen. Der Autor ist viel zu klug, sein Publikum mit vorgestanzten Friede=Freude=Eierkuchen-Klischees einzulullen. Wer die Waffe zieht, kann durch die Waffe umkommen: Wie viel Wahrheit in diesem Kalenderspruch liegt, setzt Hunter viel lieber – und wirksamer – in explosive Bilder um.

Das heißt aber nicht, dass er das Innenleben seiner Protagonisten darüber vernachlässigt. Vorab sei daran erinnert, dass „Im Fadenkreuz der Angst“ ein Thriller ist, der primär der Unterhaltung dient. Im Rahmen seines Talents und der gewählten Form hat Hunter auch hier vorzügliche Arbeit geleistet. Nach 500 Seiten liebt man Bob Lee Swagger genauso wenig wie zu Beginn, aber man versteht ihn nun besser, ohne dass Hunter die „Rambo“-Klischees vom armen, an Leib und Seele verwundeten, für seinen aufopfernden Dienst schnöde vom eigenen Land verratenen Vietnam-Veteranen allzu aufdringlich bedient.

Dasselbe gilt für die übrigen Figuren; Polizisten, Geheimdienstleute und Shrecks Meuchelmörder eingeschlossen. Selbst primitive Schlagetots wie Jack Payne, Shrecks roboterhafte rechte Hand, haben bei Hunter ein Profil: So unerfreulich dies den Gandhis dieser Welt in den Ohren klingen mag – es gibt Menschen, die mit der Gewalt und von der Gewalt leben und sich eines gesunden Nachtschlafes und eines erfüllten Daseins erfreuen. Das ist nicht erfreulich, aber Realität. Man erfährt in den Nachrichten darüber und hat sich gefälligst damit auseinanderzusetzen. Stephen Hunter spielt virtuos mit der unterbewussten Angst, die den „normalen“ Zeitgenossen ob dieser Tatsache bewegt.

Das Bild auf der Website http://www.stephenhunter.net zeigt einen beleibten, kahlköpfigen Herrn mit verschmitztem Gesichtsausdruck, der fabelhaft den Bruder Tuck der Robin-Hood-Legende geben könnte. Dahinter verbirgt sich ein (1946 geborener) Journalist und – ausgerechnet! – Comedy-Schreiber, der außerdem als Filmkritiker der |Baltimore Sun| (1971-1996) einen geradezu legendären Ruf besitzt. Baltimore ist auch Hunters Heimatstadt, wo er mit seiner Lebensgefährtin und zwei Söhnen lebt.

Hunters soldatische Laufbahn beschränkt sich (soweit ich dies in Erfahrung bringen konnte) auf einen zweijährigen Einsatz in einem Ehrenwacht-Regiment, das in der US-Hauptstadt Washington (ähnlich wie die Bärenfellmützen-Witzgestalten der englischen Queen) zeremoniell für die zivile Öffentlichkeit paradiert … In die zwielichtige Welt der amerikanischen Waffennarren ist Hunter hauptsächlich durch Recherche eingetaucht, wie es sich für einen guten Journalisten ziemt, auch wenn er selbst als eifriger, aber nicht fanatischer Schütze und Jäger bekannt ist.

Schriftstellerisch wurde Hunter schon 1980 tätig. Er begann mit einem wüsten Garn um einen Nazi-Heckenschützen (!) im Jahre 1945 („The Master Sniper“), dem er bis heute weitere Thriller folgen ließ, die allesamt nichts für den schöngeistigen Leser sind, aber stets zu unterhalten wissen. Anfang der 90er Jahre begann Hunter mit einer Serie von Romanen, die sich grob um die Familiengeschichte des Swagger-Clans ranken und neben Bob Lee auch seinen Vater und Großvater auftreten lassen.

In Deutschland ist außer „Im Fadenkreuz der Angst“ (noch?) kein weiterer Band der Swagger-Reihe erschienen. Überhaupt sieht es hierzulande für Stephen Hunter düster aus: Außer „Target“, dem Roman zum gleichnamigen (schrecklichen) Film mit Gene Hackman, erschienen nur „Titan“ und „Die Gejagten“ („Dirty White Boys“, 1994), ein wiederum unerhört spannender Thriller um einen spektakulären Gefängnisausbruch mit anschließender Flucht, der immerhin mit einem „Gastauftritt“ Earl Swaggers – Bobs Vater – aufwarten kann.

Nicht einmal zum Start des ungemein erfolgreichen Films „Shooter“, der nach „Point of Impact“, dem ersten Swagger-Roman, mit Mark Wahlberg in der Hauptrolle unter der Regie von Antoine Fuqua gedreht wurde und 2007 in die Kinos kam, wurde die deutsche Übersetzung neu aufgelegt.

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