Jeschke, Wolfgang / Pohl, Frederik (Hgg.) – Titan-1. Preisgekrönte SF-Erzählungen

Classic SF Storys: Die Operation an der Raumkuh

In der vorliegenden ersten Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 1 von „Titan“, der deutschen Ausgabe von „Star Science Fiction 1+2“, sind viele amerikanische Kurzgeschichten gesammelt, von bekannten und weniger bekannten Autoren. Diese Auswahlbände gab Frederik Pohl heraus. Er machte den Autoren 1953 zur Bedingung, dass es sich um Erstveröffentlichungen handeln musste. Das heißt, dass diese Storys keine Wiederverwertung darstellten, sondern Originale.

Die Kriterien der deutschen Bände waren nicht Novität um jeden Preis, sondern vielmehr Qualität und bibliophile Rarität, denn TITAN sollte in der |Heyne|-Reihe „Science Fiction Classics“ erscheinen. Folglich konnten Erzählungen enthalten sein, die schon einmal in Deutschland woanders erschienen waren, aber zumeist nicht mehr greifbar waren. TITAN sollte nach dem Willen des deutschen Herausgebers Wolfgang Jeschke ausschließlich Erzählungen in ungekürzter Fassung und sorgfältiger Neuübersetzung enthalten. Mithin war TITAN von vornherein etwas für Sammler und Kenner, aber auch für alle, die Spaß an einer gut erzählten phantastischen Geschichte haben.

Die Herausgeber

1) Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im |Kichtenberg|-Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim |Heyne|-Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und zum Teil für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Sein erster Roman [„Der letzte Tag der Schöpfung“ 1658 (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

2) Der Werbefachmann, Autor, Literaturagent und Herausgeber Frederik Pohl, geboren 1919 in New York City, ist ein SF-Mann der ersten Stunde. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte er der New Yorker „Futurian Science Literary Society“ an, bei der er seine späteren Kollegen Isaac Asimov und Cyril M. Kornbluth kennenlernte. Von 1940-41 war er Magazinherausgeber, wandte sich dann aber dem Schreiben zu.

Als er sich mit Kornbluth zusammentat, entstanden seine bekanntesten Romane, von denen der beste zweifellos „The Space Merchants“ (1952 in „Galaxy“, 1953 in Buchform) ist. Er erschien bei uns unter dem Titel „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“ (1971). Darin kritisiert er auf bissige, satirische Weise die Ausbeutung des Weltraums. Ebenso erfolgreich ist seine [Gateway-Trilogie, 621 die zwischen 1977 und 1984 erschien und von welcher der erste Band drei wichtige Preise einheimste.

Die Erzählungen

1) _William Morrison: Der Landarzt_ (Country Doctor, 1953)

Dr. Larry Metzler ist der einzige Tierarzt der Marskolonie. Als ein Notfall eintritt, ist er daher derjenige, den man anruft – auch wenn es mitten in der Nacht ist. Der Notfall ist auf dem Raumhafen eingetreten. Als der Doc dort eintrifft, scheinen aber die Verletzten des notgelandeten Raumschiffs alle in Ordnung zu sein. Das Problem, so der Captain des Schiffs, ist der Alien an Bord: eine Raumkuh vom Jupitermond Ganymed. Sie scheint Schmerzen zu haben.

Natürlich hat Dr. Metzler noch nie einen Alien behandelt und niemand kann ihm Näheres über die Anatomie der Raumkuh berichten. Er muss es also auf sein Glück ankommen lassen. Die Raumkuh ist riesig und füllt ein ganzes Drittel des 300 Meter langen Raumschiffs. Sie war für den Zoo auf der Erde bestimmt. Da von außen nicht zu erkennen ist, was die Beschwerden verursacht, muss der Doc in sie hinein, wie Jona in den Wal.

In einem Taucheranzug begibt sich der Tierarzt auf Expedition in ein unbekanntes Lebewesen. Bald stößt er auf andere, ebenso unbekannte Lebensformen …

|Mein Eindruck|

Die Story, die diesen Band eröffnet, ist eine wirkungsvoll unterhaltende Verbindung aus Drama, Spannung und Komik. Die amüsante Verlegenheit des Dr. Metzler wird durch seinen pragmatischen Can-do-Ansatz aufgewogen. Obwohl er sich in Lebensgefahr befindet – seine Luftzufuhr hängt an wenigen Schläuchen, denn es gibt noch kein tragbares Atemgerät -, gelingt ihm im Verlauf seiner fachmännischen Untersuchung der Raumkuh die Lösung des Rätsels, warum die Raumkuh Schmerzen leidet: Es sind Geburtswehen.

Aber die Aktion mit der Raumkuh ist auch eine Mediensensation. Fotoreporter usw. umlagern das Raumschiff, und sie berichten ans gesamte Sonnensystem. Als daher der Doc im Hospitalbett wieder erwacht, ist er der Held der Stunde. Und das wiegt seine Reue auf, dass er auf diesem Außenposten des Siedlungsraums keine Karriereleiter erklimmen konnte. Das nächste Stellenangebot dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Die Botschaft ist klar: Jeder kann ein Held sein, solange er nicht die Nerven verliert und seine Pflicht tut.

2) _Cyril M. Kornbluth: Domino_ (Dominos, 1953)

W. J. Bolt ist ein Börsenmakler, und unter Börsenmaklern in New York City ein Schwergewicht. Was kaum jemand weiß: Er hat eine Viertelmillion in die Entwicklung einer Zeitmaschine gesteckt, die ein Physiker namens Loring für ihn gebaut hat. Nun ist der große Tag gekommen: Nach mehreren Testläufen gibt Loring die Maschine – sie sieht aus wie eine Telefonzelle mit einem Generator darunter – zur menschlichen Benutzung frei. Um das Börsengeschehen in der Zukunft zu erfahren, hat Bolt genau zwei Stunden Zeit.

Kurz und gut: Bolt gelingt die Reise zwei Jahre in die Zukunft. Doch bis er endlich in der Stadtbücherei an ein lesbares Exemplar der relevanten Börsenberichte gelangt, muss er so viele Hindernisse überwinden, dass ihm lediglich die Zeit bleibt, die Schlagzeile zu lesen – am nächsten Tag seines realen Lebens wird ein Börsencrash stattfinden. Und um unter dem Crash nicht leiden zu müssen, verkauft Bolt alle seine Aktien und macht sie zu Bargeld.

Doch Loring hat ebenfalls in Wertpapiere investiert. Sobald sie wertlos geworden sind, forscht er nach der Ursache des weltweiten Kurssturzes. Er braucht bloß die Zeitung aufzuschlagen. Wenigstens er hat die Zeit, um den Artikel ganz zu lesen. Sein Blick fällt wutentbrannt auf den Schuldigen, der darin genannt wird …

|Mein Eindruck|

Der Autor hat hier schon die Dominotheorie wiedergegeben (vermutlich nicht selbst erfunden), wonach die eng miteinander verbundenen Börsen der Welt derart voneinander abhängig sind, dass ein Kurssturz bei der ersten nach dem Prinzip des Umfallens von Domino-Steinchen (siehe „Domino Day“) eine Kettenreaktion rund um die Welt einsetzt. Dieses Phänomen kennt man ja inzwischen zur Genüge und es kann jederzeit wieder auftreten.

Ist der Autor deshalb ein Hellseher? Wohl kaum. Er hat einfach die Wirtschaftstheorie mit der Idee der Zeitreise verknüpft und so den Börsenmakler zum Orakel gemacht. Dessen Prophezeiung erfüllt sich selbst – was die ironische Pointe der Story ist. Aber die Strafe für diesen Leichtsinn bleibt diesmal nicht aus.

3) _Lester Del Rey: Ideale_ (Idealist, 1953)

Fenton erwacht orientierungslos auf einer Raumstation. Wie er zu seinem Entsetzen allmählich herausfindet, sind alle Besatzungsmitglieder, die aktiv an Bord Dienst taten, ermordet worden: durch Schüsse, durch explosive Dekompression, durch brutale Schläge auf den Kopf. Offenbar haben hier Kämpfe stattgefunden. Aber die Raumstation muss auch von einer Rakete getroffen worden sein, denn diese riss einen Sektor der Hülle auf, so dass noch mehr Menschen starben. Eine Maschinenpistole identifiziert den Killer.

Auf der Station waren 500 Atomraketen mit Wasserstoffbomben deponiert – nur noch 20 davon kann er im Arsenal entdecken. Folglich müssen nicht weniger als 480 H-Bomben abgefeuert worden sein. Er wirft einen Blick auf die Erde. Sie ist meist dunkel, und wo nicht, handelt es sich um den Brand einer Großstadt. Nur in Afrika gibt es noch Straßen und Autos. Die Zivilisation ist anderswo ausgelöscht. Er repariert das Funkgerät und lauscht den Meldungen. Da er lediglich Aufrufe bekommt, den Feind zu vernichten, ignoriert er den Befehl, die restlichen H-Bomben auf vorgegebene Ziele abzufeuern.

Er fragt sich, ob es diese Menschheit verdient, weiterzuexistieren. Sein Finger verharrt auf den Auslöseknöpfen für die restlichen H-Bomben …

|Mein Eindruck|

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe und der H-Bombentests durch USA und UdSSR beschäftigten sich zahlreiche SF-Autoren mit den möglichen Folgen des Rüstungswettlaufs. Diese Story zeichnet ein äußerst düsteres Bild des eingetretenen Ernstfalls. Seltsamerweise sind die Schuldigen nicht die Militärs, sondern die Idealisten. Fenton nennt sich selbst „verdammter Idealist“. Denn er glaubte wie die Erbauer bzw. Betreiber der Raumstation, man könne durch die permanente Drohung mit der Bombe den Weltfrieden garantieren. Das war offensichtlich ein Trugschluss. Jemand hat die Bombe eingesetzt, offenbar jemand mit Erstschlagkapazität.

Auch diese Geschichte hat sich hinsichtlich der atomaren Bedrohung als geradezu prophetisch erwiesen, doch glücklicherweise hat sich niemand getraut, ernsthaft auf den roten Knopf zu drücken. Aber was nicht ist, kann ja noch werden …

Leider weist die Story ein paar logische Lücken auf. Warum befand sich Fenton unter Narkose, während das Massaker stattfand? Warum ist er 35-jährig, fühlt sich aber wie ein 18-Jähriger? Warum konnte eine Krebspatientin dem Massaker ebenfalls entgehen? Warum gibt es für die Atomraketen keine Fernsteuerung? Warum gibt es keinen Nuklearen Winter auf der Erde, der das Antlitz der Oberfläche auf Jahre hinaus verhüllt? All dies zeugt von einer gewissen Naivität des Autors.

4) _Fritz Leiber: Liebeskummer_ (The Night he cried, 1953)

Die Agentin, die von der Galaktischen Zentrale ausgesandt worden ist, hat die Gestalt einer sexy jungen Lady angenommen. Ganz besonders stolz ist sie auf die Form ihres ansehnlichen Vorbaus. Diesem, so hofft sie, dürfte der junge Schriftsteller namens Slickie Millane, der diese Detektivromane um Slick Mallet zusammenschmiert, nicht widerstehen. Bei der Galaktischen Zentrale ist man offenbar nicht glücklich über diese Fehlleitung von jugendlichem Talent. Die Agentin soll ihn auf den rechten Weg zurückführen.

Slick ist, wie berechnet, ein echter Macho, und noch dazu ein bewaffneter. Anscheinend eifert er seiner Hauptfigur nach. Als ihm die Agentin jedoch verdächtig erscheint, schießt er ihr in den Nabel eine zusätzliche Körperöffnung. Er wirft die Leiche aus dem Wagen und düst ab. Womit er nicht gerechnet hat, ist die Regenerationsfähigkeit der Agentin. Binnen weniger Sekunden hat sie die zerschossene Körperregion wieder repariert. Als Slick aus einem Klub zurückkehrt, wartet sie bereits auf ihn. Sie sagt, sie sei ihre Zwillingsschwester. Er denkt: Mach ich sie eben bei mir zu Hause kalt.

Doch es ist eine Sache, einen Revolver voll Kugeln abzufeuern und eine ganz andere, damit auch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Nach der dritten Auferstehung der Agentin bricht Slickie in Tränen der Verzweiflung aus. Die Agentin hat echten Liebeskummer …

|Mein Eindruck|

Eine wundervoll erotische und zugleich makabere Geschichte voller Wendungen und Überraschungen. Spannend wird sie durch das Rätsel, was es eigentlich mit dieser Agentin auf sich hat. Sie könnte glatt die Vorlage für die Schurkin in „Men in Black II“ geliefert haben (gespielt von Lara Flynn Boyle). Allerdings ist sie Slickie gegenüber nicht feindlich eingestellt. Was mich an der Story am meisten erstaunt hat, sind die freizügigen Beschreibungen der „Milchdrüsen“ der Agentin. Sie ist die reinste Sirene und verbirgt dies keineswegs.

Der Sinn der Story liegt meines Erachtens in der – vorgegebenen – Selbstkritik des Autors als eines Urhebers von Schund à la Slick Millane. Indem der Autor mit dieser Rolle kokettiert, nimmt er der Kritik, er schreibe Schund, die Spitze. Er übertreibt seine größte Kritikerin, die ihm angeblich die Galaktische Zentrale geschickt hat, durch deren unglaubliche erotische Anziehungskraft. Sie spielt die Rolle der inspirierenden Muse und zugleich Kritikerin. Soll er wegen ihr wie Slickie Millane in Tränen der Verzweiflung ausbrechen und ein reuiger Sünder werden? Nein lieber doch nicht! Write on, Fritz!

5) _John Wyndham: Das Chronoklasma_ (The Chronoclasm, 1953)

George Lattery lebt in dem kleinen englischen Dorf Plyton, irgendwann in den altmodischen 1950er Jahren. Zum ersten Mal hört er von Tavia zwei Jahre, bevor sie selbst auftaucht. Der Unbekannte, der ihn nach Tavia fragt, hat sich einfach in der Zeit vertan und verduftet schleunigst. Erst viel später erinnert sich Lattery an seinen Namen: Dr. Gobie. Zwei Jahre später taucht dann diese junge Frau auf. Sie nähert sich ihm nur verzagt und haut sofort ab, sobald jemand in der Nähe ist. Daher dauert es eine Weile, bis sie die Gelegenheit ergreift, ihn direkt anzusprechen.

Sein Haus mit der gemieteten Wohnung liegt in einem schönen bewaldeten Tal. Als er sich am Waldrand befindet, tritt sie hervor. Sie hat kaum ein Wort geäußert, als Stimmen sich nähern. Sie bittet ihn sofort, sie zu verstecken. Im Haus sind sie sicher, und George ist Manns genug, die drei Männer, die eindringen und sie mitschleppen wollen, zu vertreiben. Er hat sogar ein Gewehr im Anschlag. Dann besieht er sich die Besucherin genauer.

Doch was sie erzählt, ergibt keinen Sinn. Er versucht, Haltung zu bewahren, wie es sich vor einer Lady gehört, doch als sie dann auch noch in Tränen ausbricht, weiß er sich nicht anders zu behelfen, als Tee zu kochen. Das hat noch immer geholfen. Schließlich behauptet sie, eine Historikerin zu sein und mit einer Geschichtsmaschine hierher gelangt zu sein. Wie sich herausstellt, kann dieser Apparat nur eine Art Zeitmaschine sein. Sie kommt aus dem 22. Jahrhundert, hat sich aber fast die richtigen Kleider angezogen – bis auf die Schuhe.

Später taucht Dr. Gobie auf. Sie hat von ihm berichtet: Er ist ihr Onkel und der Erfinder der Geschichtsmaschine, mit der qualifizierte Historiker in die Epochen ihres jeweiligen Studiengebiets reisen. Sie selbst hat den Apparat unerlaubt benutzt. Wegen des Briefes, den er, George Lattery, ihr schrieb: dass er sie liebe, geheiratet habe und niemals vergessen werde …

|Mein Eindruck|

Die Erzählung schildert die romantische Variante des Zeitreisens: die hübsche Herzensdame aus der Zukunft, die dem erst verstörten, dann umso beglückteren jungen Mann nicht nur ihre Liebe – sie war ja vorherbestimmt! – sondern auch Ideen für erfolgreiche Erfindungen schenkt. Es ist ein kausaler Zirkel, der sich selbst in den Schwanz beißt.

Wer soll sich da noch über Ereignisse in der falschen Zeit aufregen, über so genannte Chronoklasmen? Als Dr. Gobie seine großen Sorgen über solche Chronoklasmen äußert, beruhigt ihn Tavia: Dies sei ja alles vorherbestimmt, denn woher sonst käme denn der Fortschritt, auf dem die Zukunft beruhe? Würde man die Chronoklasmen, die Tavia mit ihrer Wissensweitergabe verursacht hat, unterbinden, dann käme es noch zu viel heftigeren Störungen. Da gibt Dr. Gobie Ruhe, aber Tavias und Georges Glück, das ist klar, kann nicht von langer Dauer sein. Aber lange genug für ein Baby …

6) _Lester Del Rey: Therapie_ (A Pound of Cure, 1953)

Henry, der Raketeningenieur, hat in Maryl eine neurotische Frau und in Jimmy einen wohlgeratenen Sohn. Maryl ist seit der Entfernung ihrer Gebärmutter, die Henry ihr hatte verschweigen wollen, emotional aus dem Gleichgewicht, wer könnte es ihr verdenken. Sie sehnt sich sehr nach ihrem einzigen Sohn, Jimmy, doch der hat sich bei einem Sturz beide Beine gebrochen – auch dies verschweigt Henry seiner labilen Frau. Er lässt auf Rat seines Psychotherapeuten Dr. Broderick einen Androiden bauen, der Jimmy aufs Haar ähnelt und sich fast genauso verhalten kann.

Maryls Reaktion schwankt zwischen Akzeptanz des Androiden-Jimmy und Ablehnung. Als dann der richtige Jimmy wieder gesund ist und zurückkehren soll, muss sich Maryl entscheiden, wen sie lieben soll. Sie entscheidet sich in einem Wutausbruch gegen den echten und für den untergeschobenen Jimmy. Letzterer hat den Vorzug, sie rückhaltlos zu lieben und genau das zu sagen, was sie hören will. Sie ist vernarrt in ihn.

Henry ist schwer erschüttert und braucht einige Drinks auf diesen Schreck. Er will nach Seattle umziehen. Was soll er jetzt mit dem echten Jimmy machen? Dr. Broderick rät zur Gedächtnislöschung. Aber auch Henry braucht jemanden, der ihn heilt, einen Ersatz für Maryl …

|Mein Eindruck|

Es dürfte kein Wunder sein, wenn sich der Leser stark an Stanley Kubricks & Steven Spielbergs Film „A. I.“ erinnert fühlt. Dieser basiert auf einer Kurzgeschichte des britischen SF-Autors Brian W. Aldiss namens „Supertoys last all Summer long“. Ein Androidenjunge ersetzen einen verletzten, im Koma liegenden Jungen und kommt in die Familie von dessen Eltern, um die emotionale Lücke zu füllen. Leider kommt der andere, echte Junge wieder zurück – mit schrecklichen Folgen.

Auch in Del Reys Story steht die psychologische Dramatik der Notlagen der drei Beteiligten im Vordergrund, mit Dr. Broderick als Ratgeber im Hintergrund. Für ihre Einfühlsamkeit und Behandlung des heiklen Themas Gebärmutterentfernung (Hysterektomie) ist die Geschichte ihrer Zeit ziemlich weit voraus. Solche Themen hätte ich eher bei den Autorinnen erwartet, die Ende der sechziger Jahre zu veröffentlichen begannen, etwa bei Joanna Russ und Ursula K. Le Guin.

7) _James Blish: ZII_ (FYI = For your interest, 1953)

Der Weltuntergang durch den Letzten Krieg steht bevor, verursacht durch den Konflikt um Kashmir und durch die Chinesen. Charles sitzt jedoch mit seinen Kumpels in seinem Londoner Klub und raucht seine letzte Zigarre. Da steht Lord Rogge auf und behauptet etwas von einem Aufschub, der möglich wäre. Charles glaubt ihm nicht, denn Rogge ist ein wenig verschroben. Und dem entspricht auch die Geschichte, die ihm Rogge erzählt.

Rogge hat eine Putzfrau kennengelernt, die sich auch als Spiritistin etwas hinzuverdient. Er fühlte ihr auf den Zahn. Sie gab zu, dass das meiste, was sie den Kunden erzählt, erfunden ist. Aber hin und wieder empfinge sie Botschaften aus einer unbekannten Quelle, die sie nicht verstehe, die sie aber in ihrem echten Trancezustand automatisch niederzuschreiben pflegte. Eine dieser Botschaften zeigt Rogge nun Charles. Sie ist der Anlass für seine Behauptung, es gebe möglicherweise einen Aufschub.

Die Botschaft ergibt zunächst keinen Sinn, denn die Putzfrau hat sie phonetisch niedergeschrieben. Mit den komplizierten Begriffen der höheren Mathematik weiß sie nichts anzufangen. Rogge übersetzt sie in verständliche Wörter. Aber auch diese sagen Charles noch nichts. Von wem stammt dieses Memorandum, das mit dem Kürzel „ZII“ (Zu Ihrer Information) beginnt? Gemäß Rogges Erläuterung könnte es sich um Götter von jenseits des endlichen Universum handeln. Und wir Menschen wären ihre Kinder.

Aber wann kommen sie? Noch rechtzeitig, bevor die ersten Bomben fallen? Die Decke erbebt …

|Mein Eindruck|

So hoffnungsvoll die Botschaft, welche die Götter vielleicht geschickt haben, auch klingen mag, so mühselig ist doch der Weg des Verständnisses dorthin. Das liegt daran, dass der Autor alias Rogge so tut, als bestünde der Weg im Begreifen der höheren Mathematik. Diese ist ziemlich abstrakt und wirft mit [„transfiniten Zahlen“]http://de.wikipedia.org/wiki/Transfinite__Arithmetik um sich, dass es eine Pracht ist.

Sobald jedoch die Botschaft der „Götter“ ins Spiel kommt, stellt sich die Mathematik als relativ irrelevant heraus. Man muss sie nicht kennen, denn die Botschaft bleibt für denjenigen, der keine Mathematik kennt, sowieso unverständlich. So ergeht es auch dem Ich-Erzähler Charles. Das Einzige, wofür der ganze Prolog gut ist, ist die Bewusstwerdung dafür, dass es noch höhere Dimensionen der Existenz und der Vorstellbarkeit gibt. Und dort könnten möglicherweise die Götter existieren.

Das Kernproblem ist also die Kommunikation. Wie soll uns irgendjemand – Gott, Alien, zukünftiger Mensch oder auch nur Ausländer – verständlich machen können, dass er/sie/es uns zu Hilfe eilen will? Am überzeugendsten wurde dieses fundamentale Problem in Gregory Benfords Roman [„Zeitschaft“ 1222 beschrieben und gelöst. Die Lösung trägt zur Rettung der Erde bei.

8) _Jack Williamson: Das glücklichste Geschöpf_ (The happiest Creature, 1953)

Ein Alien von den Sternen ist ein Sammler exotischer Kreaturen. Er hat von den Anthropiden auf dem dritten Planeten des Sternes Sol gehört und möchte sich gerne so ein Exemplar für seinen Zoo besorgen. Die Quarantänestation sagt nein. Nach einigem Zureden gesteht der Stationsvorsteher dem Sammler jedoch das Begutachten eines einzigen Exemplars zu. Damit handelt sich der Sammler allerdings jede Menge Probleme ein.

Denn Casey James ist ein Ausbrecher und schmuggelt sich an Bord des interstellaren Raumschiffs, als dieses gerade seine Fracht von anderen „Zootieren“ an Bord nimmt. Der Sammler ist in der Klemme. Er würde dem Anthropoiden gerne helfen (und hat ihm auch schon einen Wundverband anlegen lassen), aber er stellt zwei Bedingungen: Casey James darf niemandem etwas vom Sammler verraten – und er darf nicht mehr töten.

Diese zweite Bedingung hält Casey für zu hart, und obwohl er zusagt, um die Hilfe des Sammlers zu bekommen, schwört er sich, den Kerl, der ihn in den Knast gebracht hat, auf jeden Fall umzunieten. Und bei der Gelegenheit wird er das Mädchen, das mit diesem mexikanischen Dreckskerl verheiratet ist, brechen und ausbeuten. Doch kaum gelangt Casey James in das Grenzstädtchen, wo er seine Rachetour veranstalten will, erlebt er einige Überraschungen, die ihm die Tränen in die Augen treiben …

|Mein Eindruck|

Es gibt jede Menge Storys von gelandeten UFOS, so etwa über Area 51, und es gibt auch viele Storys über knallharte Ausbrecher. Aber es gibt nur wenige Storys, die beides auf wirkungsvolle Weise verknüpfen und mit einem dritten Element verbinden: Androiden. Genau wie in „Therapie“ werden Androiden dazu benutzt, um den potenziell gefährlichen Konfliktzustand zu beenden.

Wieder einmal wird der Mensch als das gefährlichste Jagdwild dargestellt. Im Falle von Casey James ist diese Einschätzung allerdings völlig gerechtfertigt: Der Mann ist ja echt „trigger-happy“, er drückt gerne den Abzug, um andere Leute damit umzunieten. Doch der Sammler hat ihn betrogen, wie Casey schon bald feststellen muss. Die einzige unlogische Sache an der Story ist genau dies: Wenn sich Casey in einem Zoo befindet (in einem sehr großen Käfig), wieso durfte der Sammler ihn dann von der Erde fortschaffen? Denn dies verstößt bekanntlich gegen die Quarantänevorschriften.

9) _Cyril M. Kornbluth: Die Reuigen_ (The Remorseful, 1953)

Der atomare Holocaust hat die Erde wüst und leer hinterlassen. Bakteriologische Kriegsführung hat der radioaktiven Verseuchung sekundiert und die letzten Überlebenden ausradiert. Nur Der Letzte Mann ist noch übrig und wandert delirierend einsam über die wüsten Ebenen.

Die Aliens sind unbemerkt gelandet, und sie suchen auf diesem wüsten Planeten nach Intelligenz. Die insektenförmigen Außerirdischen finden zwei Arten. Das ist zum einen Der Letzte Mann, in dessen Hirn sie Hinweise auf Bibliotheken und Archive finden, in denen Wissen die Verwüstung überstanden hat. Es gab hier einst eine intelligente Rasse. Wie kam es nur, dass sie sich selbst vernichtete?

Dann gibt es noch eine zweite Art von Intelligenz. Sie ist unstofflich, und Der Letzte Mensch geht unbekümmert hindurch, als existiere sie gar nicht. Diese zweite Art war einst unter der Bezeichnung „Geister“ bekannt. Sie zeigen Reue und Trauer … Die Aliens hauen wieder ab. Sicherlich gibt es woanders hoffnungsvollere Welten.

|Mein Eindruck|

Die Story besteht einerseits aus vielen melancholischen Stimmungsbildern, zum anderen aus dem umständlich beschriebenen Versuch der Aliens – einem insektoiden Schwarmbewusstsein -, die intelligenten Lebensformen auf Terra zu finden. Als Post-Holocaust-Erzählung sticht die Story in keiner Hinsicht aus dem Gros der entsprechenden Produktion in den SF-Magazinen heraus. Natürlich kritisiert und warnt der Autor, aber wie er es tut, ist umständlich und letzten Endes – durch die Einführung der „Geister“ – romantisch und sentimental.

10) _Richard Wilson: Ein Freund der Familie_ (Friend of the Family, 1953)

Die Regierung hat einen strikten Bevölkerungsstopp verhängt, der binnen elf Monaten in Kraft tritt. Doch Thad und Annie bekommen ihr Baby nach Ablauf dieser Frist und müssen Thad Junior verstecken. Das jedoch bekommt der listige Fallensteller Lacy spitz und erpresst die beiden Farmersleute, ihm von ihren Ernteerträgen abzugeben. Wenn nicht die Inspektoren der Regierungsbehörden ihnen das Baby wegnehmen sollen, muss Thad klein beigeben. Doch natürlich sieht Lacy auch, wie aussichtslos die Lage für das Ehepaar ist und schraubt seine Forderungen höher. Schließlich verlangt er nicht nur die Milch, sondern auch die Kuh. Es kommt zur Krise.

Inzwischen haben Thad und Annie die Bekanntschaft eines netten Mannes gemacht, der einen grünen Hut trägt und eine falsche Nase. In seiner Nähe fühlen sie sich unwillkürlich entspannt und heiter. Sie vertrauen ihm und teilen das Brot mit ihm. Er erzählt, er habe ebenfalls eine Frau, allerdings auf einer weit entfernten Welt. Und er würde gerne Thad und Annie helfen, indem er ihr Baby mit seinem Raumschiff in Sicherheit bringt. Thad will den Konflikt jedoch selbständig meistern.

Als Lacy mit zwei Regierungsinspektoren auftaucht und das Baby packt, um es zu entführen, eskaliert die Situation. Herr Grün muss seine besonderen Fähigkeiten einsetzen, um das Leben von Thad und Thad junior zu retten …

|Mein Eindruck|

Die Weihnachtsgeschichte um Maria und Joseph und das Jesuskind ist eine der bekanntesten Storys der Welt. Offensichtlich hat sie sich der Autor ebenfalls zum Vorbild genommen, um auf seine eigene Weise das Problem der Überbevölkerung der Reglementierung der Geburten aufzugreifen. Das gleiche Problem hat ja schon China und führte Quoten ein. Aber ginge das irgendwann auch in den USA?

Der amerikanische Autor antwortet auf die typische amerikanische Weise, indem er den uramerikanischen Mythos beschwört: Es gibt immer noch eine weitere Grenze da draußen. Diese Grenze liegt jenseits dieser Welt, auf einem anderen Stern usw. Es ist die romantische Methode, das Problem zu lösen, dürfte aber in seiner Unglaubwürdigkeit kaum auf Anklang bei europäischen Lesern stoßen. Die amerikanischen Leser dürfte es umso mehr erfreut haben.

Unterm Strich

Die herausragenden Geschichten sind die erste, „Der Landarzt“ von William Morrison, „Liebeskummer“ von Fritz Leiber und „Das Chronoklasma“ von John Wyndham. Sicher kann man noch weitere finden, aber mir scheinen diese eher auf durchschnittlichem Niveau zu liegen. Schade, dass hier weder Asimov noch Heinlein noch Sturgeon auftauchen, und Philip K. Dick erscheint erst in einem späteren Band.

Aufgrund der engen Zusammenarbeit des US-Herausgeber mit Cyril M. Kornbluth dürfte es nicht verwundern, wenn von Kornbluth zwei Storys hier auftauchen – ebenso übrigens von Lester Del Rey, einem wichtigen Autor und Herausgeber der vierziger und fünfziger Jahre.

Für den deutschen SF-Leser des Jahres 1976 waren diese Originalbeiträge – allesamt Erstveröffentlichungen von 1953 – willkommenes Lesefutter, um sich einen Überblick über die Entwicklung des Genres in den fünfziger Jahren zu verschaffen. Der Erfolg des TITAN-Formats mit seinen etwa zwei Dutzend Bänden gab Herausgeber Jeschke Recht. Auch die sorgfältige Übersetzung trägt noch heute zum positiven Eindruck bei. Die wenigen Druckfehler lassen sich verschmerzen.

Taschenbuch: 160 Seiten.
Originaltitel: Star Science Fiction 1+2, 1953/1976
Aus dem US-Englischen von Yoma Cap.
www.heyne.de

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