Keen, Andrew – Stunde der Stümper, Die

_Eine digitale Höllenfahrt in neun Kapiteln_

Im 21. Jahrhundert scheint ein alter Menschheitstraum endlich Wahrheit geworden zu sein: Die weite Welt ist durch das Internet 2.0 vernetzt, der Informationsprozess bleibt nicht länger einer Elite von Forschenden und Wissenden vorbehalten. Jede Frau und jeder Mann, die oder der sich berufen fühlt, kann einsteigen und öffentlich = global ihre/seine Meinung kundtun. Es wird gebloggt, was die Leitungen hergeben; heute teilt sich eine Menschenschar in unbekannter, aber dreistelliger Millionenzahl regelmäßig über das Internet mit. Sie beschränken sich nicht auf die Ausstellung persönlicher Befindlichkeiten. ‚Wissenschaftliche‘ Artikel aus den Natur- und Geisteswissenschaften stehen neben tagesaktuell vorgestellten & kommentierten Neuigkeiten; Romane, Gedichte, Musik und neuerdings Filme zeugen von der kreativen Ader der Internet-2.0-Gemeinde.

Längst sind Wirtschaft und Politik aufmerksam geworden und nutzen das Web zur Realisierung eigener Vorhaben. Internetportale sind wertvoll geworden. Immer größere Informations- und Unterhaltungsdateien treten ihre digitale Reise an. Die Welt verwandelt sich in einen riesengroßen, kunterbunten Selbstbedienungsladen, in dem alles ständig verfügbar ist.

Oder? Mit einer gewissen Verspätung treten die Kritiker des Internet 2.0 auf den Plan. Sie haben es schwer, denn ihnen zuvor kamen die Befürworter und Profiteure, die von unendlichen Möglichkeiten schwärmten und gewaltige Gewinne ankündigten. Dass noch jede Innovation in der Geschichte der Menschheit ihre Schattenseiten hatte, wurde geflissentlich ausgeblendet. Wieso ausgerechnet das Internet 2.0 so lange nicht kritisch hinterfragt wurde, ist eines der Themen, denen sich Andrew Keen in „Die Stunde der Stümper“ nicht nur mit viel Wissen, sondern auch mit Verve widmet.

_Wird der Planet der Affen Realität?_

In den 1990er Jahren war Autor Keen selbst im berühmt-berüchtigten kalifornischen Silicon Valley tätig und ein eifriger Vertreter der „Neuen Medien“. Er kennt die Materie deshalb gut, und auch wenn er sich allzu kompromisslos vom Saulus zum Paulus gewandelt hat – dazu weiter unten mehr -, beeindrucken und beunruhigen die Fakten, mit denen er seine Thesen untermauert.

Eine endlose Kette aufgedeckter Internet-Sünden bildet den roten Faden in einem ansonsten recht wüst (oder wenig) gegliederten Buch, was Keen in seinem Nachwort gar nicht leugnet. „Wes‘ Herz ist voll, des‘ Mund läuft über“: Diese Haltung verleiht dem Verfasser Schwung und Überzeugungskraft, aber es lässt ihn auch wie eine wütende Gämse von Thema zu Thema springen.

In neun Kapitel presst Keen seine Darstellung. Mit einem Paukenschlag beginnt er: seiner Einleitung, die den angedeuteten Erweckungsprozess schildert, der in diesem Buch gipfelte. Schon auf diesen ersten Seiten legt Keen sich keinerlei Zurückhaltung auf. Ausgehend von einem bekannten Lehrsatz des Evolutionsbiologen Thomas Henry Huxley (1825-1890), nach dem man nur eine unendliche Anzahl von Affen mit Schreibmaschinen ausrüsten müsse, die irgendwann ein literarisches Meisterwerk vom Format eines Dramas von Shakespeares liefern würden, definiert Keen den Alltag des Internet 2.0 so: |“Doch … Millionen und Abermillionen übermütiger Internetnutzer, von denen vielen nicht mehr Talent haben als unsere äffischen Verwandten, produzieren keine Meisterwerke, sondern einen endlosen Dschungel der Mittelmäßigkeit. Diese Amateuraffen von heute können mit ihren vernetzten Computern nämlich alles publizieren: politische Kommentare ohne Informationsgrundlage, ungehörige selbst gedrehte Videos, peinliche Amateurmusik oder unlesbare Gedichte, Rezensionen, Essays und Romane.“| (S. 10)

Mit dem Sturz des „edlen Amateurs“ (der deutsche Titel ‚übersetzt‘ dies marktschreierisch als „Stümper“), der sich dank Internet vor allem selbst auf sein hohes Ross gesetzt hat, beginnt Keen denn auch seine Expedition in ein digitales Land des Grauens, erzählt von selbst ernannten „Bürgerjournalisten“, die ohne jede Vor- oder journalistische Ausbildung das Internet mit Halb- und Null-‚Wissen‘ verstopfen und damit Glauben finden, weil die menschliche Mehrheit lieber glaubt, was sie glauben möchte, und simplifizierte Gedankengänge der oft komplexen Realität vorzieht. Weiter geht es mit „Spammern und Abzockern“, mit Lügnern, Wirrköpfen, Faktenverdrehern und anderen manipulativen Zeitgenossen, die im Internet endlich das Medium gefunden haben, über das sie, die bisher mit Fug und Recht mit Fußtritten davongejagt wurden, ihren Schwachsinn verbreiten können.

Das Kapitel „Wahrheit und Lügen“ räumt mit dem Irrglauben auf, dass Blogs der Welt etwas zu sagen haben. In der Regel ist es reine Nabelschau, die auf diese Weise betrieben wird, was kräftig dazu beiträgt, die wenigen lohnenswerten bzw. künstlerisch relevanten Texte, Musikstücke oder Filme im weißen Hintergrundrauschen des Internet 2.0 untergehen zu lassen.

_Der Autor, der Dieb, seine User und ihre Nutznießer_

„Wikipedia“ und „YouTube“ sind besonders rote Tücher für Keen, was er wiederum mit deprimierend einsichtigen Beweisen belegen kann. Unter dem Titel „The Day the Music Died“ beschäftigt er sich intensiv mit der Frage des geistigen Eigentums. In einer Ära der digitalen Tauschbörsen ist dank der modernen technischen Möglichkeiten nichts mehr vor dem unendlichen Kopieren sicher, was unter anderem die Musikbranche in eine existenzielle Krise stürzte; in einen ähnlichen Abgrund wird wohl auch das kommerzielle Kino stürzen.

Während Keen sich mit seinem Appell an die Wahrung von Eigentumsrechten in der digitalen Welt der Gegenwart eher lächerlich macht, kommt auch der hartgesottenste Downloader an einer Frage ins Grübeln: Wer kreiert zukünftig die originären Inhalte, wenn niemand mehr bereit ist, für Kultur und Kunst zu zahlen? Die Apologeten des Internet 2.0 vertreten den Standpunkt, dass der geistige Input einer nach Milliarden zählenden Schar von Beiträgern einen frei verfügbaren Pool unendlichen Wissens und unglaublich schöpferischer Kunst generieren wird. Keen kontert nüchtern mit einer elementaren Tatsache: |“Talent war schon immer eine begrenzte Ressource, und heute ist es die Nadel im digitalen Heuhaufen. Begabte, gut ausgebildete Menschen wird man nicht im Schlafanzug am Computer finden, wie sie geistlose Blog-Beiträge oder anonyme Filmrezensionen schreiben. Zur Talentförderung sind Arbeit, Geld und Erfahrung nötig.“| (S. 39) Das ist eine heutzutage offenbar unangenehme Wahrheit, die indes Wahrheit bleibt.

Der Aufstieg der Dummbärte und ihre wahlweise parasitäre Aneignung der Leistungen talentierter Mitmenschen bzw. die Ignorierung derselben, wenn diese einem bereits vorgefassten und erschütternd engem Weltbild nicht entsprechen, geht einher mit dem Abbau bewährter Informationsstrukturen. Die klassische Zeitung verliert immer mehr Leser: Wieso für die tägliche oder wöchentliche, von einem geschulten Team fachkundiger Journalisten und Redakteure betreute Ausgabe zahlen, wenn man sich kostenfrei per Internet ‚informieren‘ kann? Wie gut sich hinter professionell gestalteten Layouts Unwissen, Werbung oder politische Manipulation verbergen können, deckt Keen anhand zahlreicher Beispiele auf.

_Schöne, neue, abgründige Welt_

Zu den Gewinnern der Internet-2.0-Ära gehören erwartungsgemäß primär jene, die sich niemals naiv und früh genug der Möglichkeiten der neuen Technik bewusst waren und diese planvoll zu ihrem Nutzen einsetzen oder missbrauchen. Die Zeche zahlen die weniger Dreisten oder Klugen. „Moralische Verwirrung“ überschreibt Keen ein Kapitel, dass sich mit moderner Online-Spiel- oder Sex-Sucht beschäftigt und weiter beschreibt, wie sich von den Bedürfnissen ihres Alltags überforderte oder gelangweilte Menschen in der Traumwelt der „Second Lives“ verlieren.

Eher kurz, aber nichtsdestotrotz deutlich geht Keen auf das Thema Datenschutz ein. Am Beispiel der nichtsahnend genutzten Suchmaschinen weist er nach, wie deren Betreiber nicht nur unkontrolliert Userdaten sammeln, die sie nichts angehen, sondern diese der Werbung zur Verfügung stellen und – der Gipfel der Dreistigkeit – den zusammengerafften Datenbestand nicht nur ungeschützt lassen, sondern ihn nicht selten selbst preisgeben. Die intimsten Geheimnisse des sich anonym wähnenden Internet-Users können mit fatalen Folgen plötzlich öffentlich und dankbare Identitätsdiebe aktiv werden.

In einem abschließenden Kapitel versucht sich Keen an Lösungen für die zuvor aufgeworfenen Probleme. Für ihn läuft es auf die Bewahrung akademischer bzw. intellektueller Eliten hinaus, die nicht umsonst als solche gelten: Sie verfügen über das ‚echte‘ Wissen und benötigen in erster Linie fachkundige Mediatoren, die es dem interessierten Laien zur Verfügung stellen. Damit erteilt Keen den selbst ernannten Fachleuten der „Wikipedia“-Kategorie eine eindeutige Absage, was man ihm objektiv unterschreiben kann: Auf dieser Erde werden unterdrückte oder bisher unentdeckte Superhirne nur im Ausnahmefall durch das Internet 2.0 offenbar!

_Noch ist die Menschheit nicht verloren!_

Nachdem er auf über 200 Seiten ein Szenario des geistigen und moralischen Untergangs zelebriert hat, wird Keen im letzten Teil seines Buches versöhnlich. Am Beispiel der Wahl des US-Präsidenten von 2008 meint er zu erkennen, dass die ‚wichtigen‘ Aspekte des Alltags noch nicht in den Sog des zweiten Internets geraten sind. Obwohl der Wahlkampf durchaus von nutzergenerierten Dümmlich- und Hinterhältigkeiten begleitet wurde, hat sich nach Ansicht von Keen die klassische Demokratie durchgesetzt: Die Präsidentschaft wurde nicht durch das Internet entschieden – eine Furcht, die (nicht nur) Keen durchaus gehegt hatte.

Dieser Nachklapp passt nicht zum Tenor des bisher Gesagten & Beklagten. Es relativiert Keens Äußerungen, die nachträglich überspitzt klingen. Dies sind sie zweifellos, weil sich ihr Verfasser Gehör verschaffen möchte. Das ist ihm gelungen, und seine Polemik ist ein nützliches Instrument, weil in der Regel die Fakten auf Keens Seite sind.

Darüber vergisst der Leser jedoch leicht, dass auch Keen nur eine Stimme in dem Chor ist, der sich über die Vor- und Nachteile des Internets auslässt. Keen muss sich selbst der Kritik stellen, die er zumindest einem entsprechend vorgebildeten Publikum ausdrücklich zugesteht. Bei näherer Betrachtung finden sich dann schnell Positionen, die sich objektiv nicht halten lassen, weil sie übertrieben oder aus dem Zusammenhang gerissen oder – dies vor allem – subjektiv allein auf Keens Mist gewachsen sind.

Aus Saulus wurde wie schon erwähnt Paulus. Dabei ist das Pendel verständlicherweise ein gutes Stück zu weit auf die negativkritische Seite ausgeschlagen. Mehrfach entlarvt sich Keen als Vertreter allzu trivialer ‚Tatsachen‘. Im Rahmen seiner sonst ausgefeilten Ausführungen fallen Banalitäten wie diese unangenehm auf: „13-jährige sollten Fußball spielen oder Fahrrad fahren und nicht im abgeschlossenen Schlafzimmer Hardcore-Pornografie anschauen.“ (S. 173) Das sind exakte jene Verallgemeinerungen, die Keen so gern den „Affen“-Usern nachweist.

„Die Stunde der Stümper“ ist deshalb keine ‚Bibel‘ für den Internet-Skeptiker. Als solche werden sie nur jene betrachten, die bereits vor der Lektüre ‚wussten‘, dass das Internet ‚böse‘ ist. Solche Zeitgenossen sind indes ebenso kontraproduktiv wie die allzu kritiklosen Jünger der digitalen Wunderwelten. Keen besitzt eine Stimme, die sich Gehör verschaffen konnte. Ob oder besser: wie weit ihr zu trauen ist, bleibt den Lesern überlassen. Sie haben Fakten erfahren und vor allem Denkanstöße erhalten. Das ist es, was Keen ursprünglich wollte, bevor er in seinem (Über-)Eifer selbst zu predigen begann. Von dieser Welt muss jeder Mensch sich weiterhin selbst sein Bild machen. Worin man Keen zustimmen muss, ist die Forderung, die Quellen, aus denen man dabei schöpft, sehr sorgfältig und heute sorgfältiger denn je auf ihre Genießbarkeit zu überprüfen. Dabei ist „Die Stunde der Stümper“ auf jeden Fall hilfreich.

_Impressum_

Originaltitel: The Cult of the Amateur: How Today’s Internet Is Killing Our Culture (New York : Doubleday 2007)
Übersetzung: Helmut Dierlamm
Deutsche Erstausgabe (geb.): September 2008 (Carl Hanser Verlag)
247 Seiten
EUR 19,95
ISBN-13: 978-3-446-41566-9
http://www.hanser.de

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