Katzenbach, John – Anstalt, Die

Massachusetts um 1980: Der einundzwanzigjährige Francis Petrel wird gegen seinen Willen in das psychiatrische Klinikum Amherst eingewiesen. Schon seit vielen Jahren hört er Stimmen in seinem Kopf und gilt als Exzentriker. Eines Tages eskaliert ein Streit mit seinen Eltern, er greift nach einem Küchenmesser und bedroht erst seine Familie und anschließend sich selber. In der Klinik wird er durch Medikamente ruhig gestellt. Zunächst ist Francis verzweifelt, da er sich wie ein Gefangener fühlt, doch nach und nach lernt er, mit seiner Situation umzugehen. Sein bester Freund unter den Mitpatienten wird Peter, der wie alle Insassen und Mitarbeiter einen Spitznamen trägt: „the Fireman“, ein ruhiger, intelligenter Mann, der viel zu vernünftig für seine Umgebung erscheint. Francis erhält den Spitznamen „C-Bird“, in Anspielung auf seinen Nachnamen. Außerdem ist da zum Beispiel noch Nappy, der dank seiner Vorliebe für Napoleon alles aus der Lage des 18. Jahrhunderts betrachtet; die übergewichtige Cleo, die sich als Königin Kleopatra sieht und unermüdlich Tischtennis spielt; Newsman, der alle Schlagzeilen auswendig lernt und jedem ungefragt mitteilt, und der schlacksige Lanky, der hinter jedem Neuling den Teufel wittert. Der herrische Psychologe wird Dr. Evil genannt und das nette schwarze Pflegerbrüderpaar ist als Big Black und Little Black bekannt.

Eines Nachts erschüttert ein dramatischer Zwischenfall die Klinik, als die junge Lernschwester „Short Blond“ brutal ermordet aufgefunden wird. Der Verdacht fällt sofort auf Lanky, der erst kurz zuvor eine Auseinandersetzung mit ihr hatte und ihr Blut an seinen Kleidern trägt. Lankys Beteuerungen, dass der „Engel des Todes“ den Mord begangen und ihn anschließend umarmt habe, schenkt niemand Glauben und der verwirrte Mann wird festgenommen. Nur Peter und Francis behalten ihre Zweifel an seiner Schuld. Kurz darauf taucht die Untersuchungsrichterin Lucy Jones in der Klinik auf. Sie berichtet von weiteren Morden nach dem gleichen Schema durch einen unbekannten Täter. Gemeinsam mit Peter und Francis, die ihr durch ihr Insiderwissen helfen sollen, stellt sie nähere Nachforschungen in der Klinik an. Doch es folgen weitere Morde …

Zwanzig Jahre später: Die Anstalt ist seit einigen Jahren geschlossen, Francis wurde entlassen. Noch immer hört er Stimmen, doch die Medikamente halten sie unter Kontrolle. Da erhält er eine Einladung für ehemalige Patienten zu einem Aktionstag an der Klinik. Durch die Rückkehr nach Amherst werden die Erinnerungen in Francis wieder lebendig. Aufgewühlt von den damaligen Ereignissen beginnt er, alle Geschehnisse nochmal zu durchleben und auf seinen Wohnungswänden niederzuschreiben. Wer war der „Engel des Todes“ – eine Schreckensphantasie oder lebendige Wirklichkeit … ?

Die weiße Hand, die im Dunkeln dem Betrachter bedrohlich entgegenstrahlt, ist nicht nur ein nettes Gimmick auf dem Cover, sondern sie verheißt auch Nervenkitzel pur. Dass der Inhalt Ambitionen besitzt, die über einen normalen Schocker hinausgehen, lässt sich weder an der Aufmachung noch am eher reißerischen Klappentext ausmachen. Einschüchterungen in einer Nervenheilanstalt, Widerstand gegen Bevormundungen der Betreuer, Aufstände der Insassen – kein Zweifel, „Einer flog über das Kuckucksnest“ lässt grüßen und damit auch Ankläge an ein sozialkritisches Drama. Tatsächlich ist „Die Anstalt“ mehr als bloß ein Psychothriller, sondern der Roman vereint zudem gesellschaftskritische Elemente durch das Vorhalten eines sozialen Spiegels.

|Von Irren und weniger Irren|

In Francis Petrel findet der Leser einen sympathischen Protagonisten und Ich-Erzähler, der zwar gewöhnungsbedürftig, dafür aber auch umso vielschichtiger ist. Francis hört Stimmen, die ihn mal zu Agressionen, mal zur Zurückhaltung anstacheln. Bis zu seiner Einlieferung führte er das Leben eines Außenseiters, doch auch in der Klinik hat er nicht annähernd das Gefühl, zuhause zu sein. Stattdessen empfindet er seine Lage als Gefangenschaft, hilflos dem zynischen Arzt Dr. „Gulp-a-pill“ Gulptilil und dem Psychologen Dr. „Evil“ Evans ausgeliefert.

Obwohl seine psychischen Defizite offenkundig sind, scheint er nicht in die Welt von Amherst zu passen, eine Welt voller Verrückter unterschiedlichster Arten, die ihm die Eingewöhnung schwer machen. Da er auch in der „normalen“ Welt keinen Anschluss findet, erscheint Francis als zerrissener Charakter, dessen mühevolles Leben dem Leser nah geht. Umso erfreulicher liest sich seine Freundschaft mit Peter the Fireman, der mit seinem scharfen Verstand und seiner besonnenen, weitsichtigen Art absolut nicht in den überdrehten Klinikalltag passen will. Immer wieder sinniert Francis darüber nach, wie qualvoll erst das Leben von Peter sein muss, der zwar ein schweres Verbrechen begangen hat, jedoch tatsächlich kein psychisch Kranker ist, der sich noch fremder als Francis an diesem Ort der Verrücktheit fühlen muss. Seine ruhige Ausstrahlung beeindruckt nicht nur Francis, sondern auch den Leser. Peters Dasein in der Anstalt bedeutet einen Hoffnungsschimmer in all der Trostlosigkeit, Symbol des Kämpfers gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, eine sympathische Auflehnung gegen die Allmacht der Klinikleiter. Peter gibt nicht nur seinem speziellen Freund Francis den nötigen Rückhalt, er unterstützt auch die anderen Insassen, beispielsweise in den Gruppensitzungen bei seinem Erzfeind Dr. Evans. Obwohl er offiziell nur die zweite Geige in der Handlung spielt, ist Peter ein fast noch interessanterer Charakter als der Protagonist Francis selbst.

Die dritte zentrale Gestalt ist die Staatsanwältin Lucy Jones, eine faszinierende Schönheit; nach außen hin willensstark und um jeden Preis entschlossen, den Mörder zu fassen, insgeheim jedoch auch gebeutelt von einem traumatischen Erlebnis, das die Kämpferin in ihr gegen das Verbrechen erst geweckt hat. Lucy, die vor allem gegen Ende des Romans an Bedeutung gewinnt, ist kein so schillernder oder fesselnder Charakter wie Francis und Peter, bietet aber ein passables Gleichgewicht zu den beiden Hauptcharakteren.

Der Makrokosmos der Gesellschaft zeigt sich im Mikrokosmos der Anstaltsbewohner. Wie im realen Leben existieren auch hier die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Glücklicherweise wird auf ein reines Schwarz-Weiß-Schema verzichtet. Zwar sind die obersten Leiter und Verantwortliche unsympathisch und dominant, dafür überzeugen einige der Pflegekräfte, allen voran die „Black-Brüder“, durch Menschlichkeit und viel Verständnis für ihre Patienten – angenehmerweise ohne wiederum zu lässig oder solidarisch zu sein. Big Black und Little Black machen keinen Hehl aus ihrer Sympathie für Francis, ohne dabei in ein rein freundschaftliches Verhältnis zu verfallen, denn bei aller Wertschätzung und allem Mitgefühl bewahren sie ihre berufsmäßige Professionalität. Unter den Patienten finden sich apathisch Retardierte, kindlich Zurückgebliebene, Brutal-Aggressive und eine Reihe liebenswerter Charaktere mit belustigenden Spleens, allen voran Napoleon, die temperamentvolle Cleo und das wandelnde Lexikon Newsman.

|Spannung trotz Weitschweifigkeit|

Die Grundidee weiß zu fesseln: Eine Nervenklinik und ihre merkwürdigen Insassen bieten immer Stoff für eine interessante Handlung, ebenso wie eine Mörderjagd. Spannung bis zum Schluss wird dem Leser geboten, denn während der Lektüre tun sich eine Menge Fragen auf: Allen voran steht natürlich die Suche nach dem geheimnisvollen Täter, der mehrere Morde auf dem Gewissen hat. Ist es tatsächlich der zurückgebliebene Lanky, den die Polizei sofort dankbar in Gewahrsam nimmt? Was ist mit seinen Beteuerungen über den „weißen Engel“, existiert er wirklich oder ist er ein Gespinst seiner Phantasie? Ist es ein Insasse, ein Mitarbeiter, ein Außenstehender, der sich hier unter den Hunderten von Bewohnern tarnt? Welches Motiv verfolgt der Killer, was verbindet seine Opfer – oder bilden sie bloß die Vorstufe zu einem höheren Ziel?

Fragen gibt es unzählige, Antworten nur wenige. Immer wieder nehmen Peter, Francis und Lucy neue Fährten auf, werden aber allzu oft in die Irre geleitet und enden in seiner Sackgasse. Als zusätzliches Spannungselement kommt der Zeitfaktor ins Spiel. Es gilt nicht nur, einem Mörder rechtzeitig das Handwerk zu legen, bevor er erneut zuschlägt – Lucy soll aufgrund mangelnder Erkenntnisse von ihrem Posten abgezogen werden und die Ermittlungen einstellen; Peter wird von seiner Vergangenheit eingeholt und steht vor der zweifelhaften Wahl zwischen Gefängnis und Verlegung in eine andere Anstalt.

Der Leser sieht sich mit einer Kombination aus kriminalistischen und zwischenmenschlichen Aufhängern konfrontiert; sowohl das Rätselraten um die Identität und Motivation des Mörders als auch die Entwicklung der Schicksale der einzelnen Charaktere gewinnen seine Aufmerksamkeit. Sicher: Es braucht definitiv keine 750 Seiten, um die Handlung angemessen darzustellen; weniger wäre in diesem Fall um einiges mehr gewesen. Dies nicht nur, weil den wenigen actionreichen Handlungsmomenten viele ruhige gegenüberstehen, sondern auch, weil zahlreiche Gedankengänge und Situationen sich mit gegebenenfalls leichten Variationen wiederholen; Kürzungen von 200 bis 300 Seiten hätten dem Werk gut getan.

|Irritierender Perspektivenwechsel|

Am grundlegenden Stil des Autors gibt es nichts zu bemängeln; Katzenbach liest sich locker und flüssig, mal eher neutral und auf schnellen Genuss ausgerichtet, wie es typisch ist für Spannungsliteratur, mal eher mit blumigen Formulierungen, wenn es gilt, Francis‘ wirre Gedankengänge darzustellen. Auffallend und leider mit Mängeln versehen ist allerdings die Struktur, die den Roman in zwei Teile gabelt: Da ist zum einen die Handlungsebene, die in der Jimmy-Carter-Ära spielt, als der junge Francis in die Klinik eingeliefert wird. Und da ist zum anderen die Ebene der aktuellen Handlung, in der ein zwanzig Jahre älterer, aber immer noch Stimmen hörender Francis sich mit der Vergangenheit auseinander setzt.

Die aktuelle Handlung wird in der Ich-Form geschildert und ist zur besseren Übersicht kursiv gesetzt; die Vergangenheit – die den Hauptanteil des Romans ausmacht – besteht aus dem Text, den Francis auf seine Zimmerwände schreibt. Die Idee dieser Art der Vergegenwärtigung ist originell und passt zum psychotischen Charakter des Protagonisten, bleibt in der Umsetzung aber unglaubwürdig. Zum einen sind Francis‘ Ausführungen so ausführlich – eben ein ganzer Roman – und detailliert bis in die kleinste Abschweifung, zum Beispiel bei der Beschreibung von Örtlichkeiten und Mimiken, dass man ihm nicht abnimmt, dass er die Ausdauer besitzt, ein solches Mammutwerk auf die Wohnungswand zu kritzeln. Zum anderen übernimmt Francis in der Er-Form die Perspektive eines personalen Erzählers und gibt auch Situationen wieder, in denen er nicht selber anwesend war, bis hin zu ausführlichen Gedankengängen von Peter oder Lucy. Zwar wird diese Wiedergabe von Dingen, die Francis tatsächlich gar nicht – in diesem Umfang – wissen kann, anfangs einmal damit begründet, dass er sich bei seiner Verschriftlichung Freiheiten herausnimmt und seine Mutmaßungen spielen lässt. Dennoch bleibt der Eindruck zurück, dass dem Roman bei weitem besser damit gedient gewesen wäre, die Ich-Perspektive bzw Francis‘ Wandschreibereien zu streichen und sich auf die Perspektive eines personalen Erzählers zu beschränken. Francis‘ Vorgehensweise ist einfallsreich, aber nur eine Alibi-Strukturierung.

|Schwächen in der Glaubwürdigkeit|

Dem Roman ist zugute zu halten, dass er sich nicht auf sein Thrillerdasein beschränkt, sondern sich auch mit der Behandlung der Patienten auseinander setzt, die auch in der Realität, vor allem in der damaligen Zeit, in vergleichbaren Kliniken zu wünschen übrig lässt. Gemeinsam mit Francis sinniert der Leser über die Würde, die einem innerhalb der Anstaltsmauern noch bleibt – sofern man um sie kämpft. Ruhigstellung mit hochdosierten Medikamenten und Abschiebung in die Isolierzelle sind die Maßnahmen, an die sich die Ärzte halten, die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke.

Trotz dieser lobenswert kritischen Darstellung schleichen sich Mängel in die Umsetzung ein. Zu leicht erscheint das Abkommen, dass Francis und Peter als Amateur-Ermittler der Staatsanwältin Lucy Jones zur Seite stehen dürfen. Beide sind mehr als bloße Insider-Informanten; vielmehr präsentieren sie sich als gleichberechtigte Komplizen, die zuweilen die offizielle Ermittlerin sogar in den Hintergrund drängen, als eine Art Detektiv-Duo, das sich gegenseitig die Erkenntnisse wie Bälle zuspielt. Sehr fraglich ist die Reaktion von Klinikleitern und Polizei, als sich ein Todesfall ereignet, den sie als Selbstmord klassifizieren – ungeachtet einiger Details, die deutlich darauf Hinweisen, dass hier eine zweite Person mit im Spiel gewesen sein muss. Am Schluss des Buches und der Entlarvung des Täters scheiden sich die Geister: Einerseits ist das Ende nicht leicht vorherzusehen, andererseits wäre wünschenswert gewesen, einige zusätzliche Andeutungen einzubauen, denn die Identität des Mörders dürfte für viele Leser eine eher enttäuschende Überraschung bilden.

_Unterm Strich_ ist „Die Anstalt“ ein unterhaltsamer und lesenswerter Psychothriller, der sich nicht auf eine Mörderjagd beschränkt, sondern auch interessante Einblicke in das Leben von Psychiatriepatienten liefert. Vor allem dank der gut dargestellten Charaktere versetzt sich der Leser in die Geschichte hinein, nimmt Anteil am Geschehen und am Schicksal der Hauptfiguren. Schwächen gibt es dagegen in der unnötigen Weitschweifigkeit, der Zweiteilung der Perspektive und einiger Unglaubwürdigkeiten in der Handlung, zu denen auch das recht weit hergeholte Ende gehört.

_Der Autor_ John Katzenbach war vor seiner Schriftsteller-Karriere als Gerichtsreporter für die „Miami News“ und den „Miami Herald“ aktiv. 1982 erschien seiner erster Roman, „In the Heat of the Summer“, für den er eine Edgar-Award-Nominierung erhielt. Es folgten mehrere Bestseller, unter anderem „Der Sumpf“, „Die Rache“ und „Das Tribunal“.

http://www.john-katzenbach.de/
http://www.knaur.de

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