Jankrift, Kay Peter – Henker, Huren, Handelsherren: Alltag in einer mittelalterlichen Stadt

_Lebendige und spannende Darstellung einer versunkenen Epoche_

Der Autor lädt zu einer Begegnung mit reichen Goldschmieden, zerlumpten Bettlern, unheimlichen Scharfrichtern, „hübschen Frauen“ und vielen weiteren mittelalterlichen Zeitgenossen ein. Der Spaziergang durch den Alltag von der Zeit des Schwarzen Todes (ca. 1350) bis zum Beginn der Reformation (1517) wird spannend gezeigt vor dem Hintergrund der bestens dokumentierten Stadt Augsburg, die auf 200 Jahre Geschichte zurückblicken kann.

_Der Autor_

Kay Peter Jankrift, 1966 als Sohn eines Friseurmeisters (dem dieses Buch gewidmet ist) geboren, studierte Geschichte, Semitische Philologie und Islamwissenschaft an den Unis Münster und Tel Aviv. Als Privatdozent lehrt er Mittlelalterliche Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. (Verlagsinfo)

_Inhalt_

Der Versuch, eine ganze Epoche zum Leben zu erwecken, ist nicht einfach und erfordert zahlreiche einzelne Schritte. So wie der Künstler ein großes Gemälde von jeher in kleine Planquadrate aufteilt und anfängt, diese nacheinander auszumalen, so besteht auch dieses historisch-beschreibende Buch aus zahlreichen Kapiteln und Unterkapiteln. Sie sind einigermaßen folgerichtig angeordnet, so dass die späteren Kapitel auf dem Wissen der vorhergehenden aufbauen können. Erst im Nachhall wird aus den einzelnen Bausteinen ein Gebäude, aus den Einzelteilen ein Ganzes, aus den Planquadraten ein Gemälde.

Die behandelte Epoche sind jene rund tausend Jahre, die zwischen dem Ende Westroms um 410 und dem Beginn der Reformation um 1518 liegen. Da trifft es sich gut, dass die Stadt Augsburg, die in den meisten Kapiteln die wohl dokumentierte Hauptrolle spielt, sowohl eine römische Gründung ist (um das Jahr 15) als auch den ersten Prozess gegen Martin Luther anno 1518 sah. Dazwischen lag um 955 ein ebenso einschneidendes Ereignis: die Schlacht auf dem Lechfeld. Dabei wehrten Kaiser Otto I. und der Augsburger Bischof mit ihren Truppen die Invasion der Ungarn ab. Auf diesen Erfolg hielten sich nicht wenige Augsburger Geschlechter und Zünfte etwas zugute. Man wusste hier schon immer, aus Verdienst weiteren Verdienst zu schlagen.

Ein anderer Kaiser verlieh der Stadt 1316 spezielle Sonderrechte und unterstellte sie unmittelbar dem Reich. Als Freie Reichsstadt war sie nicht mehr dem Bischof unterstellt, was die Ratsherren weidlich auszunutzen verstanden. Erst 1368 machten ihnen die neu gegründeten Zünfte der Handwerker im Stadtrat Konkurrenz. Von hier kamen die Handelsherren der Welser, Fugger und anderer, die ganze Reiche und Kaiser finanzierten, so etwa Karl III, Maximilian, Karl IV und schließlich Karl V.

Augsburg wirkte im Schwäbischen Bund mit, wodurch es sich mit Nürnberg, Ulm und Nördlingen gegen die Fürsten verbündete. In diesen kriegerischen Auseinandersetzungen musste es wehrhaft sein und ständig aufrüsten. Dadurch herrschte erhebliche Geldnot, selbst wenn Tuch- und Gewürzhandel sowie später Buchdruck florierten. Das trug ziemlich hässliche Früchte, denn die Augsburger und andere Potentaten tilgten ihre Schulden bei den Juden, indem sie diese im Jahr 1348 einfach umbrachten. Im Jahr 1438 wiesen sie alle Juden aus der Stadt. Diesem Aspekt des Lebens in der Stadt sind mehrere Abschnitte gewidmet.

Während woanders 1348 bereits der Schwarze Tod, die aus Asien eingeschleppte Pest, wütete, kamen die Augsburger noch einmal davon, nur um 1358 umso härter davon getroffen zu werden. Einmal da, kehrte die Seuche in kurzen Abständen von acht bis zehn Jahren immer wieder, bis ins 18. Jahrhundert. Diese „Strafe des Himmels“ hinterließ bei den Bürgern tiefe Spuren. Aberglauben griff ebenso um sich wie das Verbrechen.

Einen tiefen Einblick in die Kultur und den Alltag des 15. Jahrhundert liefert die Autobiografie des Händlers Burkard Zink (1396-1474/75). Das Buch aus dem Jahr 1466 ist die erste „Selberlebensbeschreibung“ (Jean Paul) aus dem deutschen Sprachraum überhaupt, glaubt man dem Verfasser. Sie mag Lücken aufweisen und eine Menge Schreibfehler (es gab noch längst keinen DUDEN), aber der Kaufmann berichtet, wie er immer wieder Mitglieder seiner Familie an die Seuche verlor, nicht zuletzt seine geliebte Frau Elisabeth, aber auch mehrere Kinder. Die Kindersterblichkeit soll etwa 50% betragen haben.

Heimsuchungen wie Brände und Überschwemmungen taten ein Übriges, um die Bevölkerungszahl in Grenzen zu halten. Während sich in Köln, der größten Stadt, an die 40.000 Menschen auf engstem Raum drängten, dürften es in Augsburg gut über 10.000 gewesen sein. Diese Dorfgröße sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass praktisch alle (außer Kurieren zu Pferd und Schiffern auf dem Fluss) zu Fuß gehen mussten und somit alle Einrichtungen in Gehdistanz liegen mussten.

Deshalb wusste auch jeder über jeden Bescheid, und selbst Geheimbündnisse konnten nicht für immer verborgen bleiben. Viele böse Machenschaften kamen ans Licht. Sie wurden angemessen bestraft, doch es wurde keineswegs mit gleichem Maß gemessen – je höher der Stand des Delinquenten, desto glimpflicher kam er davon, meist mit einer Geldbuße. Aber es kam auch vor, dass ein besser gestellter Vergewaltiger lebendig eingemauert wurde und erstickte.

Normalerweise ist dieser Job der des Scharfrichters. Dieser vielbeschäftigte und reichlich unheimliche Bursche war nicht nur für Hinrichtungen auf der „Hauptstätte“ zuständig, sondern musste auch Folter ausüben, öffentliche Abtritte säubern und sogar bis zu einer gewissen Zeit das städtische Bordell beaufsichtigen. Es gab solche „Frauenhäuser“ bis Anfang des 16. Jahrhunderts offenbar in jeder deutschen Stadt, denn kein Bischof fand etwas dabei, dass Freier in ein öffentliches Bordell gingen – schuld war Kirchenvater Augustinus. Die Sache erledigte sich allerdings mit dem Aufkommen der Syphilis, der „Franzosenkrankheit“, die nach 1492 aus der Neuen Welt eingeschleppt wurde.

Nach und nach kristallisiert sich ein realistisches Bild von der Stellung der Frau in einer mittelalterlichen Stadt heraus. Sie war nicht zu beneiden. Liebe, wie im Fall des Burkhard Zink und seiner Elisabeth, bildete die große Ausnahme. Die Frau war mehr oder weniger das Besitztum des Mannes und dazu da, ihm Kinder zu gebären und sie aufzuziehen. Das war ja angesichts der hohen Sterblichkeitsrate auch dringend nötig: Kinder dienten als Lebens- und Rentenversicherung. Selbst Burkhard Zink, ein reicher Mann, sah es deshalb als erforderlich an, nacheinander zwei weitere Frauen zu ehelichen, nachdem seine Elisabeth gestorben war. Noch mit 58 Jahren zeugte er ein Kind und erreichte das biblische Alter von rund 80 Jahren.

_Mein Eindruck_

Aus diesen wenigen Andeutungen kann mein Leser vielleicht schon ersehen, dass Jankrift einen weiten Bogen spannt, um so viele Aspekte des mittelalterlichen Alltags wie möglich einzufangen. Er tut dies aber erfreulicherweise nicht auf eine scholarisch-trockene Weise, sondern als würde er eine selbst erlebte Geschichte wiedergeben. Nicht wenige seiner Hauptkapitel beginnen mit einem szenisch gestalteten Geschehen, als wäre er selbst dabei gewesen.

Dabei bilden die abgebildeten Kalenderszenen, von denen eine auf dem Titelbild zu sehen ist, eine ideale Ergänzung. Der Bildteil illustriert dabei exakt bestimmte Textstellen, so etwa Martin Luthers Besuch 1517/18 in Augsburg, Hinrichtungsmethoden oder prächtige Feste. Durchweg vierfarbig gedruckt, beeindrucken die Fotos mit strahlenden Farben, so etwa im Fall der Buntglasfenster im Dom.

Auch den zahlreichen Kriminalfällen versucht der Verfasser auf den Grund zu gehen. Da lassen sich jede Menge Komplotte und Intrigen spannend verfolgen, nicht wenige davon gegen Juden, die stets als Erste zu leiden hatten, wenn es ums Geld ging. Bei den Prozessen zeigte sich häufig der Kompetenzstreit zwischen Stadtrat und dem Bischof, dem ehemaligen Herren der Stadt.

Begrüßenswert fand ich auch die objektive Respektlosigkeit gegenüber den größten Söhnen der Stadt, darunter der abgebildete Jakob II Fugger (1459-1525), den Albrecht Dürer porträtierte. Die Fugger finanzierten zwar das Habsburger Reich, stifteten aber auch die erste Sozialsiedlung der Welt, die Fuggerei, die bis heute besteht und Menschen aufnimmt (für 1 Euro Jahresmiete!).

|Anhänge|

Natürlich ist ein Historiker dazu angehalten, alle seine Angaben zu belegen. Zum Glück hat sich Jankrift der Unsitte enthalten, Fußnoten anzubringen. Vielmehr sind alle entsprechenden Stellen mit einer Zahl versehen, die auf eine entsprechende Endnote verweist. Dieser Endnoten-Anhang umfasst daher nicht weniger als 28 Seiten. Darauf folgt eine Auswahlbibliografie, eine Zeittafel mit den wichtigsten Ereignissen in Augsburg, eine kurze Liste Augsburger Bischöfe und ein hilfreiches Ortsregister. Auf ein Stichwortverzeichnis hat der Autor merkwürdigerweise verzichtet. Es hätte geholfen, die Personen und Hauptbegriffe der Zeitgeschichte schneller zu finden.

_Unterm Strich_

Ich habe das Buch in nur zwei Tagen gelesen. Es ist ist anschaulich geschrieben, bestens belegt und wartet einer Unmenge interessanter und kurioser Informationen auf. Wer hätte gedacht, dass Homosexuelle und Selbstmörder derart unnachsichtig behandelt wurden? Gleichzeitig unterhielt die Stadt ein städtisches Bordell, um das sich der Scharfrichter zu kümmern hatte. Das Sachbuch will keine Chronik Augsburgs sein, denn dafür fehlt die strenge zeitliche Abfolge.

Dass der Autor selbst Augsburger ist oder zumindest aus dieser Gegend stammt, tut seiner Objektivität keinen Abbruch. Sein Buch ist kein Lob der Stadtväter, sondern zeigt ungeschminkt auch deren Verfehlungen auf. Und das waren nicht wenige. Vielmehr zieht der Autor einen vielfältigen Querschnitte durch die zahlreichen Aspekte und Lebensbereiche einer mittelalterlichen Stadt. Auf diese Weise fühlt man sich diesen Menschen viel stärker verbunden als durch den öden Schulunterricht, in dem nur historische Daten herunterzubeten waren.

Dadurch eignet sich das Buch ausnehmend gut für den Ansatz „lebendige Geschichte des Alltags“. Ich würde es jedem Sechzehnjährigen unbesehen in die Hand drücken. Jüngeren Schülern fehlt vielleicht das Verständnis für die zahlreichen sexuellen und kriminellen Aspekte, die hier vorurteilsfrei behandelt werden. Die ist nicht das verklärte Mittelalter der populären Fantasy und schon gar nicht das gut gefilterte Mittelalter von TV-Produktionen (auch Luther war Antisemit), sondern eine ungeschminkte Darstellung vieler unappetitlicher Details.

Dennoch beherrschen viele Phänomene des Mittelalters immer noch unser Leben und unsere Sprache. Es sind nur ein Stromausfall und eine Seuche nötig, um uns wieder ins Mittelalter zu katapultieren. Dann wären dankbar, wenn wir eine solche bürgerliche Verfassung hätten, bevor wir weiter hinab in die Barbarei sinken.

|Gebundene Ausgabe: 235 Seiten
ISBN-13: 978-3608941401|
[www.klett-cotta.de ]http://www.klett-cotta.de/

Schreibe einen Kommentar