Hurwitz, Gregg – Sekte, Die

Neben den vielen großen Religionen auf unserer Welt gibt es noch zahlreiche Gruppierungen von Gläubigen, die sich abspalten und abgrenzen vom etablierten Glauben. Die Sekten unserer Zeit versuchen, durch eine ganz eigene Botschaft Mitglieder für ihre Idee und Überzeugung zu gewinnen. Gerade labile Menschen, die durch Schicksalsschläge ihre Grundlage, vielleicht sogar ihren Glauben verloren haben, die sich im Stich gelassen fühlen oder einfach menschlich enttäuscht wurden, sind anfällig, sich sich auch einer der zweifelhafteren dieser Gruppierungen anzuschließen.

Längst schon versuchen Sekten, ihre Machtstellung innerhalb der Gesellschaft zu festigen. Religion und Glauben, Ideologie und Überzeugung bedeuten zugleich immer, auch Macht auszuüben, Menschen zu lenken und zu kontrollieren; oftmals unterwandern derlei Gruppierungen auch die Gesetze oder nutzen deren Lücken, damit sie durch den Staat nicht angreifbar werden. Die wirtschaftlichen Interessen gehören immer zu den wichtigsten ideologischen Überzeugungen einer solchen Gruppe.

Mit Nächstenliebe und Respekt gegenüber ihren Mitmenschen, mit Meinungsfreiheit und Entfaltung der eigenen Person haben diese Vereinigungen meistens ein recht großes Problem. Es entstehen eher richtiggehende und gefährliche Personenkulte, die autoritär auf die Gruppe einwirken und diese auch mit disziplinarischen Strafen einschüchtern. In solchen Sekten leben die Mitglieder meistens nach ihren eigenen Gesetzen und Geboten, und genau hierin besteht die Gefährlichkeit.

Der Autor Gregg Hurwitz zeichnet seinen Lesern in seinem Roman „Die Sekte“ ein recht gutes Bild von den Organisationen und Strukturen, den Wegen der Gewinnung neuer Mitglieder und deren Kontrolle und wirtschaftlichen Ausbeute.

_Inhalt_

Tim Rackley hat nach dem gewaltsamen Mord an seiner sechsjährigen Tochter nicht nur seine Anstellung als US Marshal verloren. Durch seine eigensinnige Selbstjustiz wurde er vom Dienst suspendiert und der Schmerz über den Verlust lässt ihn und seine Frau Andrea, genannt Dray, auch privat nicht zur Ruhe kommen. In ihren Träumen, ihren Gedanken verfolgt sie die Tragödie noch immer.

Eines Tages bekommen Tim und Dray Besuch von einem erfolgreichen Filmproduzenten und seiner Frau, die verzweifelt um Hilfe bitten. Der einflussreiche Produzent Will Henning übergibt Tim ein Foto. Auf diesem posiert ein junges Mädchen, das gerade die Highschool abgeschlossen und ein Studium begonnen hat. Sie sieht hübsch aus, vielleicht ein wenig linkisch, traurig graugrüne Augen, schulterlanges Haar. Eine Person, an die man sich aufgrund ihrer Aura erinnert. Tims Augen schweben über das Foto seiner toten Tochter auf dem Kaminsims, er nimmt an, dass das Mädchen auf dem Foto auch umgebracht wurde.

Doch sie ist nicht tot. Will Henning, der Stiefvater, erklärt, dass die 19-jährige Leah quasi vermisst wird. Die junge Studentin ist einer Sekte beigetreten und hat den Kontakt zur ihren Eltern komplett abgebrochen. Die Polizei kann nicht eingreifen, weder das FBI noch die CIA sehen eine Möglichkeit bzw. ein Verbrechen, gegen das sie vorgehen könnten.

Tim soll, wenn es nach ihren Eltern geht, die junge Frau aus dem Kreis dieser Sekte entführen, denn von der Außenwelt hat sich diese Sekte fast völlig abgeschlossen, so dass kaum eine legale Möglichkeit für die Ermittler übrig bleibt. Vorübergehend wird Tim wieder in den Rang eines US Marshal eingesetzt und nimmt als Erstes Kontakt zu einem Universitätsprofessor und Experten für Sekten auf.

Trotz seiner psychologischen Vorkenntnisse, die Tim innerhalb der amerikanischen Streitkräfte erhalten hat, gibt Dr. Bedermann dem Beamten wertvolle Tipps, um sich vor psychologischen Praktiken der Bewusstseinskontrolle wehren zu können. Auch übergibt Dr. Bedermann Tim die Adresse eines Patienten, der den Fängen der Sekte entkommen konnte, nicht jedoch, ohne dabei zu Schaden gekommen zu sein. Doch dieser ist nur noch ein Schatten seiner selbst, ein seelischer und psychologischer Krüppel mit irreparablen Schäden, und der Versuch Tims, etwas über die Sekte herauszufinden, endet in einem nervlichen Zusammenbruch des Mannes.

Eine weitere Adresse führt Tim zu einem ebenfalls ausgestiegenen Sektenmitglied. Auch dieser Mann reagiert panisch und denkt, dass man ihn ausschalten möchte; nur mit äußerste Vorsicht gelingt es Tim, ein wenig Zugang zu dem verstörten Mann zu finden. Doch dieser beantwortet die Fragen des Ermittlers nur zaghaft und möchte mit dieser Vereinigung nichts mehr zu tun haben. Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben …

Wenige Tage später bietet der Mann Tim doch noch seine Hilfe an und berichtet, wie er zu der Sekte kam und wie eine solche Veranstaltung, die unter dem Motto „Das Programm“ organisiert ist, abläuft. Bewusstseinskontrolle wird von der Sekte und ihrem charismatischen Führer durch psychologische Erniedrigung, medikamentös durchsetzte Getränke, Schlafmangel und Temperaturdifferenzen innerhalb des Raumes erreicht. Es findet eine völlig Deprogammierung ihres Ich statt, bis man zu guter Letzt nur noch an die Grundsätze, die Gebote, das Weltbild der Sekte glaubt. Eine Marionette auf einem Spielfeld mit fest definierten Regeln.

Die labilen Menschen werden angeworben, wenn sie sich in einer persönlichen Krisensituation befinden – Beerdigungsinstitute, Jobmessen, Kennlernpartys in Kirchen, Selbsthilfegruppen usw. sind die Orte einer solchen ersten Begegnung. Die Kriterien, nach denen sie angeworben werden: Sie müssen über Geld verfügen, zugänglich sein und auch auf sexueller Basis dem „Meister“ gefallen. Leben und wohnen findet auf einer abgelegenen Farm statt, und nur auf dieser. Neue Mitglieder – so genannte „Neos“ – werden von den älteren Sektenmitgliedern kontrolliert und durch den Tag begleitet – eine völlige und gerichtete Abhängigkeit.

Tim sieht seine einzige Chance darin, dass er versuchen muss, sich selbst in diese Sekte einzuschleusen. Mit seiner neuen Identität als reicher Firmeninhaber, der gerade seine Tochter durch ein Verbrechen verloren hat, gelingt es ihm bei einem Seminar von „Das Programm“, innerhalb der Sekte für ein weiteres Kolloquium eingeladen zu werden. Bei diesen Veranstaltungen spielt er seine Rolle überzeugend und kann die psychologischen Tricks zwar durchschauen, aber da er auch psychisch durch den Tod seiner Tochter angeschlagen ist, muss er seine ganze Konzentration aufbringen, um nicht selbst und tatsächlich zum Opfer zu werden.

Leah findet er wenig später, aber trotz aller Versuche, die junge Frau mit Argumenten davon zu überzeugen, dass diese Sekte lediglich auf ihr Vermögen aus ist und kriminell handelt, lässt sie sich anfänglich nicht überzeugen. Doch aufgeweckt, wie sie ist, bekommt ihr suggestiv verabreichtes „Programm“ erste Risse. Tim offenbart sich ihr als US Marshal und schildert die Ängste und Sorgen, die ihre Eltern durchmachen, und Leah deckt Tims Identität anschließend sehr bewusst.

Tim Rackley untersucht derweil die „Ranch“, um legale Beweise zu finden, welche die Staatsanwaltschaft nutzen kann, um gegen die Sekte ermitteln zu können. Eines Tages beobachtet Tim aus der Ferne, wie eine junge Frau, die der Meister fallen gelassen hat, bettelnd vor ihm steht und damit droht, „Das Programm“ durch ihr Wissen auffliegen zu lassen. Wenig später wird sie von zwei „Beschützern“ in den Wald geführt und Schüsse fallen. Wenig später wird Tims falsche Identität entdeckt und nicht nur er, sondern auch Leah befinden sich jetzt in Lebensgefahr, denn die Sekte duldet keine „Aussteiger“ …

_Kritik_

Gregg Hurwitz hat mit seinem Thriller „Die Sekte“ (englisch „The Program“) einen imposanten und psychologisch sehr dichten Thriller verfasst. Über Sekten und ihren inneren Aufbau, ihre Motivation und, was noch wichtiger ist, ihre psychologische Vorgehensweise bei der Gewinnung neuer Mitgliedern hat der Autor authentisch und transparent beschrieben.

Es gibt sicherlich diverse Vorurteile und eine gewissen Negativbehaftung des Begriffes der Sekte, aber auch hier schafft es der Autor gekonnt und bewusst, entweder mit diesen Pauschalisierungen aufzuräumen bzw. aufzuklären. Besonders gefallen haben mir die Erklärung und Schilderung des „Eröffnungsseminars“ der Vereinigung, die suggestiven, psychologischen Mittel, um die Teilnehmer erst mental brechen und sie dann unter Mithilfe der gleichen Mittel wieder gezielt nach den Grundsätzen der Sekte aufbauen zu können. Erschreckend, wie gezielt und raffiniert so etwas organisiert sein kann.

Die Geschichte wird aus Sicht von dem Ermittler Tim Rackley und seinem Schützling, der Studentin Leah, erzählt, die er aus dem engen Netz der Sekte befreien möchte. Tim Rackleys Charakter ist dabei nachvollziehbar und sehr menschlich dargestellt. Er liegt nicht immer richtig und man merkt, dass er sich trotz seiner Ausbildung bei der Armee und der Polizei ab und an mal überschätzt. Noch schmerzt in ihm der Verlust seiner Tochter, doch in dieser Schwäche liegt auch seine ganz persönliche Stärke. Er hat keine Angst davor, sich dem Schmerz zu stellen, und zusammen mit seiner selbstbewussten Frau Dray besteht gute Hoffnung, dass er dieses Trauma übersteht. Mit jeder Faser seiner Persönlichkeit versucht er, vielleicht auch aus Schuldbewusstsein heraus, Leah ein guter Freund, ein Beschützer zu sein.

Leah hingegen wirkt in sich nicht ruhend, auch wenn sie sich selber versucht einzureden, dass die Sekte ihr neues Zuhause ist und ihr alles das geben kann, was sie in ihrem Elternhaus vermisst hat. Trotzdem kommen in ihr immer wieder Zweifel auf, und in verschiedenen Situationen merkt man ihr an, dass sie nicht ganz den Parolen und Theorien des Meisters folgen kann. Psychosomatisch wirkt dies sich bei ihr als Form eines Hautausschlags aus.

Der Spannungsbogen wird von Gregg Hurwitz gekonnt und plausibel immer weiter entwickelt. Angefangen von der theoretischen Vorgehensweise, erklärt durch den Universitätsprofessor und Experten Dr. Bedermann, bis in die persönliche Indoktrinierung hinein und zur späteren Konfrontation, die Tim Rackley bewältigen muss. Wertvoll sind auch hier die sehr negativen Erfahrungen, die von dem ehemaligen Mitglied der Sektegeschildert werden; seine Ängste bilden zusammen mit den Erklärungen von Dr. Bedermann das Grundgerüst der psychologischen Dramaturgie.

Der negative Part fällt ganz klar dem „Meister“, dem Denker und Führer der Sekte zu. Er wird sehr berechnend, aber auch mit einer intelligenten Grausamkeit ausgestattet dargestellt, die ihm einen charismatischen Charakter verleihen. Die Selbstüberschätzung ist wohl dann der große Fehler in seinem eigenen Weltanschauungssystem.

Es gibt in dem Roman keine Nebenschauplätze, keine inhaltlich unwichtigen Parallelen zur Haupthandlung. Die Story konzentriert sich hingebungsvoll auf Tim und Leah; es gibt zwar ein paar Rückblenden in die Vergangenheit von Tim Rackley und seiner Frau, die in dem Debütroman [„Die Scharfrichter“ 3295 ihre Wurzeln hat, doch ist es kein Muss, jenes Buch vor diesem gelesen zu haben.

Gregg Hurwitz verrennt sich in keinem Moment in logischen Fehlern und Lücken oder unglaubwürdigen Theorien. Auch kombiniert er den Glauben nicht mit der Botschaft der Sekte. Die Sekte ist nicht religiös, sondern nur darauf aus, die Persönlichkeit des Menschen umzuprogrammieren; ganz klar und unmittelbar wird hier Macht über den Einzelnen ausgeübt, aber es folgt keine metaphysische Drohung mit dem Fegefeuer, sondern nimmt als Bestrafung ganz andere und unmittelbarere Formen an.

_Fazit_

Für Außenstehende und Menschen, die noch keinen Kontakt zu Sekten und ihren Beweggründen hatten, birgt dieser Roman viel Interessantes und ein wenig prophylaktische Vorsicht gegenüber solchen Vereinigungen mit doch recht merkwürdig anmutenden Glaubensgebilden.

Nach [„Die Scharfrichter“ 3295 ist dies der zweite Roman mit den Figuren Tim Rackley und seiner Frau Andrea. „Die Sekte“ empfinde ich als weitaus fundierter und spannender aufgebaut als den ersten Roman. Die Charaktere haben an Stärke zugenommen, sind positiver entwickelt worden und auch die Story wirkt authentischer und eingegrenzt.

Was bleibt, ist ein sehr spannender Roman mit zudem positivem Lerneffekt. In unserer heutigen Zeit und Gesellschaft gibt es vielerlei Vereinigungen, die ähnlich strukturiert werden, wie es der Autor beschreibt; um so wichtiger ist es, dass man einen kurzen Blick hinter den Vorhang werfen kann. Abschließend kann ich den Roman bedenkenlos weiterempfehlen und freue mich schon auf eine Fortsetzung.

_Autor_

Gregg Hurwitz ist Mitte dreißig und wuchs in der Nähe von San Francisco auf. Er studierte Englisch und Psychologie an der Harvard University sowie in Oxford/Großbritannien, wo er seine Magisterarbeit über Shakespeares Tragödien schrieb. Er hat Aufsätze in akademischen Zeitschriften publiziert, Drehbücher verfasst und bereits mehrere Spannungsromane veröffentlicht, die von der US-Kritik und Schriftstellerkollegen einhellig gelobt wurden. Gregg Hurwitz lebt in Los Angeles.

http://www.knaur.de/

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