Der Dezember in einem noblen Hotel in Reykjavík bringt für die Angestellten viel Stress, denn zur Weihnachtszeit zieht es viele ausländische Besucher in die winterliche Hauptstadt des Inselstaates Island unweit des Nordpolarkreises. Am Pol selbst soll ja der Sage nach der Weihnachtsmann seine Werkstatt eingerichtet haben. In besagtem Hotel übernimmt diese Rolle indes seit vielen Jahren Guðlaugur Egilsson, der Portier und Hausmeister. Dieses Jahr fällt sein Auftritt freilich aus; man findet ihn erstochen in seinem kleinen Kellerzimmer, oberhalb der Gürtellinie bereits in seinem ehrwürdigen Kostüm, unterhalb allerdings nur mit einem Kondom „bekleidet“.
Kommissar Erlendur Sveinsson übernimmt den Fall. Zum Unmut des Managers quartiert der unkonventionelle Polizist sich sogar im Hotel ein. So erfährt er von recht unsauberen Umtrieben hinter den Kulissen des gar nicht so feinen Hauses. Prostituierte sollen hier mit Billigung der Geschäftsleitung ihrem Job nachgehen, die Angestellten angeblich kräftig in die eigenen Taschen wirtschaften. Guðlaugur wusste davon und damit womöglich zu viel.
Erstaunliches kommt außerdem über die Vergangenheit des Portiers zum Vorschein: Guðlaugur war als Kind ein berühmter Sänger, gesegnet mit einer wahren Engelsstimme. Seine viel versprechende Karriere wurde vom Stimmbruch abrupt beendet; ein Erlebnis, das Guðlaugur niemals verwunden und das ihn seiner Familie entfremdet hat. Nur zwei Schallplatten hat er vor Jahren aufgenommen, die heute gesuchte Sammlerstücke sind. Erlendur lernt im Hotel den Briten Wapshot kennen, der fanatisch nach Guðlaugurs Werken fahndet und diesem bereits viel Geld gezahlt hatte. Kam es darüber zum Streit zwischen den beiden Männern? Wapshot belügt Erlendur und versucht Island heimlich zu verlassen. Das macht ihn zu einem weiteren Verdächtigen.
Die Wahrheit entspricht wie so oft nicht dem, was die Indizien versprechen. Erlendur und seine Kollegen müssen tief in das Universum der Knabensänger eindringen und entdecken dabei eine eigenartige Kunstwelt, deren „Gesetze“ jedoch nicht annähernd so hart und unerbittlich sind wie die Schrecken, welche die eigene Familie bereithält …
Wie in den ersten beiden in Deutschland veröffentlichten Bänden der Erlendur-Serie – in Island duzen sich die Menschen und sprechen einander mit Vornamen an – geht es in „Engelstimme“ um Rätsel der Vergangenheit. Dass diese in Arnaldurs Island besonders akut bleibt, mag an der konservierenden Frische der Nordmeerinsel liegen, die als Kulisse durch den drastischen Kontrast zwischen der Zivilisation des 21. Jahrhunderts und der archaischen Wildheit einer Insel im Grenzbereich der menschlichen Existenztoleranz weiterhin reizvoll neu wirkt. Die Natur beginnt nicht nur unmittelbar hinter den Ortsgrenzen, sie ist auch von einer Kompromisslosigkeit, die dem modernen Menschen im Grunde fremd ist: Auf Island ist es leicht möglich, während eines Winterspaziergangs „verloren“ zu gehen; Kommissar Erlendur hat es selbst erlebt (s. u.).
Islands Abgeschiedenheit verstärkt die Sonderrolle: Die Bewohner der Insel sind auch heute noch weitgehend unter sich. Im Vergleich mit Ländern vergleichbarer Größe ist die Zahl der Bewohner gering; sie konzentriert sich zudem in Dörfern und „Städten“, die anderenorts kaum als solche bezeichnet würden. Selbst Reykjavík, die Hauptstadt, bringt es auf gerade 115.000 Einwohner. Man kennt zwar einander nicht persönlich, aber man läuft sich immer wieder über den Weg. In diesem recht übersichtlichen Umfeld gären ungelöste Konflikte deshalb gut, bis sie den Deckel sprengen – das ist oft der Zeitpunkt, an dem Kommissar Erlendur und seine Kollegen ins Spiel kommen müssen.
Viel „geschieht“ nicht in dieser Geschichte – dies gilt jedenfalls, wenn man einen Krimi am Faktor „Action“ misst. Die Dramatik liegt im Denken und Handeln der Figuren. So kann ein scheinbar simpler Mord aus Leidenschaft in eine griechisch anmutende Tragödie ausarten, die immer mehr Personen in ihren unheilvollen Bann zieht. Geradezu lawinenhaft vermehren sich dabei die begangenen Verbrechen. Zum Mord gesellen sich Betrug, Diebstahl, Misshandlung, Kinderpornografie – ist die Dose der Pandora erst einmal geöffnet, ergießt sich ihr Inhalt unbarmherzig über die allzu Neugierigen.
Guðlaugur Egilsson brachte seine Engelsstimme in eine höllische Lebenssituation. Er wurde zum „Wunderkind“ gedrillt und erlitt dadurch seelische Schäden. Als sich dann sein einzigartiges Talent verflüchtigte, zerbrach er daran, geißelte sich selbst als Versager und bestrafte sich, indem er buchstäblich von der Bildfläche in einen öden Kellerwinkel verschwand. Dies war auch der Versuch die schmerzlich gewordene Geschichte abzuschütteln, was freilich misslingen musste, denn so tief sind auch auf Island die Keller nicht, dass dich die unbewältigte Vergangenheit nicht doch irgendwann findet.
Niemand weiß dies besser als Kommissar Erlendur. Er gibt sich selbst die Schuld am tragischen Wintertod seines jüngeren Bruders, den er in Albträumen immer wieder durchleben muss und dessen Leiche nie gefunden wurde. Auch deshalb lässt er nicht locker in seinem Bemühen, das Geheimnis um Guðlaugur zu lüften. Als Kriminalist weist Erlendur darüber hinaus manische Züge auf. Die Arbeit ist sein Leben bzw. seine Chance vor dem Leben zu flüchten. Arnaldur lässt das Schicksal erneut hart zuschlagen: Erlendur ist so einsam, dass er es daheim nicht mehr aushält und lieber in ein Hotel zieht, wo er sich ebenso verzweifelt wie hoffnungslos um eine Frau bemüht. Seine Ex-Gattin hasst ihn aus tiefster Seele, seine drogenabhängige Tochter droht erneut der Sucht zu verfallen. Erlendur hat auch einen Sohn; der ist Alkoholiker.
Das ist fast schon zu viel des Depressiven, wäre da nicht Arnaldurs Kunst, die böse Realität mit sehr viel trockenem Humor darzustellen. Isländer knausern mit Worten. Was sie zu sagen haben, bringen sie möglichst auf den Punkt. Das lässt sich in wunderbaren Onelinern konzentrieren. Erlendurs Kollegen von der Kriminalpolizei sind in dieser Beziehung besonders erfinderisch. Hinter ihrem Sarkasmus verbergen sie die Seelenpein, die ihnen ihre unerfreuliche Arbeit oft beschert. Trotzdem sorgen sie für willkommene Auflockerungen, denn Erlendur, der geplagte Mann mit Charaktertiefe aber wenig Eigenschaften, wäre auf Dauer und ausschließlich als Kriminalist wohl doch schwer zu ertragen.
Im allzu Menschlichen verbirgt sich schließlich auch die Wahrheit im Mordfall Guðlaugur. Man sollte nicht versuchen, schneller zum Täter vorzudringen als Erlandur; der Verfasser spielt zwar fair, d. h. der Mörder gehört zum Kreis der handelnden Figuren, doch er denkt nicht daran, ihn durch nachträglich verdächtige Randbemerkungen anzukündigen. Wie die ganz und gar nicht kriminalistisch genial wirkende Polizei bleiben wir Leser ratlos – und sind schließlich genauso überrascht wie diese, als der Fall eine deprimierende Finalwendung nimmt.
Arnaldur Indriðason wurde am 8. Januar 1961 in Reykjavík geboren. Er wuchs hier auf, ging zur Schule, studierte Geschichte an der University of Iceland. 1981/82 arbeitete als Journalist für das „Morgunbladid“, dann wurde er freiberuflicher Drehbuchautor. Für seinen alten Arbeitgeber schrieb er noch bis 2001 Filmkritiken. Auch heute noch lebt der Schriftsteller mit Frau und drei Kindern in Reykjavík.
1995 begann Arnaldur Romane zu schreiben. „Synir duftsins“ – gleichzeitig der erste Erlendur-Roman – markierte 1997 sein Debüt. Jährlich legt der Autor mindestens einen neuen Titel vor. Inzwischen gilt er – auch im Ausland – als einer der führenden Kriminalschriftsteller Islands. Gleich zweimal in Folge wurde ihm der „Glass Key Prize“- der Skandinaviska Kriminalselskapet (Crime Writers of Scandinavia) – verliehen (2002 für „Nordermoor“, 2003 für „Todeshauch).
Drei seiner Romane hat Arnaldur selbst in Hörspiele für den Icelandic Broadcasting Service verwandelt. Darüber hinaus bereiten die isländischen Regisseure Baltasar Kormákur bzw Snorri Thórisson Verfilmungen von „Nordermoor“ bzw. dem Thriller „Napóleonsskjölin“ (Operation Napoleon), den Arnaldur 1999 schrieb, vor.
Die Erlendur-Romane erscheinen gebunden und als Taschenbücher im (|Bastei-)Lübbe|-Verlag:
(1997) [Menschensöhne 1217 („Synir duftsins“) – TB Nr. 15530
(1998) „Dauðarósir“ (noch nicht in Deutschland erschienen)
(2000) [Nordermoor 402 („Mýrin“) – TB Nr. 14857
(2001) [Todeshauch 856 („Grafarþögn“) TB Nr. 15103
(2002) [Engelsstimme 721 („Röddin“) – TB Nr. 15440
(2004) [Kältezone 2274 („Kleifarvatn“)
(2006) „Vetraborgin“ (noch nicht in Deutschland erschienen)