Guy Gavriel Kay – Die Fürsten des Nordens

Ein Wanderer durch die Kulturen

So könnte man Guy Gavriel Kay bezeichnen, der sich während seiner Schreibkarriere seit 1984 stets an anderen Kulturen angelehnt hat, um seinen Fantasy-Zyklen ein lebendiges Universum zu bieten. Wo sich sein „Sarantium“-Zyklus an der Spätantike orientierte, widmete er sich mit „Die Herren von Fionavar“ dem europäischen Mittelalter, um im „Tigana“-Zyklus die Renaissance zu behandeln. Nicht überraschend also, dass sich Kay mit dem abgeschlossenen Roman „Die Fürsten des Nordens“ wiederum einer anderen Kultur zuwandte, nämlich, wie der Name schon sagt, der des Nordens, um aus der Welt der Wikinger, der Angelsachsen und Kelten Spannendes zu erzählen.

Von Feen, Völkern und Fehden.

Die Zahl Drei hat in Kays historischem Fantasy-Roman eine große Rolle inne, das zeigt sich schon an den drei Haupthandlungssträngen, die sich während dieses Romans umeinander ranken:

Handlungsstrang Nummer eins befasst sich mit dem Volk der Cyngael, deren Provinzen sich nicht unbedingt wohlgesonnen sind. So kommt es, dass die beiden Brüder Dai und Alun ab Owyn aus der Provinz Cadyr in die Provinz Arberth eindringen, um dort einen Viehdiebstahl zu begehen. Das ist nichts Besonderes, ein üblicher Akt, um verfeindete Provinzen zu schmähen und außerdem ein Ritual, mit dem heranwachsende Cyngael ihre Männlichkeit beweisen wollen. Dumm nur, dass sich die beiden Brüder ausgerechnet den Hof des berühmten Brynn ab Hywll ausgesucht haben, des Mannes, der seinerzeit siegreich gegen die gefürchteten Erlinger kämpfte und einen ihrer berühmtesten Anführer erschlug, um sein Schwert an sich zu nehmen.

Aber die beiden haben Glück. Ceinion von Llywerth, ein weiser Gottesmann, hat die Brüder bei ihrem Vorhaben beobachtet, stellt sie zur Rede und klärt sie auf, wessen Hof sie gerade im Begriff waren anzugreifen, oder anders ausgedrückt: Wie kurz sie vor ihrem eigenen Ende gestanden haben.

Stattdessen nimmt er die beiden mit an den Hof, wo sie unter den misstrauischen Blicken der Gastgeber bewirtet werden. Ehe Brynn ab Hywll die Brüder nach den Gründen ihres Erscheinens fragen kann, wird der Hof von einer Horde Erlinger angegriffen, die von einem grausamen Krüppel angeführt werden. Obwohl der Angriff zurückgeschlagen werden kann, flieht der verkrüppelte Anführer, und einer der beiden Brüder aus der Provinz Cadyr verliert sein Leben. Der überlebende Bruder brennt fortan auf Rache an dem verkrüppelten Erlinger, der fliehen konnte.

Aber auch auf die Erlinger wirft Kay einen genaueren Blick: Da gibt es Bern Thorellson, dessen Vater verbannt wurde, und der aufgrund dessen kein Land zu erben und keinen Ruf zu vertreten hat. Da er nun mal nichts zu verlieren hat, stiehlt er das edle Schlachtross des gestorbenen Statthalters, ein unverzeihlicher Frevel, für den ihn die gesamte Stadt jagt, um an ihm das grausame „Blutadler-Ritual“ zu vollziehen. Derart um seine Chancen gebracht, hofft er in Jormsvik aufgenommen zu werden, einer Söldnerstadt, die nur eisenharte Männer akzeptiert und diese noch härter macht, auf Raubzügen in Drachenschiffen, an fremden Küsten entlang.

Schon bald bekommt es der frischgebackene Jormsvikinger mit Ivarr Ragnarsson zu tun, einem grausamen Krüppel, der die Jormsvik-Söldner unter fadenscheinigen Gründen anheuert, um einen dereinst gescheiterten Raubzug zu Ende zu führen …

Neben den kriegerischen Erlingern und den Cyngael gibt es noch das Volk der Anglcyn unter König Aeldred. Während eines Krieges zwischen Anglcyn und Erlingern hat Erlingerführer Ingemar Svidrirson an König Aeldreds Vater das Blutadlerritual vollzogen, aber nachdem König Aeldred ihn bezwungen hat, verschont er das Leben des Mörders unter der Bedingung, Tribut an die Anglcyn zu zahlen und sich zum Sonnegott Jad zu bekehren. Nicht nur seine engsten Bekannten stürzt das in Zweifel und Ärger. Nur wenige begreifen, dass das ein hochpolitischer Akt des Anglcyn-Königs war, um die Erlinger zu demütigen, die gefürchteten Berserker zu frommen Schäflein zu machen, die sich brav vor Aeldred knieten und sogar den Glauben wechselten, ohne etwas im Gegenzug dafür zu erhalten.

Den schwarzen Hass, den König Aeldred gegen die Erlinger hegt, soll kurz darauf eine Truppe Jormsvik-Erlinger zu spüren bekommen, die unter dem verkrüppelten Ivarr Ragnarsson in das Anglcyn-Gebiet einfallen, scheinbar um in König Aeldreds Reich zu plündern.

Nicht zu vergessen, das entscheidende Fantasy-Element: Magische Wesen, Elfen, Mythen und ein Geisterwald spielen eine wichtige Rolle. Zwar treten sie immer nur am Rande auf, als kurze fast deplatziert wirkende Streiflichter, aber sie nehmen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Geschehnisse und tragen ihren Teil zu der herrlichen Auflösung bei!

Von Fakten und Legenden.

Man kann es an der oberen Zusammenfassung erkennen: „Die Fürsten des Nordens“ ist ein komplexes Buch mit vielen verknüpften Handlungssträngen. Anders als R. Scott Bakker in seinem Zyklus „Der Krieg der Propheten“ bringt Kay seine Geschichte beschwingter und flüssiger daher, die Komplexität entfaltet sich während des Lesegenusses, ohne dass dem Leser vor Konzentration der Rauch aus den Ohren steigt.

„Die Fürsten des Nordens“ verknüpft historische Fakten mit Legenden. Aber der Leser bekommt keinen trockenen Geschichtsunterricht über das Leben und die Sitten der Wikinger vorgesetzt, sondern eine dichte Story voller lebendiger Figuren, die ganz nebenbei zeigen, was damals für Sitten herrschen mochten. So darf man dabei sein, wenn Bern Thorkellson versucht, ein Wikinger zu werden, oder wenn Cyngael einen Viehdiebstahl planen, oder wenn Anglcyn ihre Bauern zu einer Art Volksarmee zusammentrommeln.

Auch wird der Wikinger hier nicht als eindimensionales Feindbild gezeichnet. Kay stellt die Erlinger als komplexes Volk dar, das in seinem kargen Lebensumfeld so harte Sitten entwickeln musste, um nicht zu verhungern. Wunderbar spiegelt sich das bei besagtem Bern Thorkellson wider, der immer wieder von Zweifeln geplagt wird, sich aber die alten Erlinger-Grundsätze vorbetet, um nicht „Opfer seiner Schwächen“ zu werden.

Ihre Tiefe erhält die Geschichte nicht dadurch, dass Kay das Bild vom bärtigen, methornschwingenden Raufbold entmachtet, sondern dadurch, dass er zeigt, was die Erlinger zu diesen methornschwingenden Raufbolden macht! Bei jeder Figur ist die eigene Persönlichkeit spürbar, aber gleichzeitig auch der Druck der Kultur, welche die Charaktere manchmal zu Entscheidungen und Ansichten zwingt, die sie eigentlich gar nicht so empfinden.

Aber nicht nur historische Recherche und figürliche Tiefe machen die Stärke von „Die Fürsten des Nordens“ aus, auch die Dramaturgie ist erfrischend und kunstvoll. Natürlich gibt es die Perspektiven der Hauptfiguren, des Erlingers Bern Thorkellson, des Cyngael Alun ab Owyn und des Anglcynkönigs Aeldred, aber immer wieder zeigt Kay wichtige Geschehnisse aus der Perspektive dritter, „unwichtiger“ Figuren. Kay öffnet kleine Handlungsstränge, lässt den Leser einen Blick in den Alltag „normaler Menschen“ werfen, abseits des Adels und der Krieger, während die handlungsrelevanten Informationen sozusagen im Augenwinkel dieser Alltäglichkeiten stattfinden.

Anstrengender Raubzug für historisch unerfahrene Nordmannen.

Mitunter wird das Ganze etwas anstrengend, vor allem für historische Anfänger wie mich. Da prasseln einem anfangs Völkernamen und Provinzen um die Ohren wie Schwerthiebe, und man tut sich unglaublich schwer herauszuarbeiten, wer nun wie zu wem steht und warum. Nur eines ist klar: Die Erlinger mag keiner, weil die jeden überfallen und ausrauben. Es bleibt alles etwas schwammig, weil man sich nicht vorstellen kann, wo die Erlinger überhaupt leben, wo die Cyngael und wo die Anglcyn, welche dieser Völker bezeichnet man heute als Angelsachsen und welche als Kelten, welche Entfernungen trennen die Völker voneinander, wie groß ist ihr besiedeltes Gebiet, gibt es Hauptstädte, und, und, und …

Manches davon wird wohl erwähnt, aber da diese ganzen Informationen während einer straffen Handlung einfließen, rauschen einige Namen unbeachtet am Leser vorbei und das Universum bleibt dann doch etwas nebulös. Das sorgt dann auch für gelegentliche Zähflüssigkeiten im Storyfortgang: Als Anglcynkönig Aeldred urplötzlich vorgestellt wird, weiß man damit erst mal überhaupt nichts anzufangen, es erscheint fast, als hätte ein zweites Buch begonnen – der Bezug zu Bern Thorkellsons Handlungsstrang und zum Handlungsstrang der Cyngael bleibt lange im Dunkeln.

Aber am Ende wird man für seine Mühen reichlich belohnt: Alle, aber wirklich alle Handlungsstränge werden zu einem befriedigenden Schlussakkord verwoben und plötzlich sieht man klar. Für Freunde säbelrasselnder Haudrauf-Fantasy ist „Die Fürsten des Nordens“ nicht zu empfehlen, und auch wer das vom Klappentext versprochene „George-R.-R.-Martin-Erlebnis“ erwartet, wird ebenfalls enttäuscht werden. „Die Fürsten des Nordens“ ist erheblich kopflastiger als „Das Lied von Eis und Feuer“, es ist pathetischer und ruhiger – nachdenklicher, wenn man so möchte – es gibt keine aufreizend hassenswerten Schurken, die Dialoge sind taxierend und schlau, nicht schlagfertig und schnell, und spannenden Schlachten-Bombast gibt es auch nicht zu bestaunen.

Dafür gibt es Figuren mit Tiefe, anspruchsvolle Gedankengänge, ambivalente Beziehungen, und was die Schlachten angeht: Noch nie habe ich einen Autor erlebt, der es tatsächlich geschafft hat, eine spannende Schwertkampf-Szene zu schreiben, obwohl er hauptsächlich Überlegungen und Erinnerungen darstellt, anstatt klirrende Schwerter Funken fliegen zu lassen … Anspruchsvolle Fantasy also, für den historisch Begeisterten unbedingt empfehlenswert, für Anfänger eine anstrengende Reise, aber nichtsdestotrotz beeindruckend!

Gebunden: 560 Seiten
Originaltitel: The Last of the Sun
www.piper.de

Guy Gavriel Kay bei Buchwurm.info:

„Das Komplott“242 (Sarantium 1)
„Die Löwen von Al-Rassan“
„Silbermantel“ (Die Herren von Fionavar 1)