Indridason, Arnaldur (Autor) / Kreye, Walter (Sprecher) – Abgründe (Lesung)

_|Kommissar Erlendur Sveinsson|:_

Band 1: |Synir Duftsins|, 1997 (deutsch: [„Menschensöhne“ 1217 2005)
Band 2: |Dauðarósir|, 1998 (deutsch: [„Todesrosen“ 5107 2008)
Band 3: |Mýrin|, 2000 (deutsch: [„Nordermoor“ 402 2003)
Band 4: |Grafarþögn|, 2001 (deutsch: [„Todeshauch“ 2463 2004)
Band 5: |Röddin|, 2002 (deutsch: [„Engelsstimme“ 2505 2004)
Band 6: |Kleifarvatn|, 2004 (deutsch: [„Kältezone“ 4128 2006)
Band 7: |Vetrarborgin|, 2005 (deutsch: [„Frostnacht“ 3989 2007)
Band 8: „Kälteschlaf“
Band 9: „Frevelopfer“
Band 10: _“Abründe“_
Band 11: „Furðustrandir“ (noch ohne dt. Titel)

_Grenzenlose Gier: Nummer vier muss sterben_

Island 2005 – die Wirtschaft boomt in nie gekanntem Ausmaß. Ehrgeizige junge Unternehmer machen durch clevere Finanzgeschäfte weltweit von sich reden. Ganz Island bewundert seine „Expansionswikinger“. In dieser Zeit des unbegrenzten Wachstums kommt ein Banker durch einen Sturz von einer Steilklippe ums Leben. Ein Unfall? Kurz darauf wird eine junge Frau von einem Schuldeneintreiber zu Tode geprügelt. Beide Ereignisse scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Nur eines ist sicher: Geld spielte in beiden Fällen eine entscheidende Rolle … (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Arnaldur Indriðason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

Weitere Romane von Indriðason:

Engelsstimme
Todeshauch
Kältezone
Gletschergrab
Nordermoor
Todesrosen
Menschensöhne
Codex Regius
Frostnacht

_Der Sprecher:_

Walter Kreye, geboren 1942, studierte an der „Schauspielschule Bochum“. Er spielte an den großen Theatern Deutschlands und ist dem Hörer nicht nur durch zahlreiche Film- und TV-Rollen bekannt. Seit Anfang 2008 ist kreye als Nachfolger von Rolf Schimpf alias „Leo Kress“ in der Krimiserie „Der Alte“ zu sehen. Seine Stimme war in den verschiedensten Hörspiel- und Hörbuchproduktionen zu hören. Für Hörbuch Hamburg hat er beispielsweise „Der Professor“ von Amélie Nothomb gesprochen.

Regie in den L.A. Tonstudios, Köln, führte Thomas Krüger. Die Musik trug Michael Marianetti bei. Den Text kürzte Kai Lüftner.

_Handlung_

Kommissar Erlendur ist im Urlaub. Seine Assistent Sigurdur Oli denkt, er tut einem Freund nur einen Gefallen, als er an die Haustür des Ehepaars Sigurlina Thorgrimsdottir und Ebenezer – kurz „Lina“ und „Ebi“ – klopft. Doch dann geht die Tür von alleine auf … Sein Freund, der Ingenieur Patrickur, hat ihn mit dem erfolgreichen Reiseleiter Hermann bekannt gemacht. Der hat behauptet, „Lina“ und „Ebi“ würden ihn und seine Frau erpressen. Sie drohten, die Fotos und Videos, die sie auf gemeinsamen Swinger-Partys gemacht hätten, ins Internet zu stellen, sollten sie nicht zahlen. Tja, und nun tritt Sigurdur in Linas Haus.

Eine weibliche Gestalt liegt blutüberströmt auf dem Boden des verwüsteten Wohnzimmers. Ist es Lina? Als Oli sie untersucht – sie lebt noch – bemerkt er eine Bewegung aus dem Augenwinkel und kann den Hieb eines Baseballschlägers gerade noch abwehren. Da flüchtet der Mann sofort, Oli ihm nach. Doch der Mann scheint ein wahrer Sprinter zu sein, und Oli verliert seine Spur im Park vor der psychiatrischen Klinik. Die Fahndung erbringt nichts. Lina wird im Koma ins Krankenhaus eingeliefert. Ihr Mann Ebenezer kehrt sofort von seiner Gletschertour zurück und starrt Lina bestürzt an. Alle Fragen Olis hinsichtlich Erpressung und so wehrt er als Unsinn ab.

Doch als Sigurdur die Besitzer der Autos am Tatort abklappert, stößt er auf die Telefonistin Sara. Sie hat ihn angelogen, findet er zu seinem Leidwesen heraus. Beim Nachhaken gibt sie zu, dass ihr Bruder Kristian ihr Auto einfach genommen habe. Und Kristian, ein Junkie, gibt an, er habe das Auto seinem Freund Thorarinn leihen müssen, um seine Schulden abzubauen. Thorarinn ist offenbar laut Akte ein Drogendealer, der Kristian einsetzte, und zudem ein Schuldeneintreiber mit Knochenbrecherqualitäten. Und Lina und Ebenezer haben offenbar hohe Schulden bei ihm.

Genau wie Hermann und seine Frau, die politische Ambitionen hat. Als Oli eine Kollegin der inzwischen verstorbenen Lina in einer Wirtschaftsprüferkanzlei befragt, steht auf den Kundenlisten auch der Name von Hermann und Patrickur. Die beiden haben Oli ebenfalls angelogen. Sie kannten Lina und Ebi schon vor der Swinger-Party. Und zur Rede gestellt gibt Patrickur unumwunden zu, er habe mit Lina geschlafen. Aber nur einmal. (Wirklich?) Was verschweigen die beiden ihm noch, fragt sich Oli. Er ahnt noch nicht, dass der isländische Banker Thorfinnur, der auf einer von Linas Wandertouren erst verschwand und viel später tot im Meer wiedergefunden wurde, etwas mit dem Angriff auf Lina zu tun haben könnte.

Denn Oli beschäftigt sich mit einem zweiten, erschütternden Fall. Der Stadtstreicher Andres gibt ihm einen kurzen 8-Millimeter-Film, auf dem er selbst als zehnjähriger Junge zu sehen ist. Wer filmt den offensichtlich verzweifelten Jungen? Ist es der Peiniger? Mit Hilfe einer Lippenleserin erfährt er, was der gepeinigte Junge fortwährend zu dem Filmer sagt: „Hör auf! Ich will nicht mehr.“

In einem Gespräch mit Andres wird Olis Verdacht erhärtet, dass es sich bei dem Filmer und Peiniger des jungen Andres – das muss um das Jahr 1970 gewesen sein – um dessen Stiefvater Rögnvaldur handeln muss. Der war zwischenzeitlich verschwunden, ist aber vor wenigen Monaten wieder aufgetaucht. Und wieder verschwunden. Hat Andres dabei die Finger im Spiel? Wozu hat er sich eine Ledermaske gefertigt?

Dann widmet sich Oli wieder dem Fall des Mordes an Lina. Von dem Junkie Kristian erhält er einen Hinweis auf Höddi, einen Freund des untergetauchten Thorarinn. Er folgt ihm spätabends und gelangt zurück in jene Gegend, in der er seinerzeit die Spur des Sprinters verlor. Tatsächlich war Thorarinn mal Leichtathlet und trägt den Spitznamen „Toggi Sprint“. Kein Wunder, dass er Oli abhängte. Nachdem Höddi für eine halbe Stunde mit einer Tüte Hamburger in einer Autowerkstatt verschwunden und ohne diese Tüte wieder weggefahren ist, schleicht sich Oli vorsichtig zur Werkstatt …

_Mein Eindruck_

Olis Ermittlung bewegt sich relativ zielstrebig und linear ihrem Ziel zu. Er hat zwei Morde aufzuklären, den an Lina und den an dem Banker Thorfinnur. Offenbar besteht zwischen den beiden Fällen eine Verbindung. Hat der Schuldeneintreiber Thorarinn etwas mit den Bankern zu tun, die den Mord an ihrem Kollegen vertuschen wollten, indem sie Lina, die Reiseleiterin, ebenfalls beseitigten? Oder steckt noch mehr dahinter?

Welche Rolle spielen dann in dieser Verbindung die Herrschaften Hermann und Patrickur sowie ihre Frauen? Erst als Oli spätabends noch mal die Abhörprotokolle von Höddis Telefon durchliest, stößt er auf den Schlüssel, einen Namen, der ihm sehr bekannt vorkommt. Er schimpft sich einen dämlichen Hornochsen, weil er sich von einer persönlichen Beziehung zu einem Namen in dem Fall hat abhalten lassen, genauer nachzuforschen. Er schwört sich, keine Gnade mehr walten zu lassen und dann den gesamten Doppelfall an seine Kollegen abzugeben – er steckt viel zu tief persönlich drin.

|Nemesis der Gier|

Soweit so schön. Der Rest der Geschichte ist allerdings ein wenig vorhersehbar. Vier isländische Banker führen anno 2005 – also kurz vorm Crash – mit Lina nach Nordisland, doch nur drei kehrten zurück. Warum musste Nummer 4 sterben? Und warum hat Lina laut Kollegin gesagt, die vier würden ein „kaltschnäuziges Projekt“ einfädeln?

Vom heutigen Kenntnisstand aus gesehen, ist die Bankenkrise in Island eine Geschichte der allseitigen Gier, des Größenwahns und des Filzes gewesen. Als Indridason seinen Roman schrieb, kamen die wichtigsten Fakten zu dem allumfassenden Skandal, der den Präsidenten das Amt kostete, in einem Klima der Empörung ans Tageslicht, und entsprechend prangert der Autor auch die Machenschaften der Banker an.

Anno 2009 trug dieser Krimi sicher zu Erhellung der Fakten bei und klagte zurecht die richtigen Drahtzieher an. Aber uns Mitteleuropäern ist vielleicht das gesamte Ausmaß der Katastrophe nicht bewusst, und in dieser Hinsicht liefert der Roman einen nützlichen Beitrag. Und erst unter diesem Blickwinkel ergibt der Handlungsstrang mit dem als Kind missbrauchten Andres einen Sinn.

|ACHTUNG, SPOILER!|

Den Bankern in Island ging es vor allem um billige Kredite. Diese bekamen sie aus allen möglichen Quellen, solange jeder jedem die Bonität bescheinigte – ein Geflecht von Interessen, Filz genannt. Damit die Kredite Zinsen abwarfen, bedurfte es zweier Bedingungen: einer Spezialität des isländischen Kapitalmarktes, die den Zins laufend steigen ließ, und einer Vielzahl von Investitionsmöglichkeiten. Die Jung-Banker wurden zu „Expansionswikingern“, die in ganz Europa, v. a. aber in London, Anlagemöglichkeiten suchten.

Als ihnen ein Luxemburger Bankmanager die Riesensumme von 45 Mio. Euro als Darlehen anbot, konnten sie die günstigen Bedingungen kaum fassen. Ein Jahr lang keine Tilgung, die Zinsen praktisch garantiert und – aufgeteilt auf fünf – in Steueroasen praktisch unversteuert anlegbar. Was für ein Schnäppchen! Doch Banker Nr. 4, Thorfinnur, wurde misstrauisch: Woher stammt diese Riesensumme?, wollte er wissen. Für wen sollten sie das Geld waschen, etwa für die Mafia? Als er es endlich erfuhr, stieg er sofort aus und wollte zur Polizei gehen. Das konnten die anderen drei nicht zulassen. Auch wenn sie selbst ein mieses Gefühl dabei hatten, Geld aus der Kinderpornografie zu verwenden …

Das Stichwort „Kinderpornografie“ ist der Berührungspunkt zu Andres‘ Tragödie. Denn von ihm wurden ja Pornofilme gedreht, die dann wiederum ordentlich Profit einbrachten. Die 45 Millionen sind richtiges Blutgeld, erkauft mit dem Leid von kleinen Kindern. Als Andres auf einem schneebedeckten Grabstein einsam und verlassen erfriert, stirbt er stellvertretend für alle Opfer der Kinderpornografie – und der Finanzhaie in Island. Genauso gut hätte der Autor die Banker ans Kreuz nageln können. (Der Kreuzigungstod ist einer der qualvollsten: Das Opfer verblutet nicht, sondern erstickt.)

_Der Sprecher_

Walter Kreye ist einer der besten männlichen Sprecher im deutschsprachigen Raum. Man nimmt ihm den Ausdruck der Anklage und der Betroffenheit durchaus ab, wenn er Sirgurdur Oli dies darstellen soll. Oli ist ein altertümlicher Typ: Er regt sich noch über die Fehler junger Männer auf, statt sie apathisch zu ignorieren oder sarkastisch abzuqualifizieren. Er ist seine eigene „moralische Anstalt“, um mit Schiller zu reden. Das macht ihn als Mensch so sympathisch, als Ermittler so hartnäckig und als Figur so anachronistisch. Für eine solche Figur ist Kreyes Vortragsweise wie geschaffen.

Denn er legt noch Emphase in seinen Vortrag, statt den Text routinemäßig runterzurattern. Seine Figuren seufzen noch, flehen und klagen, regen sich auf und drohen sogar. Wenn er den alten Andres darstellt, dann stimmt das zwar nicht alles hundertprozentig, aber die stockende, heiser-leise Ausdrucksweise des Missbrauchsopfers und Alkoholikers geht dennoch unter die Haut. Wenn man gewillt ist, genau zuzuhören.

Die männlichen Figuren weiß Kreye gut auseinanderzuhalten, doch die weiblichen klingen alle gleich. Deshalb muss er sie situationsbedingt individuell darstellen. So ist etwa Linas Kollegin in Zeitnot und redet hastig – was Oli in keinster Weise aus seiner Seelenruhe bringt. Die markanteste männliche Figur neben Andres ist Höddi, der Schläger, der stets eine Drohung auf den Lippen hat.

Jede CD endet mit einem Teil des Intros bzw. Outros, das Michael Marianetti beigesteuert hat. Ein Piano spielt dramatische Kadenzen, bis schließlich die unterstützende Rhythmusgruppe hinzukommt, so dass das Grundmotiv allmählich in Fahrt kommt. Das ist zwar nicht ausgefeilt, aber wirkungsvoll, und das reicht.

_Unterm Strich_

Das Anliegen Indridason ist löblich: Die Kritik an der Exportwikinger-Mentalität der Isländer vor 2008, die alles, was sie raffen konnten, auf Pump kauften – bis das Pump-System zusammenbrach. Die dabei an den Tag gelegte Gier kostete nicht nur zwei Menschenleben, deren Verlust unser braver Inspektor herauszufinden hat, sondern hatte auch einen moralischen Preis: Kinderpornografie, deren Profiten gewaschen werden sollten.

Was mir an diesem Plot fehlte – und das lag vielleicht an der Kürzung des Textes – waren eine Liebesgeschichte und eine persönliche Verstrickung des Ermittlers in den ganzen Fall. Diese Verstrickung ist zwar in den Augen der Polizei gegeben, aber nicht in unseren Augen. Ein paar Frenden einen Gefallen zu tun, das erscheint eher als Kavaliersdelikt.

|Das Hörbuch|

Womit ich mehr Unbehagen hatte, ist die radikale Kürzung des Textes auf den Kern des Plots hin. Das fördert zwar das Verständnis der Handlung ungemein, lässt aber praktisch nur noch zwei Charakterisierungen zu: die des Ermittlers und von Andres, seinem Antipoden, der offenbar auch im Gerechtigkeitsgeschäft ist. Wer also mehr über die gierigen Banker und ihre Mentalität erfahren will, der sollte zum Buch greifen. Allen anderen reicht die Lesung.

Walter Kreye wirft seine sprecherspezifische Autorität in die Waagschale, um die moralische Haltung des Autors und des Ermittlers zu stützen. Zurückhaltung wäre hier falsch am Platz gewesen. Und Kreye gelingt auch, die beiden Hauptfiguren Oli und Adres einigermaßen zu charakterisieren. Die meisten anderen bleiben charakterlich schattenhaft, deshalb erweckt sie per situationsabhängiger Dramatik zum Leben. Das ist okay für eine befriedigende Lesung.

|4 Audio-CDs mit 310 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Svörtuloft (2009)
Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling
ISBN-13: 978-3785744581|
[www.luebbe.de]http://www.luebbe.de

_Arnaldur Indriðason bei |Buchwurm.info|:_
|Napóleonsskjölin|, 1999 (deutsch: [„Gletschergrab“ 3068 2005)
|Bettý|, 2003 (deutsch: [„Tödliche Intrige“ 1468 2005)
[„Tödliche Intrige“ (Hörspiel)]http://buchwurm.info/REDAKTION/review/book.php?id__book=7155

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