Jacobs, A. J. – Britannica & ich

In der Mitte seiner Dreißiger zieht Arnold Jacobs, recht erfolgreicher Redakteur bei einer Zeitschrift für Popkultur, glücklich verheiratet und auf Nachwuchs hoffend, Bilanz. Er kommt zu dem erschreckenden Ergebnis, dass er sich zumindest intellektuell bereits auf dem absteigenden Ast befindet. Ein heroisches Projekt soll ihm die geistige Überlegenheit zurückbringen, die er, der einstige Philosophie-Student, seit jeher für sich gepachtet zu haben glaubt: Jacobs will sich durch die 32 Bände der „Encyclopaedia Britannica“ arbeiten. Dieses Lexikon gilt als qualitätvollste Sammlung der Erkenntnisse, die sich der Mensch bis heute aneignen konnte. Auf 33.000 eng bedruckten Seiten wird es in 65.000 Artikeln präsentiert – ein Opus manifestierten Wissens, das 44 Millionen Wörter umfasst.

Anderthalb Jahre dauert es, bis Jacobs sein Lektürepensum hinter sich gebracht hat. Was ihm bei seiner Expedition durch die „Encyclopaedia Britannica“ besonders in die Augen sticht, gibt er an uns, seine Leser, weiter. Dabei zitiert er nicht, sondern gibt das Erlernte in eigenen Worten wieder. Jacobs liest aber nicht nur, sondern hält darüber hinaus fest, was er erlebt, wenn er sein Lager verlässt. Er verbirgt sich nicht im stillen Kämmerlein, sondern informiert die Menschen in seiner Umgebung über seinen Plan, provoziert sie regelrecht damit und registriert deren Reaktionen, die vom fassungslosen Staunen bis zum kaum verhohlenen Stirntippen mit dem Zeigefinger reichen. Begeisterung oder offenen Zuspruch findet Jacobs nirgendwo. Selbst diejenigen, die seine Beweggründe nachvollziehen können, warnen ihn: Intelligenz und Wissen seien nicht identisch. Beide sind zwar auf einer bisher nicht wirklich erfassten Ebene miteinander verzahnt, doch sie müssen nicht zwangsläufig zusammenwirken.

Jacobs lässt sich nicht einschüchtern. Er geht seinen Weg, erlebt die Freuden, die das Lernen bringen und aus dem sich eine regelrechte Sucht entwickeln kann, ebenso intensiv wie die (genussvoll) ausgemalten Schattenseiten: die Einsamkeit des Studierens, die Langeweile angesichts wüstentrockener Themen, die Frustration im Angesicht der schieren Informationsmassen, die zudem einfach nicht im Gedächtnis haften bleiben wollen.

Die „Britannica“ wird ein fester Bestandteil von Jacobs‘ Alltag. Er integriert sie nicht nur, sie beginnt sogar sein Leben zu bestimmen. Jacobs bemerkt tatsächlich ein Zunehmen seines Wissen. Vor allem wächst sein Selbstvertrauen. Schließlich geht es sogar das Wagnis ein, sich zur US-Version von „Wer wird Millionär?“ anzumelden. Der Weg auf den „heißen Stuhl“ vor den TV-Kameras gestaltet sich komplizierter als gedacht. Als die damit verbundenen Hürden endlich aus dem Weg geräumt ist, muss Jacobs eine unerfreuliche Entdeckung machen: Sein mit Wissen vollgestopftes Hirn verweigert ihm den Dienst. Er versagt schmählich und muss sich letztlich doch der Frage stellen, welcher Sinn hinter seinem „Britannica“-Marathon steckt.

Freilich ist diese Frage wohl eher rhetorisch gemeint. Hat Jacobs wirklich gedacht, die Lektüre der „EB“ würde ihn zum „Know-It-All“ und „klügsten Menschen der Welt“ machen? (So lauten der Originaltitel bzw. der deutsche Untertitel.) Sicherlich nicht, denn auch ihm wird klar gewesen sein, welche Kreatur einer solchen Tortur viel besser als jeder Mensch gewachsen wäre: ein Papagei mit Festplatte im Hirn.

Vor der schieren Wucht der „EB“-Informationen – die letztlich auch nur eine Auswahl dessen umfassen, was der Mensch insgesamt an Erkenntnissen gewonnen hat – muss das Menschenhirn kapitulieren. Es ist auch nicht seine Aufgabe, als reiner Wissensspeicher zu funktionieren. Wie Autor Jacobs schmerzlich erfahren muss, lässt es sich auch nicht darauf trimmen, Informationen auf Abruf bereitzuhalten. Das Gehirn ist ein Organ, das mit dem „Mut zur Lücke“ vorzüglich seinen Dienst leistet. Diese Lücken lassen sich in Zahl und Breite vermindern, aber niemals gänzlich und auf Dauer füllen.

Doch diese Argumentation weist in eine Richtung, die uns weit fort führt von dem, was „Britannica & ich“ eigentlich vermitteln soll. Jacobs hat kein Sachbuch geschrieben – eine zunächst verblüffende Tatsache, weil das umfangreichste Lexikon der Welt thematisiert wird, aus dem der Autor ausgiebig zitiert. Halt, schon das ist so nicht richtig: Jacobs paraphrasiert wie schon gesagt, was er in der „EB“ gelesen hat, d. h. er gibt es mit eigenen Worten wieder. In einem weiteren Schritt kommentiert er die ausgesuchten Artikel. Paraphrase und Kommentar sind nicht in sachlichem Ton gehalten, sondern werden in humorvoller Weise dargestellt. Das kann recht komisch sein, muss aber und ist es leider oft auch nicht („Gymnasium: Die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen lautet ‚Anstalt für Leibesübungen mit nacktem Körper‘. Weshalb es sich umso dringender empfiehlt, den Hometrainer vor Gebrauch gründlich abzuwischen.“ – S. 140). Jacobs benutzt die „EB“ im Grunde nur als Steinbruch. Hier findet er das Material, aus dem er sein eigentliches Produkt herstellt: die geistvoll-witzige Plauderei über eine Tätigkeit, welche bei nüchterner Betrachtung ebenso „nützlich“ ist wie der Versuch, möglichst viele Studenten in einen |VW Käfer| zu stopfen.

Es brauchte kein „Experiment“, um wie Jacobs zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Lektüre der „EB“ dich nicht klüger macht. Doch sein Unternehmen verschaffte ihm, was er dringender suchte: das Thema für ein Buch, mit dem sich Aufmerksamkeit erregen ließ. Jacobs schreibt u. a. Kolumnen, in denen er sich über die Absurditäten einer zunehmend trivialisierten Welt auslässt. Er ist also sein Job, witzig zu sein. Hier übt er ihn eben in Buchform aus.

Dabei wird auch das verfasserliche Privatleben einbezogen. A. J. Jacobs ist anscheinend ein Mensch, dem ständig seltsame und komische Dinge zustoßen. Auch hier greift das Stilmittel der Überspitzung, denn seltsam und komisch sind die geschilderten Ereignisse primär, weil Jacobs sie als geschickter Humorist dazu macht. Zwar fließen durchaus ernsthafte Erfahrungen ein. Jacobs‘ Verhältnis zu seinem Vater wird offenbar von einem lebenslangen Minderwertigkeitskomplex geprägt. Der Senior, ein berühmter Jurist, ist tatsächlich ein kluger Mann, der das auch im Alltag lebt und zumindest in der juristischen Welt tiefe Fußstapfen hinterlassen hat. Intellektuell ist ihm der Junior nicht gewachsen. „Britannica & ich“ stellt auch Jacobs‘ Versuch dar, mit sich und dem Vater ins Reine zu kommen. Der US-amerikanische und damit zwangsneurotisch optimistische Grundtenor dieses Buch lässt dies selbstverständlich mit einem Happy-End enden.

Das gilt auch für das zweite Problemchen, mit dem Jacobs die „Rahmenhandlung“ von „Britannica & ich“ unterfüttert. Ausführlich schildert er, wie er und seine Gattin Julie erfolglos ein Kind in die Welt zu setzen versuchen. Weil er immer wieder darauf zurückkommt, muss ihn das während seiner „EB“-Lektüre wirklich beschäftigt haben. (Ob das auf seine Leser ebenfalls zutrifft, fragt er sich leider nicht.) Doch umgehend werden wieder Witzchen gerissen, auf dass bloß kein Trübsinn aufkommt. Dies würde auch gar nicht zur Story passen, in der Jacobs seiner Julie eine fixe Rolle zugewiesen hat: Während er den halbwegs lebensuntauglichen Luftikus mimt, gibt sie die kluge, geduldige, ironisch kommentierende Frau an seiner Seite, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Kein Wunder, dass sich Julie sowie die zahlreichen weiteren Mitglieder des Jacobs-Clans, die immer wieder Erwähnung finden, nicht gegen ihren „Auftritt“ in „Britannica & ich“ sträubten – sie haben mit den realen Personen sicherlich wenig gemeinsam.

Nein, „Britannica & ich“ ist – ich habe es nun schon mehrfach angesprochen – nichts als ein mehr als 400-seitiger Spaß. Als solcher funktioniert er, denn Jacobs beherrscht den unverbindlichen Plauderton, der unabhängig vom gewählten Thema unterhält. Man liest dieses Buch einfach gern, amüsiert sich oft und sieht gnädig über die nicht gerade zahlenarmen humoristischen Rohrkrepierer hinweg (oder schiebt sie auf die – insgesamt freilich gelungene – Übersetzung; auf S. 180 lese ich allerdings „Du weißt wohl doch nicht alles, was, Cliff Calvin“? Richtig muss es „Cliff Clavin“ heißen, und dies ist der ewig besserwisserische Postbote aus dem US-Sitcom-Klassiker „Cheers“). Und sobald das (in seiner deutschen Ausgabe „Britannica“-würdig mit Goldschnitt geschmückte) Buch zugeschlagen ist, ergeht es einem wie dem Verfasser mit der „EB“: Was man gelesen hat, ist schon wieder aus dem Gedächtnis entwichen – das untrügliche Zeichen dafür, dass es wohl nicht so wichtig war …

Arnold Stephen Jacobs, jr., wurde am 20. März 1968 in New York geboren. Er studierte an der Brown-Universität Philosophie. Nach seinem Abschluss arbeitete er für diverse Zeitschriften und schrieb u. a. eine Kolumne für „Entertainment Weekly“, in welcher er sich über Phänomene der modernen Popkultur ausließ. Zurzeit ist er leitender Redakteur beim „Esquire“. Mit seiner Gattin Julie Schoenberg und seinem Sohn Jasper lebt Jacobs weiterhin in New York. Über sein Werk informiert (inklusive Blog) die Website http://www.ajjacobs.com. Dort erfahren wir u. a. von seinem aktuellen Projekt: Für ein geplantes Buch mit dem Titel „A Year of Living Biblically“ will Jacobs ein Jahr streng nach den Vorschriften der Bibel leben – im 21. Jahrhundert wird sich dabei sicherlich ebenso viel Stoff für ein Buch finden lassen wie für „Britannica & ich“ …

http://www.ullsteinbuchverlage.de/listhc/

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