Indriðason/Indridason, Arnaldur – Todesrosen (Hörbuch)

_Enteignung und Ausbeutung einer amerikanischen Kolonie_

In einer hellen isländischen Sommernacht wird die nackte Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Sie liegt auf dem mit Blumen geschmückten Grab des isländischen Freiheitskämpfers Jón Sigurðsson. Kommissar Erlendur und seine Kollegen finden schnell heraus, dass es sich bei der Toten um eine Drogenabhängige handelt. Was aber sollte mit dieser Inszenierung erreicht werden? Die Ermittlungen erweisen sich bald als heikel, denn namhafte Persönlichkeiten gehören zum Kreis der Verdächtigen. (Verlagsinfo) Dies ist Kommissar Erlendurs zweiter Fall.

_Der Autor_

Arnaldur Indriðason, Historiker des Jahrgangs 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung |Morgunblaðið|. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

Indriðasons Serie um Kommissar Erlendur Sveinsson:

|Synir Duftsins|, 1997 (deutsch: [Menschensöhne, 1217 2005)
|Dauðarósir|, 1998 (deutsch: [Todesrosen, 5046 2008)
|Mýrin|, 2000 (deutsch: [Nordermoor, 402 2003)
|Grafarþögn|, 2001 (deutsch: [Todeshauch, 2463 2004)
|Röddin|, 2002 (deutsch: [Engelsstimme, 2505 2004)
|Kleifarvatn|, 2004 (deutsch: [Kältezone, 4128 2006)
|Vetrarborgin|, 2005 (deutsch: [Frostnacht, 3989 2007)
|Harðskafi|, 2007 (deutsch: Unterkühlung, für 2009 angekündigt)

Weitere Werke:

|Napóleonsskjölin|, 1999 (deutsch: [Gletschergrab, 3068 2005)
|Bettý|, 2003 (deutsch: [Tödliche Intrige, 1468 2005)
|Konungsbók|, 2006 (deutsch: Codex Regius, 2008)

_Der Sprecher_

Frank Glaubrecht ist einer der erfolgreichsten Synchronsprecher Deutschlands. Er leiht beispielsweise so bekannten Filmstars wie Al Pacino, Pierce Brosnan, Jeremy Irons, Alain Delon und Richard Gere seine markante Stimme. Er hat u. a. Indriðasons Hörbücher „Nordermoor“ und „Engelsstimme“ gelesen.

Der Romantext wurde von Natascha Blotzki gekürzt. Regie führte Thomas Krüger und die Aufnahme erfolgte durch Tobias Barthel. Die akustischen Motive an Anfang und Schluss des Hörbuchs stammen von Michael Marianetti.

_Handlung_

Ein Liebespärchen, das es in einer hellen Juninacht auf einem Friedhof von Reykjavík treibt, bemerkt erst einen davoneilenden Mann und dann einen weißen Fleck. Das Pärchen fühlt sich erheblich in seiner Aktivität gestört und schaut nach. Der weiße Fleck entpuppt sich als die Leiche einer nackten jungen Frau. Aber warum liegt sie auf den Blumen und Kränzen, die das Grab des Nationalhelden Jón Sigurðsson alljährlich am 17. Juni neu schmücken?

Diese Frage stellt sich auch Kommissar Erlendur Sveinsson, den sein Kollege Sigurður Óli geweckt hat. Hieß das tote Mädchen vielleicht Ingibjörg, fragte Erlendur. Denn so hieß Sigurðssons Frau. Der Name würde aber nicht zu dem Mädchen passen, das da ermordet und entsorgt wurde. Die Einstiche an den Armen lassen auf eine Drogensüchtige schließen, das Sperma in ihrer Scheide auf eine Prostituierte, die blauen Flecken auf einen ziemlichen brutalen Kunden. Aber was hat dieses J auf ihrer Pobacke zu bedeuten?

Wider Erwarten ist die Identität der Leiche nur schwierig zu klären, denn es gibt keine Eintragungen im Volks- und Strafregister noch irgendwelche Vermisstenmeldungen, die passen. Die einzige Zeugin auf dem Friedhof, die attraktive Bergthora, hat kein Auto gehört und macht sich mehr Sorgen darüber, dass der Mörder zu ihr kommen könnte. Vielleicht gibt das Milieu der Toten mehr her, überlegt Erlendur und sucht seine Tochter Evalind auf, die als Prostituierte arbeitete und zudem drogensüchtig war. Oder immer noch ist. Sie lebt jetzt bei einem Freund, der Geschäftsmann ist: eine noble Hütte, in der sie jetzt wohnt. Auch Erlendurs Sohn Sindri Snær ist süchtig, er ist Alkoholiker. Nach einem Zusammenbruch steckt Erlendur ihn in eine Entziehungsklinik.

Evalind findet eine Bekannte der Toten, Charlotte ist ebenfalls eine Nutte und drogenabhängig. Die Tote hat bei ihr gewohnt. Ihr Name sei Birta gewesen und sie stammte aus den Westfjorden. Doch auch dieser Name bringt keinen Aufschluss. Aber sie habe sich vor einem Mann gefürchtet, der viele Häuser besitze. Das passt zu dem anonymen Anruf von Birtas Freund, der behauptete, Birta sei bei einem Mann in dessen Ferienhaus gewesen. Das Schwein habe sie „kaputtgemacht“.

Sigurður Óli hat einen heißen Tipp: Herbert Baldursson alias Rotstein, ein Drogenhändler, der wahrscheinlich auch in der Prostitution drinhängt. Birta war wie Charlotte seine Untermieterin, doch „Herbie“, der ständig amerikanische Kraftausdrücke verwendet, streitet alles ab. Als Erlendur ihn beschatten lässt, überlistet Herbert seine Beschatter und rast zur nächstgelegenen Telefonzelle beim Postamt. Dort, so erfährt Erlendur erst viel später, ruft er eine Handynummer in den USA an, die einem Isländer gehört: einem Unternehmer namens Kallmann. Und dieser Bauunternehmer besitzt tatsächlich jede Menge Häuser in Island.

Aber Erlendur und Sigurður Óli wissen dies noch nicht, als sie zusammen in die Westfjorde aufbrechen, um die Spur von Birta zu suchen. Bestimmt lebt ihre Mutter noch irgendwo, vielleicht in Ystafjördur. In dieser abgelegenen Gegend, so finden die Kriminaler heraus, gehen bestürzende Dinge vor sich.

_Mein Eindruck_

Wer war Jón Sigurðsson? Diese Frage, die mit dem Fundort von Birtas Leiche verknüpft ist, stellt Kommissar Erlendur immer wieder. Meist sind seine Gesprächspartner junge Leute aus einer anderen Generation. Wenn Sigurður Óli sagt, er habe keine Ahnung, wer dieser Sigurðsson war, kann man es ihm noch durchgehen lassen, denn er war ja vier Jahre lang in den USA zum Studium. Aber wenn auch Eingeborene aus Reykjavík und Breitholt verneinen, je etwas vom isländischen Freiheitskämpfer und Nationalhelden gehört zu haben, dann findet nicht nur Erlendur das bedenklich. Es ist, als wäre sich Island selbst abhanden gekommen.

Und genau darum geht es: um Enteignung und darauffolgende Ausbeutung. Dieser Prozess, den der Autor anprangert, läuft auf der nationalen, der wirtschaftlich-sozialen und auf der persönlichen Ebene ab. Wie das Nichtwissen der jüngeren Generation und die Kontakte der Schurken Kallmann und Ristein verdeutlichen, haben die Amerikaner und deren Fernsehkultur und Werte inzwischen die einheimische Kultur fast vollständig verdrängt. Der Autor sieht die Amerikaner, präsent durch ihre 1998 noch existente Luftwaffenbasis, als Kolonialmacht und Island als ihre Kolonie.

|Teufelskreis|

Aber auch die EU scheint nicht gerade segensreich auf das kleine Nordmeereiland zu wirken. Seit die Fischfangquoten eingeführt wurden, so wird im Verlauf der Handlung dargelegt, haben nicht bloß Fischer die Quoten aufgekauft, sondern auch branchenfremde Investoren. Bauunternehmer wie Kallmann etwa. Diese führen sich wie Ausbeuter und Spekulanten auf, lassen das Meer leer fischen, und die einheimischen Fischer vor Ort, die nur über minimale Quotenanteile verfügen, gucken in die Röhre. Kein Einkommen, kein Auskommen, Landflucht setzt ein. Die leerstehenden Häuser kaufen – na, wer wohl? – die Spekulanten, vermieten sie als Sommer- und Ferienhäuser und treiben dort sonstwas.

|Entwurzelte Opfer|

Opfer der Landflucht sind unter anderem auch Birta und ihr Jugendfreund Janus. Sie verlieren einander dadurch, jeder Halt geht für Birta verloren, die eh schon vaterlos aufwachsen musste. Sozial und persönlich entwurzelt, interessiert es Birta einen feuchten Dreck, wer Jón Sigurðsson gewesen sein mag. Sie muss schon als Teenie anschaffen, um ihre in der Schule ausgebrochene Drogensucht bezahlen zu können.

Birtas Abstieg ist ebenso rasant wie erschreckend. Die Besuche beim brutalen Freier Kallmann sind für sie die Hölle, denn dann fühlt sie sich am meisten ausgenutzt. Dass sie ihm dabei geholfen hat, Stadträte im Bauamt erpressbar zu machen, weiß sie nicht mal. Am Ende kennt sie nur einen Weg der Vergeltung: Da sie selbst bereits durch AIDS den Tod vor Augen sieht, kann sie nur noch Kallmann anstecken, um ihn wenigstens mit auf ihren letzten Trip zu nehmen.

Janus, ihrem Freund, ergeht es, zumindest äußerlich, besser, denn er bekommt einen Job in der Fleischindustrie, genauer gesagt: beim Räuchern von Fleisch und Fisch. Mit dem Räucherofen kennt er sich bestens aus, selbst dann noch, als die Fabrik längst dichtgemacht hat, weil sie unrentabel wurde (ebenfalls ein Opfer der EU?). An dieser ehemaligen Wirkungsstätte knöpft er sich den Drogenhändler und Zuhälter Herbie Rostein vor. Leider gelingt es diesem, den Spieß umzudrehen. Das führt zu einem Wettlauf mit der Zeit, auf Leben und Tod – ein spannendes Finale.

Bis zur letzten Minute bleibt offen, wer Birta eigentlich getötet hat – und dann ausgerechnet auf dem Grab des Nationalhelden. Das darf aber nicht verraten werden. Die Antwort lohnt sich: Es war wegen der vielen Blumen dort. Birta hatte sie wirklich verdient.

|Der Sprecher|

Frank Glaubrechts sonore Stimme – man stelle sich den Klang von Al Pacino in „The Insider“ vor – trägt die Geschichte, die Indriðason spinnt, ausgezeichnet und ohne je die für die Geschichte und den Ermittler notwendige Autorität und Ruhe zu verlieren. Sein Mr. Kallmann ist entsprechend hochnäsig und verachtungsvoll, während dessen Partner Herbie Rotstein richtig fies gezeichnet wird, voller Amerikanismen, die sich Herbie aus Filmen angeeignet hat. Nur einmal flucht Herbie/Glaubrecht so laut und schnell, dass das Gesagte unverständlich ist. Wahrscheinlich lohnte sich das Verstehen aber eh nicht.

Er lockert den ruhigen Vortragsstil jedoch auf, indem er den weiblichen Figuren, so etwa Berthora und Evalind, eine höhere Stimmlage verleiht. Besonders eindrucksvoll fand ich seine Darstellung der 17-jährigen Drogensüchtigen Charlotte. Als Erlendur sie befragt, antwortet sie erst einmal mit einem unanständigen Reim und spricht dann nur sehr langsam. Birtas Mutter Erla klingt sehr erschüttert.

An manchen Stellen werden technische Hilfsmittel eingesetzt. Das bedeutet aber nicht, dass bei Telefonanrufen der von Oliver Rohrbeck so geliebte Filter eingesetzt wird, der eine Stimme plötzlich blechern klingen lässt. Nein, es geht zwar auch um einen Handyanruf, doch um zu simulieren, dass der Akku von Evalinds Handy leer ist, bleibt nur übrig, ihre Durchsage abgehackt, stockend und „löchrig“ zu gestalten. Man versteht also nur jedes zweite Wort. Die Art und Weise, wie Glaubrecht dies gestaltet, ist zwar beeindruckend, wird aber plausibler, wenn man den Einsatz eines Filters in Betracht zieht.

Da es weder Geräusche noch Hintergrundmusik gibt, brauche ich darauf nicht einzugehen. Die musikalischen Motive Marianettis sind relativ belanglos und könnten jedes Thema, das einigermaßen ernst und dramatisch ist, illustrieren.

_Unterm Strich_

In Kommissar Erlendurs zweitem Fall, der seltsamerweise jetzt erst seinen Weg zu uns findet, nimmt der Autor die Kolonialisierung Islands durch Amerika und die EU aufs Korn. Die Folgen sind nicht nur Enteignung und Ausbeutung, sondern auch Entwurzelung, Haltlosigkeit und – besonders in der jungen Generation – ein früher Tod. Durch die Korruption, ermöglicht durch Erpressung, stecken auch Verantwortliche in Regierungsämtern unter einer Decke mit den Kriminellen, die die Ausbeutung vorantreiben.

Bis Erlendur Sveinsson und sein Kollege die Drahtzieher finden, werden sie selbst kompromittiert: Seine Tochter Evalind hat für Rotstein gearbeitet, und Sigurður Óli hat sich mit einer Zeugin eingelassen. Na, prächtig. Jetzt hängt jeder mit drin, auch die Kripo. Es grenzt an ein Wunder, wenn der Fall überhaupt geklärt und der letzte Zeuge noch lebend gefunden wird. Ein spannendes Finale, wie man es sich besser nicht wünschen kann.

|Das Hörbuch|

Frank Glaubrecht liest wie fast immer mit Engagement und flexibler sprachlicher und stimmlicher Gestaltung. Er haucht mehreren Figuren Leben ein, doch leider ist sein Stimmumfang bei den meisten männlichen Figuren so begrenzt, dass sie alle gleich klingen. In der Schlussphase der Ermittlung klingt auch sein Vortrag emotionsgeladener, so dass ich gespannt darauf war, wie der Fall letzten Endes ausgehen würde. Da das Hörbuch relativ kurz ist, geht auch die Handlung rasch voran – und ist auch nach knapp viereinhalb Stunden schon wieder vorüber.

Fazit: volle Wertung für ein solide gestaltetes Hörbuch mit einem packenden Herzschlagfinale.

|Originaltitel: Dauðarósir, 1998
Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling
263 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: 978-3-7857-3561-9|
http://www.luebbe-audio.de