James, Henry / Gruppe, Marc – Unschuldsengel, Die (Gruselkabinett 5)

Eine Pfarrerstochter wird von dem Vormund zweier engelsgleicher Kinder als Gouvernante eingestellt. Der in London als Lebemann logierende Herr will mit den Blagen offensichtlich nichts zu tun haben und beauftragt die Gouvernante, die seinem Charme sofort erliegt, ihm nie und nimmer zu schreiben, ihn nicht um Rat zu fragen und alle Probleme selbst zu lösen. Fürstlich entlohnt, entsendet er die junge Frau auf den Landsitz Bly, wo die Kinder recht einsam leben.

Auf Bly angekommen, wird die Gouvernante zunächst aufs Herzlichste von der Haushälterin Mrs Grose und den Geschwistern Flora und Miles begrüßt. Sie schließt die liebenswerten Kinder sofort ins Herz, fühlt sich prompt ins Paradies versetzt und bezeichnet die beiden fortan als „meine Kinder“. Doch die Idylle soll bald gestört werden. Der zuckersüße und wohlerzogene Miles ist von seiner Schule verwiesen worden und die Gouvernante zerbricht sich den Kopf darüber, was er, der kein Wässerchen trüben kann, wohl angestellt haben mag. Gleichzeitig fängt sie an, Geister zu sehen. Zuerst den ehemaligen Leibdiener des Vormunds, Peter Quint, später dann auch noch dessen vermutliche Geliebte Ms Jessel.

Es gilt, die Kinder vor dem verruchten Einfluss der beiden zu schützen. Doch nach und nach kommen der Gouvernante Zweifel: Sind die beiden wirklich so unschuldig, wie sie vorgeben? Oder ist all dies nur Fassade, um hinter verschlossenen Türen mit den Toten zu kommunizieren und die arme Gouvernante zu hintergehen? Sie jedenfalls ist entschlossen, die Kinder vor der Korruption durch Quint zu beschützen, doch wie soll ihr das gelingen, wenn sie plötzlich alle gegen sich sieht?

Die Situation spitzt sich immer mehr zu, und zusammen mit der bodenständigen Haushälterin Mrs Grose ist man sich nie ganz sicher, ob die bösen Geister nun tatsächlich existieren oder nur ein Produkt der überbordenden Fantasie der Gouvernante sind.

Literarisch versierteren Hörern wird die Erzählung „Die Unschuldsengel“ wohl eher unter dem eigentlichen Titel „Die Drehung der Schraube“ (engl. „The Turn of the Screw“) ein Begriff sein. Erstmals 1898 in Fortsetzung erschienen, gehört „Die Drehung der Schraube“ zu Henry James‘ Meistererzählungen. Der 1843 in Amerika geborene James verbrachte einen Großteil seines Lebens in Europa und wurde 1915, ein Jahr vor seinem Tod, sogar englischer Staatsbürger. Seine über 100 Erzählungen, 20 Romane und nicht zuletzt seine theoretischen Arbeiten zur „Kunst des Romans“ haben den modernen Roman maßgeblich beeinflusst. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei in der Bedeutung des Bewusstseins im Gegensatz zu den hinter ihm zurücktretenden äußeren Ereignissen. Diese Problematik wird auch in „Die Drehung der Schraube“ stark thematisiert. Die Gouvernante, in der englischen Provinz mit den sie überfordernden Problemen praktisch allein gelassen, wird ihrer Vorstellungskraft nicht mehr Herr. Die beiden Kinder vor der moralischen Korruption (in was auch immer diese genau bestehen mag) durch die in Unzucht (un)lebenden Geister zu beschützen, wird ihr persönlicher Kreuzzug. Dabei ist die Erzählweise der besondere Kniff: Wir erfahren den Ablauf der Handlung durch die Gouvernante selbst und so wird nie ganz klar, ob es sich um eine reale Bedrohung durch Geister (und damit um eine klassische Geistergeschichte) oder um eine neurotische Reaktion der nervlich überreizten Gouvernante (und demnach um eine psychologische Erzählung) handelt. „Die Drehung der Schraube“ stützt mal die eine, mal die andere Theorie und die Unsicherheit im Hinblick auf das tatsächliche Geschehen ist die Crux der Geschichte. Auch als Leser bzw. Hörer ist man stetig hin- und hergerissen, der Gouvernante oder den Kindern zu glauben, eine eindeutige Lösung wird allerdings nie präsentiert.

Das Hörspiel schafft es wunderbar, diesen Tanz auf dem Drahtseil aufrecht zu erhalten. Mal erscheint die Gouvernante vollkommen hysterisch. An anderer Stelle geben sich Miles und Flora dagegen durchaus dämonisch und man möchte an die Existenz der zerstörerischen Geister glauben. Das Hörspiel von |Titania Medien| lebt damit besonders von den drei Protagonisten: Rita Engelmann als Gouvernante, Charlotte Mertens als Flora und Lucas Mertens als Miles. Unterstützt wird die beklemmende Wirkung durch die atmosphärische Klaviermusik, die vor dem geistigen Auge prompt karge englische Landschaften heraufbeschwört, über die ein hartnäckiger Nebel hinweggeistert.

|Titania|-Mastermind Marc Gruppe hat sich mit „Die Drehung der Schraube“ an ein literarisches Meisterwerk gewagt. Das hätte auch schief gehen können, doch zielsicher bewahrt das Hörspiel die Mehrdeutigkeit der Erzählung und damit deren größten Reiz. Ob es sich nun tatsächlich um eine Geister- oder gar Gruselgeschichte handelt, muss jeder für sich entscheiden, kann „Die Drehung der Schraube“ doch ebenso als eine Metapher für das Wirken der Literatur im Allgemeinen gelesen werden. Das Geheimnis der Geschichte entzieht sich dem Leser, sobald er meint, es fassen zu können. Und gerade daraus, nicht aus den imaginären oder realen Geistern, zieht James‘ Erzählung ihre Faszination.

Bei Henry James‘ „Die Drehung der Schraube“ handelt es sich um ein Muss im Bücherschrank eines jeden Liebhabers. Und jetzt gilt dieses Muss auch für’s CD-Regal!

_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)