Indriðason, Arnaldur – Todeshauch

_Spannend und rätselhaft: Skelettfunde auf Island_

In einer Baugrube am Stadtrand von Reykjavik werden menschliche Knochen gefunden. Wer ist der Tote, der hier verscharrt wurde? Wurde er gar lebendig begraben? Erlendur Sveinsson und seine Kollegen von der Kripo Reykjavik werden mit grausamen Details konfrontiert. Stück für Stück rollen sie Ereignisse aus der Vergangenheit auf und bringen Licht in eine menschliche Tragödie, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Während Erlendur mit Schrecknissen früherer Zeiten beschäftigt ist, kämpft seine Tochter Eva Lind auf der Intensivstation um ihr Leben, nachdem sie ihr Baby verloren hat. (abgewandelte Verlagsinfo)

_Der Autor_

Arnaldur Indridason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman [„Nordermoor“ 402 hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

_Der Sprecher_

Frank Glaubrecht ist einer der erfolgreichsten Synchronsprecher Deutschlands. Er leiht beispielsweise so bekannten Filmstars wie Al Pacino, Pierce Brosnan, Jeremy Irons und Richard Gere seine markante Stimme. Er hat u. a. Indridasons Hörbücher „Nordermoor“ und „Engelsstimme“ gelesen.

Der Romantext wurde von Sabine Bode gekürzt. Für Regie und Produktion zeichnete Marc Sieper verantwortlich. Die akustischen Motive an Anfang und Schluss des Hörbuchs stammen von Michael Marianetti.

_Handlung_

Schon die Entdeckung des Skelettes geht recht makaber und symbolisch vonstatten. Ein kleiner Junge, der an diesem Tag Geburtstag feiert, hat den „schönen Stein“ in einer der vielen Baugruben gefunden, die nun in der „Millenniums-Siedlung“ ausgehoben werden, die am Stadtrand der Hauptstadt Reykjavik entsteht. Die kleine Schwester des Jungen spielt gerade damit, als der Besucher der Mutter, ein 25 Jahre alter Medizinstudent, etwas an dem „Stein“ sonderbar vorkommt.

Kaum hat er das Ding in der Hand, um es zu untersuchen, plärrt die Kleine los. Die Mutter nimmt sie gleich auf den Arm und fragt den Mann, was los sei. „Es ist eine Rippe“, sagt er zu ihrem Erstaunen. Toti, ihr Sohn, habe ihn gefunden. Er ruft die Polizei und findet noch mehr Knochen. Die Vergangenheit hat das Millennium eingeholt.

Inspektor Sigurdur Oli hat gerade heißen Sex mit seiner Freundin Bergthora, als sein Piepser klingelt. Er ruft Kommissar Erlendur Sveinsson hinzu, um gemeinsam den Fundort der seltsamen Knochen in Augenschein zu nehmen. Die Rede ist schon vom „Millenniumsmann“. Die Spurensicherung ist bereits bei der Arbeit, als ein Archäologe namens Skarpeddin dazu mahnt, feinere Methoden als das CSI-Team anzuwenden – dauert zwar länger, berücksichtigt aber mehr Spuren und vor allem: Es werden keine Spuren zerstört. Weil sich Erlendur dafür entscheidet, gelingt den Archäologen zwei Tage später eine kleine Sensation …

Weil Erlendur vier Johannisbeersträucher aufgefallen sind, die in einer Reihe stehen, fragt er sich, ob hier wohl mal ein Haus gestanden hat. Dies ist tatsächlich der Fall. Das Sommerhaus, das in den dreißiger Jahren gebaut, aber nie ganz fertig gestellt wurde, hatte man ca. 1980 abgerissen. Es gehörte einem Kaufmann namens Benjamin Knudson. Weil seine geliebte Verlobte Solveig eines Tages verschwand, brach er die Fertigstellung ab, ein gebrochener Mann. Aber wer zog dann hier ein?

Während er Sigurdur Oli zum Ermitteln zu den Verwandten Knudsons schickt, geht Erlendur selbst dem Hilferuf seiner Tochter Eva Lind nach. Er hörte sie auf dem Handy nur „Hilf mir“ sagen, mehr nicht. Da weiß er, dass es ernst ist. Über mehrere unangenehme Stationen findet er den Weg zu ihr. Fünfzig Meter vor der Entbindungsstation des Krankenhauses liegt sie in ihrem Blut, irgendwo zwischen den Bäumen am Straßenrand. Sie ist drogensüchtig und schwanger. Die Ärzte können das Leben des Kindes nicht mehr retten, und das von Eva Lind, die auf der Intensivstation liegt, scheint ebenfalls vorüber zu sein. Erlendur verständigt über seinen Sohn auch Evas Mutter Halldora, von der er sich schon vor Jahren im Streit getrennt hatte.

Sigurdur Oli hat eine Rechnung gefunden, die Benjamin Knudson den Mietern seines Sommerhauses ausgestellt hatte, einer Familie Thoralindson. Sie lebte 1943 und 1944 im Haus am Grafaholt, doch ihre Vormieter kannte er nur flüchtig. Es scheint, der Mann habe seine Frau ebenso geprügelt wie seine drei Kinder, besonders die verkrüppelte Mikelina. Gut möglich, dass der Mann für die Engländer und die Amerikaner gearbeitet hat. Von der britischen Botschaft bekommt er Kontakt zu einem ehemaligen amerikanischen Oberst, der fast ganz zum Isländer geworden ist: Colonel Edward Hunter von der Militärpolizei.

Von Hunter erfährt Erlendur erstmals von den schrecklichen Zuständen, die in der Familie geherrscht haben mussten, die das Haus am Grafaholt bewohnte. Der Mann arbeitete im Depot der Amerikaner, war aber Mitglied eines Hehlerrings. Als dieser aufflog, betrat Hunter mit vier MPs das Haus, um die gestohlenen Waren sicherzustellen und den Dieb zu verhaften. Das war der Moment, als ihm, Hunter, das erste und einzige Mal die Hand ausgerutscht sei und er einen Mann ohne Nachzudenken geohrfeigt habe. Der Anblick, wie dessen Ehefrau zugerichtet war, habe ausgereicht.

Erlendur überlegt, ob das Skelett, das der Medizinstudent gefunden hat, dieser Frau gehört. Doch als ihn Skarpeddin, der Archäologe, zur Grabungsstelle bittet, wartet auf ihn eine Überraschung: Es sind zwei Skelette.

_Mein Eindruck_

Dieser Handlungsabriss gibt lediglich eine Hälfte des Buches wieder. Der andere Handlungsstrang beginnt in den dreißiger Jahren, als ein Dienstmädchen, das bei den Knudsons arbeitete, einen Arbeiter kennen lernte und seinen Heiratsantrag annahm. Damit begann ihr Martyrium, das bis zum Jahr 1943 dauern sollte. Colonel Edward Hunter gibt Erlendur lediglich einen Vorgeschmack dessen, was dieser später von Mikelina, der überlebenden Tochter der Frau, erfahren soll. Diese Erzählung ist es, die schließlich erklären wird, um wen es sich bei den beiden Skeletten in der Baugrube handelt. Da aber beide Handlungsstränge nur stückweise vorangetrieben werden, bleibt die Geschichte für den Leser bzw. Hörer stets und bis zum Schluss spannend. Der Autor verrät nur so viel wie nötig ist, um das Interesse aufrecht zu erhalten.

Wir haben es also quasi mit zwei Kriminalerzählungen zu tun. Das war ja schon in [„Kältezone“ 2258 so. Erlendur betrachtet das Verbrechen von 1943 im Nachhinein und von außen. Mikelina schildert die Ereignisse, die dazu führten, von innen, als Beteiligte oder doch als unmittelbare Zeugin. Es sind zwei völlig verschiedene Sichtweisen: die eine kühl und um Objektivität bemüht, die andere äußerst intensiv und voller Grauen. Die resultierende emotionale Belastung des Lesers bzw. Hörers findet durch die Erlendur & Sigurdur-Episoden jedoch eine Entspannung, die umso willkommener ist, je grausamer sich die Ereignisse in der Familie Mikelinas entwickeln.

|Abwechslung|

Diese abwechselnde An- und Entspannung ist kennzeichnend für viele Romane des Autors. Aber damit verfolgt er einen bestimmten Zweck. Denn Erlendur wird durch die Erzählung Mikelinas dazu gebracht, intensiver über seine eigene väterliche Schuld gegenüber seinen Kindern nachzudenken, insbesondere gegenüber der im Sterben liegenden Eva Lind. Entsetzt muss er feststellen, dass sie von ihrer Mutter ideologisch gegen ihn, den Rabenvater, „geimpft“ worden ist. Dass er sich mit bestimmten Argumenten dagegen verwahren werde, hat die Mutter bereits perfiderweise vorweggeahnt und ihre Tochter darauf vorbereitet. Wie sich herausstellt, muss Erlendur von sich selbst, seinem eigenen Werdegang erzählen, um wieder glaubwürdig zu werden.

|Solveigs Rätsel|

Es gibt ein weiteres kriminalistisches Rätsel, das es zu lösen gilt. Erlendur stößt zwischendurch in der Familie des Kaufmanns Knudson auf eine weitere verschwundene Frau und vermutet wie jeder Kriminalist einen Zusammenhang mit dem Skelett in der Baugrube. Wohin könnte Knudsons Verlobte Solveig verschwunden sein? Sie war, wie sich herausstellt, ungewollt schwanger geworden, wollte das Kind aber austragen. In jener Zeit um 1938 muss das ein Riesenskandal gewesen sein, und deshalb löste sie am Tag ihres Verschwindens die Verlobung. Knudson wollte sie weiterhin als seine Frau, weil er sie liebte. Dennoch verschwand sie – und „ward nie mehr geseh’n“. Angeblich ging sie ins Meer, andere meinen, Knudson habe sie auf dem Gewissen. Doch warum brachte sich Solveigs Vater erst sechs Monate später um? War er etwa der Vater ihres Kindes?

|Generalthema|

Das Generalthema des Krimis ist diesmal also die Beziehung zwischen Vätern, Müttern und ihren Kindern. Erlendur, der davongelaufene Vater, muss seine Verantwortung ebenso einsehen wie Sigurdur Oli, der noch gar nicht Vater ist, aber seine Freundin heiraten soll, um endlich Kinder haben zu können. Knudson, der nicht Vater des Kindes seiner geliebten Solveig sein durfte, scheiterte im Leben.

Doch am schlimmsten ist Grímur, der prügelnde Tyrann in Mikelinas Familie. Mikelina, sein Stiefkind und ein Krüppel, lehnte er zeitlebens ab, ebenso den nächsten Sohn, Simon. Nur Tomas fand Gnade in seinen Augen, und ihn zog er auf seine Seite, um ihn gegen seine Geschwister aufzuhetzen. Grímur missbraucht seine Autorität als Vater, macht seine Verantwortung zu einer Perversion. Colonel Hunter ist davon ebenso abgestoßen wie der Soldat David Ash, den Mikelinas Mutter kennen lernt, während Grímur für seinen Diebstahl im Knast sitzt.

|Krieg in den Familien|

Die verschiedenen Kämpfe zwischen Vätern und Müttern, die die Kinder ausbaden müssen, fordern eine Menge Opfer in diesem Krimi. Unter „Opfer“ sind nicht nur körperliche Opfer zu verstehen, also Gestorbene oder Verkrüppelte, sondern auch seelisch Getötete, wie Simon, Grímurs Sohn. Oder wie Eva Lind, die sowohl Mutter wie auch Vater abzulehnen gelernt hat.

Man könnte sich nun leicht fragen, ob der Autor den traditionellen Rollenverteilungen eine Lanze bricht: dominanter Mann, dienende Frau, versorgtes Kind. Das würde allerdings völlig verkennen, dass er ein ganzes Spektrum solcher Familien aufzeigt. Das Beispiel Grímurs stellt er besonders abschreckend hin, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass ein dominanter Mann keineswegs die Lösung des Problems darstellt.

|Die Stellung der Frau|

Aber deutlich ist zu erkennen, dass in der alten Zeit, vor und während des Krieges, die Ehefrau oder Verlobte stets die Schwächere war, und zwar wegen der geschriebenen wie auch ungeschriebenen Gesetze. Solveig löste mit ihrer ungewollten Schwangerschaft, die Folge einer Vergewaltigung, einen Skandal aus. Mikelinas Mutter konnte sich nicht scheiden lassen, weil ihr Mann seine Einwilligung verweigerte.

Ganz anders die heutige Zeit. Halldora Sveinsson hat ihrem davongelaufenen Mann den Zugang zu ihren Kindern verboten, und Bergthora, Sigurdurs Freundin, besteht auf einer Heirat. „Oder willst du etwa werden wie dein Freund Erlendur, dieser Trottel?“ Nein, das will Sigurdur ganz bestimmt nicht. Es sind jetzt die Frauen, die die Oberhand haben. Vielleicht kann nun das Millennium endlich anbrechen. Ob es besser wird, ist jedoch nicht unbedingt gesagt.

_Der Sprecher_

Frank Glaubrechts sonore Stimme – man stelle sich den Klang von Al Pacino in „The Insider“ vor – trägt die Geschichte, die Indridason spinnt, ausgezeichnet und ohne je die für die Geschichte und den Ermittler notwendige Autorität und Ruhe zu verlieren. Dennoch entwickelt sein Vortrag zusammen mit der Handlung eine tiefere psychologische Dimension, die sich in der zunehmenden Emotionalität in Glaubrechts Stimme äußert – ein gewisses zusätzliches Vibrato, das ich vernommen zu haben glaube.

Glaubrechts Vortrag ist abwechslungsreicher geworden, will mir scheinen. Einen jungen Drogendealer lässt er langsam und „tranig“ sprechen, als sei er zugedröhnt. Mikelina, als sie klein ist und ihr erstes Wort hervorzwingt, spricht stotternd und stockend. Grímur klingt zwiegespalten: Meistens ist er wütend und brüllt umher, aber manchmal, wenn er etwas herausfinden will, klingt er süß und einschmeichelnd wie eine falsche Schlange. Als er merkt, dass er vergiftet worden ist, flüstert er erstaunt. Die nachfolgende Szene ist dramatisch.

|Lesefehler?|

Simon, Mikelinas Bruder, hat die Geisteskrankheit der Hebephrenie, die Ähnlichkeit mit Schizophrenie hat. Simon, obwohl schon 70 Jahre alt, klingt wie ein kleiner Junge von acht oder neun Jahren, ist aber keineswegs „verblödet“. Doch Mikelina, die von ihrem Vater immer als „Schwachsinnige“ abqualifiziert worden war, klingt ironischerweise völlig vernünftig. Sie ging auf die Uni und ist Psychologin geworden. Sie ist sogar Erlendur, der nie zur Uni ging, überlegen und lässt es ihn spüren. Aber auf eine sehr freundliche Art.

Der einzige Fehler, der dem Sprecher unterläuft, ist die Aussprache des Begriffs „Hebephrenie“. Er sagt „Hebrephrenie“, mit einem zusätzlichen R. Der Grund ist unklar. Vielleicht wurde das Wort in seinem Textmanuskript falsch getippt und er prägte es sich so ein. Dann kann er nichts dafür.

_Unterm Strich_

Der Leser bzw. Hörer bangt mit zwei Familien: mit der, in der Grímur als Tyrann herrscht, und mit der zerbrochenen Familie Erlendur Sveinssons, die sich am Krankenbett seiner Tochter einfindet. Die Art und Weise, wie diese parallelen Schicksale verknüpft werden, ist kunstvoll ausgeführt. Der Autor verrät immer nur so viel von der Vorgeschichte bzw. dem Fortgang des Dramas, dass das Interesse wach bleibt und das gespannte Warten auf die – gute oder schlechte – Lösung des Dramas anhalten muss. Erst am Schluss, nach einem dramatischen Höhepunkt in Grímurs Familie, klären sich die Geheimnisse auf.

Auf dem Weg dorthin erfahren wir mehr über Jugend und Werdegang des Kommissars Erlendur Sveinsson. Allerdings war die Episode, wie er seinen achtjährigen Bruder im Schneesturm verlor, schon in einem früheren Roman zu lesen gewesen (ich habe vergessen, in welchem). Deshalb war diese Stelle nicht so interessant. Aber innerhalb von Sveinssons Bekenntnis gegenüber Eva Lind ist es eine sehr wichtige Stelle. Denn es erklärt, warum Erlendur schuldbewusst und ein gebrochener Mann ist, ähnlich wie Benjamin Knudson wegen seiner Solveig. Deren Verschwinden versucht Erlendur aufzuklären und hegt den Verdacht, dass es sich bei Solveig und Grímurs Frau – deren Namen wir erst ganz am Schluss erfahren – um ein und dieselbe Person handelt.

Zeitlich gehen Indridasons Romane immer weiter zurück in der Geschichte Islands. „Kältezone“ begann mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Isländer in die neu gegründeten DDR zum Studieren gingen. „Todeshauch“ behandelt eine Generation, die im Jahr des Kometen, 1910, gezeugt wurde und im Jahr 1943 während der „Besetzung“ durch die Engländer und Amerikaner ihre folgenreichste Phase erlebte. Ich gehe davon aus, dass künftige Romane diese Erforschung der isländischen Geschichte weiter vorantreiben und schließlich unweigerlich bei den Wikingern landen. Deren Ruhm als Entdecker Amerikas hat sich ja inzwischen herumgesprochen.

Der Sprecher Frank Glaubrecht gestaltet seinen Vortrag abwechslungsreich und weiß die Dramatik bestimmter Szenen glaubwürdig herauszuarbeiten. Seine Aussprache der isländischen und englischen Namen ist ebenfalls korrekt. Im gesamten Text unterläuft ihm nur ein einziger Fehler, als er das Wort „Hebephrenie“ anders ausspricht, als es geschrieben wird.

|Originaltitel: Grafarpögn, 2001
Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling
244 Minuten auf 4 CDs|
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