Edgar Freemantle ist ein äußerst erfolgreicher Bauunternehmer in den Fünfzigern, der mit seiner Frau Pam und den erwachsenen Töchtern Ilse und Melinda ein glückliches Leben führt. Alles ändert sich schlagartig, als Edgar auf einer Baustelle einen schweren Unfall erleidet. Er überlebt knapp, verliert aber seinen rechten Arm. Dazu kommen immer wieder kurzzeitige Gedächtnislücken durch die Kopfverletzung und Probleme beim Laufen, die ihn zu heftigen Wutanfällen veranlassen. Während der komplizierten Genesungszeit verlässt ihn seine Frau und Edgar steht kurz vor dem Selbstmord. Sein Psychologe Dr. Kamen rät ihm zu einer Auszeit an einem abgeschiedenen Ort.
Edgars Wahl fällt auf die idyllische Florida-Insel Duma Key, wo er sich für ein Jahr ein Strandhaus mietet. Hier widmet er sich der Malerei, eine längst verschollen geglaubte Tätigkeit, die seit vielen Jahren auf Eis lag. Überrascht stellt Edgar fest, dass Duma Key eine starke Inspiration auf ihn ausübt. Im Rausch entstehen zahlreiche brillante Gemälde, deren Intensität Edgar zugleich beunruhigt.
Bei seinen Strandspaziergängen lernt er den ehemaligen Anwalt Wireman kennen, der die alte Dame Elizabeth Eastlake betreut und bald zu einem engen Freund von Edgar wird. Miss Eastlake gehört der größte Teil der Insel, darunter auch Edgar gemietetes Haus. Obwohl sie langsam im Alzheimer versinkt, erlebt Elizabeth immer wieder wache Momente, in denen sie Edgar mit ihrem Scharfsinn erstaunt. Nach und nach erschließt sich ihm ihre tragische Familiengeschichte, die eng mit der Insel verbunden ist – und mit seinen Bildern. Nicht nur, dass Edgar sich über sein plötzliches Talent wundert, in seinen Bildern schlummern auch übernatürliche Fähigkeiten – die allmählich ein gefährliches Eigenleben entwickeln …
Nachdem es sich bei Kings letztem Werk um einen kurzen Roman im Bachman-Stil handelte, legt er mit „Wahn“ (eine unselige ‚Übersetzung‘ des Originaltitels „Duma Key“) wieder einen Wälzer im gewohnten Umfang von über 800 Seiten vor – und weiß damit, von Kleinigkeiten abgesehen, auch zu überzeugen.
|Vom Leben und Leiden des Edgar Freemantle|
Betrachtet man den Ich-Erzähler Edgar Freemantle, so liegt es nahe, eine Parallele zu Kings eigenem Leben zu ziehen. 1999 erlitt er selbst einen schweren Autounfall, den er bereits in seinem Sachbuch „Das Leben und das Schreiben“ thematisierte. Edgar Freemantle ist in einem ähnlichen Alter wie King damals und der Autor dürfte viele der schmerzhaften Situationen in der Rehabilitationszeit aus eigener Erfahrung kennen. Edgar ist ein glaubwürdiger Charakter, der sich schnell zur Sympathie- und Identifikationsfigur entwickelt, denn trotz seiner Millionen und seines außergewöhnlichen Schicksals verbirgt sich dahinter ein Durchschnittsmensch mit nachvollziehbaren Schwächen und angenehmer Bodenständigkeit. Man erlebt förmlich mit, wie ihn die Phantomschmerzen in den Wahnsinn treiben, wie er immer wieder automatisch an den fehlenden Arm greift und mit sich ringt, wenn ihm wieder einmal kurzzeitig das passende Wort entfallen ist.
Auch das Scheitern der langjährigen Ehe will verarbeitet werden, nicht zu vergessen die Schuldgefühle, da Edgar seit jeher die jüngere Ilse zu seiner Lieblingstochter erkoren hat. Phantastik oder gar Horror nehmen sehr lange nur einen untergeordneten Raum in der Handlung ein, der Fokus liegt stattdessen auf der langsamen Rückkehr des Protagonisten ins Alltagsleben, auf die Bewältigung seiner persönlichen Schwierigkeiten und der Auseinandersetzung mit Verlust, Beinah-Tod und Depressionen.
|Gelungene Nebencharaktere|
Weitere starke Figuren sind Wireman und die alte, pflegebedürftige Elizabeth Eastlake. Wireman entpuppt sich als raubeiniger Geselle mit weichem Kern, mit Sinn für trockenen Humor und Selbstironie und gelegentlichen lakonischen Einwürfen auf Spanisch. Aus dem ehemaligen Anwalt ist ein Aussteiger geworden, der sein Leben ganz auf Elizabeth Eastlake eingerichtet hat, für die er mehr Freund als Betreuer geworden ist. Der tragische Verlust von Ehefrau und Tochter hat Schatten auf Wiremans Seele hinterlassen, ihn jedoch nicht davon abgehalten, seinem neuen Leben eine Chance zu geben – kein Wunder also, dass die neuen Nachbarn rasch zu engen Verbündeten werden.
Elizabeth Eastlake, aufgrund ihrer grotesken Erscheinung mit Sonnenhut und Turnschuhen von Edgar spontan als „Braut des Paten“ bezeichnet, schwankt zwischen hellwachen Augenblicken, in denen sie sarkastische Bemerkungen einstreut, Zigaretten raucht und direkt in Edgars Seele zu blicken scheint, und den alzheimertypischen Versinkungen, in denen ihr die einfachsten Begriffe entfallen. Ihre lichten Momente sind Trost und Schmerz zugleich, denn die alte Dame ist sich ihrer Krankheit bewusst. Mit fortschreitender Handlung enthüllt sich ihre Familiengeschichte, die auf unheimliche Weise mit Edgars Bildern verknüpft ist. Ertrunkene Zwillingsschwestern spielen dabei eine wichtige Rolle, ebenso wie Elizabeth‘ eigenes Maltalent und ein roter Picknickkorb, in dem der Schlüssel zu allem verborgen liegt.
|Humor und Sensibilität|
Wie üblich bei King liegen Lachen und Grauen eng beieinander. Seine Charaktere verhalten sich erfrischend uneitel und können sich über ihre eigenen Schwächen amüsieren. Für bizarre Komik sorgt immer wieder Edgars Wut-Managementpuppe Reba, die ihm seit seiner Krankenhauszeit als Ventil für seine Ausraster dient, wenn ihm ein Wort entfällt, was Reba stets mit einem Blick, der „Aua, du böser Mann!“ zu sagen scheint, erwidert.
Obwohl man sich über Edgars Ausbrüche amüsiert, läuft man als Leser nie Gefahr, den Respekt vor ihm zu verlieren. Gleiches gilt auch für Elizabeth Eastlake, über deren schrulliges Auftreten man zwar schmunzeln mag, ohne jedoch sie oder ihre Krankheit zu veralbern. Damit gelingt King die schwierige Gratwanderung, die Gebrechen seiner Charaktere humorvoll zu schildern und gleichzeitig anzurühren. Vor allem in Hinblick auf das Ende, das, wie man schon vorher ahnt, nicht alles zum Besten zusammenfügt, überwiegt im Roman die Melancholie, und es ist typisch King, dass dies keineswegs zahlreiche witzige Szenen ausschließt.
|Nur kleine Schwächen|
Mit knapp über 800 Seiten ist „Wahn“ ein Mammutwerk, in dem sich der Autor phasenweise zur übertriebenen Geschwätzigkeit hinreißen lässt. Sehr detailliert verfolgt man Edgars tägliche Abläufe, oft unnötig weitschweifig geschildert. Für Horror-Fans kommt enttäuschend, dass gerade dieser Part sehr spät einsetzt. Abgesehen von den wahnhaften Malereien kann man erst ungefähr ab Seite 500 von einem Horror-Roman sprechen, zuvor dominiert eindeutig das Seelenleben des Edgar Freemantle. Unheimliche Szenen gibt es zwar, doch ist der Horror-Teil eindeutig nicht das Stärkste im Werk. Das spricht zum einen für die Darstellung und Entwicklung der Charaktere, zum anderen bedeutet es kleine Durststrecken im Spannungsaufbau. Auch Actionfreunde kommen kaum auf ihre Kosten, trotz einiger Turbulenzen im Finale. Nicht ganz befriedigend ist außerdem das Schicksal, das am Ende Jerome Wireman widerfährt.
Für treue Kingfans könnten sich Parallelen zu früheren Werken störend auswirken. Bilder, die augenscheinlich zum Leben erwachen, kennt man aus „Das Bild“, eine übernatürliche Fähigkeit nach einem Unfall gewinnt auch der Protagonist in „Dead Zone – Das Attentat“, verstorbene Zwillingsmädchen tauchen bereits in „Shining“ auf, wiederkehrende Tote allgemein in „Friedhof der Kuscheltiere“. Das Buch ist eindeutig mehr als ein Aufguss früherer Ideen und kein Meisterwerk des Originellen. Es ist vor allem Kings solidem Stil zu verdanken, der sich vor anderen literarischen Größen nicht zu verstecken braucht, dass der Leser trotz manch langwieriger Phase nicht den Anschluss verliert.
_Als Fazit_ bleibt ein überzeugender Roman aus der Feder von Meisterautor Stephen King, der nicht ganz an seine besten Erfolge heranreicht, aber dennoch sehr gute Unterhaltung, sympathische Charaktere und eine schlüssige, oft bewegende Handlung bietet. Auffallend sind die Weitschweifigkeit und die Parallelen zu früheren Werken, zudem kommt der Horror erst spät ins Spiel – davon abgesehen jedoch ist „Wahn“ ein empfehlenswerter Roman.
_Stephen King_, Jahrgang 1947, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. 1973 veröffentlichte der ehemalige Lehrer mit »Carrie« nach mehreren Anläufen seinen ersten Roman, der zum Bestseller wurde. Alle folgenden Bücher wurden ebenfalls Welterfolge, viele davon sind von namhaften Regisseuren verfilmt worden. Bislang hat der Autor mehr als 400 Millionen Bücher verkauft (Verlagsangabe |Heyne| 2007).
King wurden sechs |Bram Stoker Awards|, sechs |Horror Guild Awards|, fünf |Locus Awards|, drei |World Fantasy Awards| (darunter der |Lifetime Achievement Award| 2004), ein |Hugo Award|, der |Lifetime Achievement Award| 2003 von der |Horror Writers‘ Association| sowie 2003 eine noch immer diskutierte Medaille für |Distinguished Contribution to American Letters| von der |National Book Foundation| und 2007 als einzigem Nicht-Kanadier ein |Award for Lifetime Achievement| von der |Canadian Literary Guild| verliehen.
Zu den bekanntesten Werken gehören unter anderem: »Es«, »Christine«, »Shining«, »Misery«, »The Stand« und die siebenteilige Saga vom »Dunklen Turm«. Weitere Bücher erschienen unter dem Pseudonym Richard Bachman. Mehr über ihn auf seiner Homepage http://www.stephenking.com.
|Originaltitel: Duma Key
Originalverlag: Scribner
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
Gebundenes Buch, 896 Seiten
2 Schwarzweiß-Abbildungen|
http://www.heyne.de
_Stephen King bei |Buchwurm.info|_ (Auswahl):
[„Qual“ 4056
[„Brennen muss Salem – Illustrierte Fassung“ 3027
[„Brennen muss Salem“ 3831 (Hörbuch)
[„Briefe aus Jerusalem“ 3714 (Audio)
[„Friedhof der Kuscheltiere“ 3007 (Audio)
[„Puls“ 2383
[„Trucks“ 2327 (Audio)
[„Colorado Kid“ 2090
[„The Green Mile“ 1857 (Audio)
[„Das Leben und das Schreiben“ 1655
[„Atemtechnik“ 1618 (Audio)
[„Todesmarsch“ 908
[„Der Turm“ 822 (Der Dunkle Turm VII)
[„Der Sturm des Jahrhunderts“ 535
[„Tommyknockers – Das Monstrum“ 461
[„Achterbahn“ 460
[„Danse Macabre – Die Welt des Horrors“ 454
[„Christine“ 453
[„Der Buick“ 438
[„Atlantis“ 322
[„Das Mädchen“ 115
[„Im Kabinett des Todes“ 85
[„Duddits – Dreamcatcher“ 45