Klein, H. D. – Googol

Im Jahr 2045 ist es so weit: Außerirdische fliegen die Erde an! Sie reisen an Bord eines riesigen Pyramidenraumschiffs an, hüllen sich aber in tiefes Schweigen. Die Erdmenschen ergreifen die Initiative, doch als sich ein „Begrüßungskomitee“ aufmacht, die Pyramide anzufliegen, setzt es sich nicht aus kernig-stoppelhaarigen NASA-Astronauten zusammen. An Bord der “Nostradamus” befindet sich eine Multikulti-Crew, die ihre Anweisungen – man lese und staune! – vom deutschen (!) Raumfahrtkonzern „Space Cargo“ erhält. (Das ist wahre Science-Fiction!) Kapitän John Nurminen und seine Mannschaft haben den Auftrag, die außerirdischen Gäste zu begrüßen und, sollte niemand zu Hause sein, die Geheimnisse ihres Pyramidenschiffes zu erkunden – zum Wohle des Mutterkonzerns und der Menschheit: in genau dieser Reihenfolge.

Die Mission ist schwierig und stellt ihre Mitglieder vor nie gekannte Probleme. An Bord der „Nostradamus“ herrscht wenig von dem weihevollen Eifer, der Forschern und Entdeckern in den Geschichtsbüchern nachträglich gern zugeschrieben wird. Die Mannschaft ist bunt zusammengewürfelt und arbeitet (noch) nicht harmonisch zusammen. Kapitän Nurminen hat kein Mitspracherecht bei der Zusammenstellung der Crew; „Space Cargo“ stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Mehr als die Tatsache, die historische Mission mit einer Mannschaft anzutreten, die in ihrer Mehrheit die Erde niemals verlassen hat, beunruhigt Nurminen die Tatsache, dass man ihn zwingt, dies an Bord eines Schiffes zu tun, das wenig mehr als ein Prototyp ist. Der Antrieb der „Nostradamus“ ist revolutionär – jedenfalls in der Theorie, denn praktisch wurde er noch nicht unter Dauerbelastung getestet. Das ficht seinen geistigen Vater, den knarzig-genialen Professor Schmidtbauer, allerdings nicht an. Schließlich ist er höchstpersönlich mit von der Partie und wird dem Kapitän schon zeigen, welche Knöpfe er zu drücken hat. Da schreckt es den gebeutelten Nurminen nicht mehr, als er entdeckt, dass seine neue Bordärztin eine ehemalige Geliebte ist, von der er sich im Streit getrennt hat, und sich zum Dienst auch eine Parapsychologin mit dem schönen Namen Halbmond sowie ein Nexialist melden, der von allem ein bisschen, aber nichts richtig versteht und dadurch nach Ansicht des Konzern prädestiniert ist für die Kontaktaufnahme mit einer außerirdischen Intelligenz.

Allerdings ist es fraglich, ob die „Nostradamus“ ihr Ziel jemals erreichen wird. Die Konkurrenz-Konzerne von „Space Cargo“ gedenken nicht, sich ausbooten zu lassen. Sie schicken eigene Schiffe aus. Der Vatikan ist davon überzeugt, dass am Steuer der Pyramide der Antichrist höchstpersönlich sitzt, der komfortabel anreist, um endlich sein Reich des Bösen auf der Erde zu errichten. Die Außerirdischen sind gar nicht so fremd im Sonnensystem, denn auf dem Mars wurden schon vor einigen Jahren Pyramidenbauten gesichtet, die stark an die Form des nun georteten Raumschiffs erinnern; die Entdeckung wurde aus politischen Gründen geheim gehalten. „Space Cargo“ selbst scheint ein falsches Spiel mit der Mannschaft der „Nostradamus“ zu treiben und sehr viel interessierter an der Erprobung des neuartigen Antriebs als an der Erforschung der Pyramide zu sein, und, und, und … Die Ränke und Intrigenspiele auf der Erde und im Weltall scheinen kein Ende zu finden, und mittendrin steckt immer die „Nostradamus“ – ein hilfloser Spielball divergierender, undurchsichtiger Interessen und einer Technik, die sich verhängnisvoll zu verselbständigen beginnt …

„Googol“ – eine Space Opera aus deutschen Landen, die eigene Wege geht; ein Unikum auf einem schon lange weitgehend nivellierten SF-Buchmarkt, der durch angelsächsische Autoren und Endlosserien à la „Star Trek“ oder „Battletech“ geprägt wird: eine Überraschung, mit der wohl niemand gerechnet hat, und deren Wiederkehr sechs Jahre nach der Erstausgabe mit einer „überarbeiteten“ Neuauflage versucht wird.

H. D. Klein erfindet mit seinem ziegelsteinschweren Opus das Rad nicht neu, aber das verlangt ja auch niemand. Selbst wenn sich das Erstaunen, dass es ein Buch wie „Googol“ tatsächlich geben kann, ein wenig gelegt hat, bleibt die Freude an einer spannenden, trotz ihrer Umfangs ohne gravierende Längen erzählten Geschichte. Offensichtlich gibt es doch kein Gen, das nur Amerikaner oder Briten befähigt, einen lesenswerten SF-Roman zu Stande zu bringen (dessen Held nicht Perry Rhodan oder Rhen Dark heißt …). Klein hat sein Thema und seinen Stoff im Griff. Die von ihm zum Einsatz gebrachte Technik wirkt überzeugend. Besonders positiv macht sich indes sein Entschluss bemerkbar, das Hauptgewicht eben nicht auf die „harte“ Science-Fiction zu legen, wie dies im Umfeld der Erforschung außerirdischer Artefakte im SF-Roman allzu oft geschieht, sondern die Menschen in den Vordergrund zu stellen – „Menschen“ wohlgemerkt, nicht eindimensionale „Helden“ und „Schurken“. John Nurminen beispielsweise müht sich redlich, die übernommene Aufgabe erfolgreich durchzuführen. Für ihn ist es ein schmerzlicher Prozess, als er zum einen herausfindet, dass er eindeutig überfordert ist. Schlimmer wirkt sich die Entdeckung aus, vom „Space Cargo“-Konzern, dem er bisher vertraut und für den er sein Bestes gegeben hat, belogen und ausgenutzt worden zu sein; eine Erkenntnis, die um so bitterer wirkt, als Nurminen sich eingestehen muss, dass die entsprechenden Zeichen schon lange an der Wand gestanden haben: Er wollte sie einfach nicht sehen.

Unter diesen Umständen ist es zu verschmerzen, dass das Rätsel der Außerirdischen in „Googol“ niemals eine echte Auflösung erfährt. Sie dienen ihrem Autor als „McGuffin“, wie Alfred Hitchcock es genannt hat: als Katalysator, der die Handlung in Schwung bringt, um anschließend nebensächlich zu werden. Dazu kommt die uralte Einsicht, dass ein Rätsel, dessen Auflösung man allein dem Leser überlässt, einen um so stärkeren Eindruck hinterlässt. So sind die Außerirdischen letztlich tatsächlich gar nicht so wichtig.

Einige wenige Schwachpunkte gibt es gleichwohl doch. So ist das Bild einer im Würgegriff skrupelloser Wirtschaftskonzerne gefangenen Erde nicht nur ein wenig abgegriffen. Es wurde auch schon wesentlich schärfer und konsequenter und dadurch überzeugender gezeichnet. (Man denke nur an William Gibsons „Neuromancer“-Trilogie oder – um einen echten Klassiker zu nennen – Frederik Pohls und Cyril M. Kornbluthes „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“/“The Space Merchants“ von 1953.) Auch in seinem Bemühen, sich von der anglo-amerikanischen „Konkurrenz“ um jeden Preis abzugrenzen, ist Klein ein Stück zu weit gegangen: Seine Zeichnung der Mannschaft der „American Gothic“ und besonders ihres Captains ist womöglich satirisch gemeint, geht aber weit über die Grenzen der Karikatur hinaus.

Zu vermerken sind schließlich gewisse stilistische Schwächen oder besser Eigenarten, die wahrscheinlich nicht ausbleiben können bei einem Werk dieses Umfangs und einem Autor, an dem die Jahre der Perry Rhodan/Atlan/Terra Astra & Co-Monokultur nicht spurlos vorübergegangen sein können. Aber das sind nur Marginalien; es überwiegt die Freude an einem ambitionierten und gelungenen Roman – kein Meisterwerk, aber grundsolides Lesefutter, oft ein gutes Stück oberhalb des Durchschnitts.

Ach ja: Was ist eigentlich ein „Googol“? Den Mathematikern unter uns wird dieses Wort womöglich nicht unbekannt sein, denn es bezeichnet eine Zahl, die so unvorstellbar groß ist, dass es den Fachleute sogar schwer fiel, einen Namen für sie zu finden: eine Zehn, gefolgt von einhundert Nullen. Klingt noch nicht sehr eindrucksvoll, gewinnt aber an Gewicht, führt man sich vor Augen, dass die gesamte Anzahl aller Protonen des Universums auf eine Zehn mit achtzig Nullen geschätzt wird. (Edward Kasner, der das Googol in den 30er Jahres des 20. Jahrhunderts „erfand“, wandte sich für die „Taufe“ übrigens an seinen neunjährigen Neffen, der ahnungslos ein wahrhaft großes Wort gelassen aussprach und damit in die Wissenschaftsgeschichte einging.) Das Googol wird als erstes Zahlwort diesseits der Unendlichkeit, für das es keine Entsprechung mehr in „unserer“, der sichtbaren Welt gibt, definiert. Damit qualifiziert es sich nachdrücklich als Titel für einen Science-Fiction-Roman und mag gleichzeitig ein Wortspiel bilden, das die Erfahrungen seines Autors beschreibt, für einen mehr als tausendseitigen fantastischen Roman aus Deutschland in Deutschland einen Verlag zu finden.

Anmerkung: Für April 2006 ist die Fortsetzung „Googolplex“ bei |Heyne| angekündigt.

Schreibe einen Kommentar