Jack Kerley – Der letzte Moment (Carson Ryder 2)

Der Serienmord als schöne Kunst betrachtet

Ein Serienmörder, der über die Kunst des letzten Moments philosophiert und dabei erschossen wird. Erinnerungsstücke an ihn, die Jahre später zu Höchstpreisen versteigert werden. Und eine Frauenleiche, die kunstvoll in einem Hotelzimmer arrangiert wurde. Carson Ryder, Alabama-Polizist mit Psychologenausbildung, und sein Partner Harry Nautilus stehen vor einem Rätsel. Nur gut, dass Carsons Bruder Jeremy selbst als Serienkiller hinter Gittern sitzt und ihm wertvolle Tipps geben kann. Oder führt er ihn diesmal hinters Licht? (Verlagsinfo)

Der Autor

Jack A. Kerley lebt in Newport, Kentucky, seine Hauptfigur Carson Ryder arbeitet jedoch bei der Polizei von Mobile, Alabama. Er ist verheiratet und hat mehrere Kinder. Den Autorennamen „Jack Kerley“ musste er in „J.A. Kerley“ ändern, weil es einen Online-Herrenausstatter gleichen Namens gibt.

Carson Ryder-Reihe

1) Einer von hundert (The Hundredth Man, 2004)
2) Der letzte Moment (The Death Collectors, 2005)
3) Den Wölfen zum Fraß (A garden of vipers / The Broken Souls, 2006)
4) Bestialisch(Blood Brother, 2008)
5) In the Blood
6) Little Girls Lost
7) Krank (Buried Alive, 2010)
8) Her Last Scream
9) The Killing Game
10) The Death Box
11) The Memory Killer
12) The Apostle
13) The Death File

Handlung

Die beiden Ermittler Carson Ryder und Harry Nautilus, die für die Mordkommission von Mobile, Alabama, arbeiten, haben gerade ihre Auszeichnung als Poliziszen des Jahres erhalten, als sie zu einem besonders gruseligen Tatort gerufen werden. Eine tote Frau liegt nackt auf einem Bett in einem Motelzimmer, das von Dutzenden brennender Kerzen erleuchtet ist. Hat hier eine Art Ritual stattgefunden. Kerzen sind sogar auf den Augenlidern der Toten zu finden. Carson fallen die schwieligen Hände der Toten – das war keine Stubenhockerin.

Dass sie auch nicht zu den in solchen Etablissements zu findenden Prostituierten gehörte, ergibt die Autopsie. Doch was hat der rote Ocker in ihren Hautfalten und Haaren zu bedeuten? Der Gerichtsmediziner sagt es Carson: Die Frau wurde erst begraben, dann wieder exhumiert, bevor sie Teil des Kerzen-Rituals wurde. Jemand muss sich viel Mühe dafür gemacht haben. Von der Vermisstenstelle erfährt er endlich die Identität der Toten: Schwester Marie Anne war eine Nonne.

Schwester Marie Anne lebte vor ihrem seltsamen Tod in einem Kloster, wo sie unter anderem das Pfirsichkompott herstellte, das sie dann im Ein-Mann-Vertrieb verkaufte. Die Äbtissin erzählt Ryder, dass Marie Gilbeaux, wie Marie Anne bürgerlich hieß, vor 20 bis 30 Jahren wie eine Waise bei ihnen ankam. Ryder findet heraus, dass Marie die Angehörige einer Art Manson-Klan war: Sie war Anhängerin von Marsden Hexcamp, einem der schlimmsten Serienmörder in der Geschichte Alabamas.

Der Ermittler

Der Mann, der sich am besten mit Hexcamp auskennt, ist der pensionierte Mordermittler Jacob Willow. Die Tatsache, dass er bei Ryder telefonisch gefragt hatte, ob am Tatort ein Kunstwerk gefunden worden sei, führt Ryder zu dem Cop, der immer noch jede Spur verfolgt, die zum Vermächtnis Hexcamps führt. Denn es war Willow, der am 14. Mai 1972 die letzten Worte des Serienmörders vernahm: „Folgen Sie der Kunst, Jacob!“ sagte Hexcamp, schon an der Schusswunde verblutend, die ihm seine glühendste Anhängerin beigebracht hatte – und die sich gleich danach selbst richtete.

Hexcamp war ein Künstler, der an der Pariser Kunstakademie studierte und die Welt mit seinen Werken verunsichern und verstören wollte, um eine Reform herbeizuführen. Als Ryder einmal solch ein kleines Gemälde in die Hand bekommt, beeindrucken ihn die glühenden Farben, doch etwas verstört ihn: Durch Motiv ziehen sich wurmartige Fäden, als ob Verwesung eingesetzt habe.

Doch wo sind sie jetzt, all die berühmten Gemälde, all die philosophischen Schriften über den „Letzten Moment“? Willow ahnt, dass sie aus der Asservatenkammer des Polizei-Hauptquartiers von Mobile verkauft wurden, und zwar an jene überaus reichen Sammler von Serienmörder-Memorabilien, die sich mit ihren Stücken vor ihren Freunden brüsten wollen. Wie viel wären sie wohl für ein ganzes Gemälde zu zahlen bereit? Unsummen, vermutet er.

Und was wurde aus Hexcamps glühenden Anhängern? Eine erschoss sich gleich selbst, andere wurden verurteilt, doch etliche, wie Marie Gilbeaux, tauchten einfach unter. Und jetzt geht das mit den gekünstelten Morden schon wieder los, 30 Jahre danach, befürchtet Jacob Willow. Er gibt Ryder und Nautilus seine Unterlagen und jeden Namen, der relevant ist.

Besuch in der Klapse

Die Frage ist nun, wie sie zu diesem erlauchten Kreis von Sammlern Zugang finden sollen. Da hat Ryder eine ganz schlechte Idee, wie Harry findet: Ryder fragt einfach seinen verrückten Bruder Jeremy Ridgefield, der in der Klapse einsitzt, weil er fünf Frauen (und seinen Vater) umgebracht hat. Tatsächlich erweist sich jeremy, der von einem der Wärter ein Handy geklaut hat, als entgegenkommend – im Gegenzug für ein kleines Aufladegerät. Der „Kollege“, den er anbietet, ist ebenfalls ein Serienmörder: Trey Forrier benutzte bei seinen „Aktionen“ Masken. Drei haben die Cops gefunden, doch wo ist die Vierte versteckt? Jeremy kann es ihm sagen…

Als Carrol Ransburg macht sich Ryder fein für seinen nächsten Termin in der Szene. Giles Walcott ist ein Händler für solche ausgefallenen Devotionalien. Nach ein wenig Überredung und Nötigung – Walcott hat dummerweise Ryders Foto in der Zeitung entdeckt – gelangt Ryder zum ersten echten Sammler. Es ist eine Sie. Und Marcella Baines erweist sich als nicht nur als glühende Sammlerin (und zudringliche Verehrerin von Mr. Ransburg), sondern spricht auch offen von Marsden Hexcamps Auferstehung …

Unterdessen

Schon am Tatort mit der toten Nonne im Motel nervte die TV-Reporterin Dee Dee Danbury die beiden Spezialermittler. Bislang konnten Ryder und Harry sie und ihren Kameramann stets abwimmeln, bis Ryder einmal ausfällig wurde und sich der Sender beim Bürgermeister und beim Polizeichef beschwerte. Jetzt haben sie den Salat: Aus Gefälligkeit muss der Chef mit den Medien zusammenarbeiten. Und dreimal dürfen sie raten, mit wem sie ihre Erkenntnisse teilen müssen.

Aber eines möchte Ryder zu gerne wissen: Wer ist der geheimnisvolle Anrufer, der Miss Danbury die heißen Tipps im Fall Hexcamp-Morde gibt?

Mein Eindruck

Wieder mal ein Thriller mit einer schier unglaublichen, umwerfenden Auflösung. Offenbar begehen Cops wie Ryder und Nautilus stets den gleichen Fehler: dem Anschein zu trauen, wenn es um Menschen geht. Das ist insofern bemerkenswert, als die beiden ja schon ein eingespieltes Team sind und – zumindest Harry – über reichlich Erfahrung verfügen. Sie wissen mit Irren in jeder Gestalt umzugehen, aber wenn ihnen mal ein Normalo über den Weg läuft, werden sie nich tallzu misstrauisch. Immerhin kann man ihnen zugutehalten: Sie sind offen für alles.

Aber auch von präparierten Tatorten lassen sie sich überlisten, nicht bloß einmal, sondern mehrmals. Und wenn dann noch ein alter Hase wie Jacob Willow überzeugt davon ist, dass es den Schatz des Serienmörders, quasi das Vermächtnis, doch noch geben muss, findet sich sogar Carson Ryder bereit, dies angesichts eines entsprechend präparierten Tatorts zu bestätigen – vor laufender Kamera! Zugegeben, auch Kameramänner können fies sein. Selbstverständlich sind auch sie nicht das, was sie scheinen.

Ohne nun weitere Hinweise und Details preiszugeben, die dem Leser den Spaß verderben würden, sei er nur gewarnt, dem Offensichtlichen zu vertrauen. Es ist alles ganz anders! Und das Finale kann sich daher wirklich sehen lassen. Auch ein wenig Action ist dabei mit im Spiel – und diese habe ich im ganzen Buch schmerzlich vermisst. Immerhin lässt sich als Ausgleich ein Verwirr- und Vexierspiel feststellen, das bei seiner Erkenntnis wirklich Laune macht.

Die Kunst des Todes

Das eigentliche Thema ist unübersehbar der Devotionalienhandel mit Serienmörder-Memorabilien, so wie die Amis gerne Nazi-Andenken kaufen (z.B. in „American Beauty“). Unterbewusst betrachten diese Sammler, etwa die verschrobene Marcella Baines, die Mörder als Künstler und ihre Taten als „Ereignisse“, so dass die Artefakte quasi Zeugnisse ihrer Kunst darstellen.

Diese Auffassung kontrastiert mit der landläufigen Verehrung für größere Künstler wie etwa Picasso. Marsden Hexcamp soll nun diese Trennlinie verwischt und pervertiert haben, indem er den letzten Augenblick, den ein Mensch erlebt, zum Kunstwerk hochstilisiert. Deshalb konnte sich seine Anhängerin, die ihn im Gerichtssaal tötete, auch ohne Weiteres selbst erschießen. Sie war sicher, dass sie – wie heute ein Selbstmordattentäter – dadurch schnurstracks in den Himmel kommen und dort ihren Meister wiedersehen würde.

Alles Fake

Ryders Ermittlung beginnt nun schrittweise, den Nimbus von Hexcamp ebenso zu zerstören wie dessen Gestalt als großer Künstler selbst. Auf einer sehr schön und bewegend geschilderten Reise nach Paris spürt er dem Ursprung Hexcamps und seiner Clique nach – es ist alles ein großer Schwindel, denn Hexamp war nach Aussage seines Lehrers ein Nichtskönner, der nach der Tötung eines anderen Künstlers in die USA floh.

Alles Lüge, bis auf eines: Jene Frau, die sich Calypso nannte und der Hexcamp verfiel, existierte wirklich und ohne falsche Vorspiegelungen. Schade, dass sie es war, die sich im Gerichtssaal tötete. Wirklich? Auch diese „Tatsache“ sollte man noch einmal überprüfen. Die Reise nach Paris ist auch eine Reise in eine andere Zeit, jene Ende der sechziger Jahre, als es viele Aussteiger und Hippies gab.

Bemerkenswerter Auslöser der Reise: Carsons Konterfei in einem der kleinen Kunstwerke, die bei den Opfern in und um Mobile gefunden werden. Wie kam es dorthin – und er noch dazu vor der Kulisse des Eiffelturms, der doch nie in der Stadt der Lichter war? Ein wunderbares Rätsel, dessen Auflösung ausgezeichnet klappt.

Kenntnisse und Aussagen

Der Autor kann nicht nur einwandfreies Französisch (bestimmt geprüft), sondern vermag auch einige Statements über Sinn und Zauber der richtigen Kunst zu machen, nicht nur explizit, sondern vor allem implizit, also in der Handlung selbst. Es gibt Scharlatane, die künstlerisch tun, so etwa Hexcamp. Und es gibt Künstler, die die Wirklichkeit verwandeln, die aber gar nicht als solche wahrgenommen werden, sondern in der Klapse eingesperrt sind. Nicht nur in der Ermittlung, sondern auch in der Kunst sind die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit, Anspruch und Fake fließend.

Die Übersetzung

Abgesehen von den allfälligen Druckfehlern mit falschen Wortendungen ist diese Übersetzung außerordentlich gut gelungen. Die zahlreichen Redensarten und idiomatischen Wendungen, die die Übersetzerin einsetzt, zeugen von einer einwandfreien Beherrschung der deutschen Sprache. Auch der schnoddrigen Tonfall des Vorgängers „Einer von Hundert“ stört jetzt nicht mehr.

Zwei Fehler:

Seite 113: „die Geisel aller Kriminellen“. Gemeint ist die „Geißel“ im Sinne von Strafinstrument.

Seite 261: „Powpow“ statt „Powwow“. Gemeint ist das indianische Gegenstück zum „Palaver“ als Unterredung. „Powpow“ kann aber entweder ein Fehler des Autors oder ein Fehler der jeweiligen Figur sein.

Unterm Strich

Obwohl sich hier im Vergleich zum Vorgänger „Einer von Hundert“ die Leichen nicht gerade stapeln, so hat doch auch „Der letzte Moment“ seine besonderen Reize. Sie sind nicht auf Action und gruseligen Tatorten aufgebaut, sondern auf einer folgerichtigen Ermittlung, die eine Legende zerstört, und auf einer überraschenden Umkehrung des Blickwinkels, mit der wir alle Ereignisse dieser Ermittlung betrachten. Diese Umkehrung führt zu einer völligen Neubewertung aller Fakten – zu spät für Ryder, der schon in die Falle getappt ist. Wer wird ihn jetzt da wieder rausholen?

Was ich etwas schade fand, war das Fehlen einer Liebesgeschichte. Diese hatte „Einer von Hundert“ durch das menschliche Drama sehr reizvoll gemacht. Aber in „Der letzte Moment“ gibt es zwar eine Affäre zwischen Ryder und der Fernsehreporterin, die in Paris eine wichtige Rolle spielt, aber sämtliche Liebesszenen werden ausgeblendet. Vielleicht aus Platzgründen? Oder um die Story zu straffen? Wir wissen ja, dass Ryder kein Kostverächter ist – auch in „Buried Alive“ kommt er eine Polizistin nah und näher.

Der Roman ist wohl eine Warnung vor und kritische Bewertung des Kultes, der in den USA um Serienmörder getrieben wird – je grausiger und durchgeknallter ihre Taten, desto höher ihr „Marktwert“ für Sammler entsprechender „Andenken“. Der Autor setzt diese Andenken in kritische Beziehung zu vorgeblicher Kunst wie der von Hexcamp und echter Kunst wie der jenes in der Psychiatrie Eingesperrten, dessen Namen ich nicht verraten will. Die Werte sind ganz unterschiedlich: von krasser Materialität bei den Sammler bis zur Transzendenz eben dieser Materie beim eingesperrten Genie.

Taschenbuch: 413 Seiten
Originaltitel: The Death Collectors (2005)
Aus dem US-Englischen von Bettina Zeller
ISBN-13: 978-3548263656

http://www.ullsteinbuchverlage.de/

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

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