Dean Koontz – Irrsinn


Mord als schöne Kunst dargeboten

Als Billy Wiles in einer mysteriösen Nachricht vor die Wahl gestellt wird, welche von zwei Frauen ermordet werden soll, hält er das für einen makaberen Scherz. In Wirklichkeit ist es der Auftakt zu dem irrsinnigen Feldzug eines psychopathischen Mörders.

Der Autor

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren, musste in seiner Jugend hungern, schrieb Schundromane für einen Hungerlohn, lernte seine Frau Gerda kennen und konnte schließlich mit ihr nach Kalifornien ziehen, wo das Ehepaar seither stets mit einem Golden Retriever zusammenlebt. Es gibt kein einziges Koontz-Buch der letzten Jahre – etwa seit „Geschöpfe der Nacht“ -, in dem nicht mindestens ein Loblied auf diese Hunderasse angestimmt wird.

Die zahlreichen Thriller und Horror-Romane des schärfsten Konkurrenten von Stephen King wurden sämtlich zu Bestsellern und in über 30 Sprachen übersetzt. Weltweit hat Koontz laut Verlag über 250 Millionen Exemplare verkauft. Leider wurden bislang nur wenige von Koontz‘ Büchern verfilmt. Die beste Verfilmung ist meiner Meinung nach „Intensity“, aber der Film strapaziert die Nerven derart, dass er höchst selten gezeigt wird.

„Velocity“ ist wieder einer dieser Titel, die auf „-ity“ enden. Siehe auch „Security“ und „Intensity“.

|Dean Koontz auf Buchwurm.info:|

[„Todesregen“ 3840
[„Frankenstein: Das Gesicht“ 3303
[„Die Anbetung“ 3066
[„Kalt“ 1443
[„Der Wächter“ 1145
[„Der Geblendete“ 1629
[„Nacht der Zaubertiere“ 4145
[„Stimmen der Angst“ 1639
[„Phantom – »Unheil über der Stadt«“ 455
[„Nackte Angst / Phantom“ 728
[„Schattenfeuer“ 67
[„Eiszeit“ 1674
[„Geisterbahn“ 2125
[„Die zweite Haut“ 2648

Handlung

Als der Barkeeper Billy Wiles an diesem Abend in Jack O’Haras Kneipe seinen Dienst versieht, bemerkt er den Fremden zwar durchaus, schenkt ihm aber wenig Beachtung. Auch seinen Kollegen Steve Zillis beachtet er nicht weiter, der wieder seine zotigen Späße mit den Gästen treibt. Und selbst als Ivy Elgin, das weibliche Orakel, als Kellnerin zu arbeiten anfängt, fällt ihm an diesem Abend nichts Besonderes auf. Bis er nach Feierabend zu seinem Wagen auf dem Parkplatz geht und einen Zettel hinterm Scheibenwischer findet. Es ist kein Strafzettel.

|“Wenn du diese Nachricht“|, steht da, |“nicht zur Polizei bringst, um sie einzuschalten, werde ich irgendwo in Napa County [hier lebt Billy] eine hübsche blonde Lehrerin umbringen. Wenn du diese Nachricht zur Polizei bringst, werde ich stattdessen eine ältere Frau umbringen, die sich sozial engagiert. Dir bleiben sechs Stunden, um dich zu entscheiden. Du hast die Wahl.“|

Billy hat die Wahl zwischen zwei unmöglich zu verantwortenden Übeln. Er fragt daher seinen besten Kumpel, den Polizisten Lanny Olsen, mit dem er aufgewachsen ist, was er tun soll. Lanny hat zwar keine Antwort auf das moralische Dilemma, in das Billy geworfen worden ist, aber er will sich der Sache annehmen. Lanny ist dienstlich in einer prekären Situation und will sich auf keinen Fall zu weit aus dem Fenster hängen. Eine unsachgemäße Behandlung dieser Angelegenheit könnte ihn bei Sheriff Parker den Job kosten. Und Billy will er auf keinen Fall erwähnen. Denn Billy und Parker stehen seit einer Sache vor einigen Jahren auf Kriegsfuß.

Es kommen zwar noch mehr Botschaften, aber dafür keine von Lanny. Das wundert Billy ein wenig. Als er nachschaut, findet er in Lannys Haus nur dessen Leiche – und ein Foto der getöteten hübschen blonden Lehrerin. Gemalte Cartoon-Hände – Lanny war Freizeit-Cartoonist – führen Billy zu Lannys Leiche, die bequem in einem Sessel der Bibliothek sitzt, einen Dickens-Band aufgeschlagen auf den Knien. Mehr Botschaften verraten etwas über den perfiden Killer, der seine Morde als „Darbietung“ verstanden wissen will.

Zu seinem WIE: |“Grausamkeit, Gewalt, Tod. // Bewegung, Geschwindkeit, Aufprall. // Fleisch, Blut, Knochen.“|

Und zum WARUM: |“Weil auch ich ein Menschenfischer bin.“| So wie Jesus sich selbst bezeichnete.

Zum WANN: Billy bekommt nur zwei Tage Frist: |“Meine letzte Tötung: Donnerstag um Mitternacht. // Dein Selbstmord: bald danach.“|

Nun muss sich zeigen, aus welchem Holz Billy geschnitzt ist. Der Killer kennt ihn offensichtlich genau, kennt seine Lebensgeschichte, weiß, was Billy vor Jahren, als er 14 Jahre alt war, mit einem Revolver getan hat. Es ist eine Einladung zu einem tödlichen Spiel, das der Killer als eine „Darbietung“ auffasst. Es kommen weitere Spieler vor, und der Einsatz ist hoch – nicht Billys Leben, denn er wird sich laut Vorhersage umbringen, sondern das Leben seiner Frau Barbara. Sie liegt seit vier Jahren im Koma in einem Pflegeheim.

Barbara ist der letzte Strohhalm der Hoffnung, an den sich Billy klammert. Sie spricht Zeilen aus Dickens‘ Werken, die sie in- und auswendig kannte. Billy weiß, dass sie eines Tages erwachen wird. Doch dafür muss er schneller sein und cleverer denken als der Killer, der ihm stets einen Schritt voraus zu sein scheint. Dumm nur, dass der Killer an seinen Tatorten Indizien hinterlässt, die Billy Wiles belasten werden, sobald man sie findet.

Da tauchen die zwei Sergeants der Polizei von Napa County auf und stellen ihm eingehende Fragen. Warum hat Billy den Notruf angerufen? Wieso hat er einen Tag freigenommen – oder sich krank gemeldet? Man setze ihn doch nicht irgendwie unter Druck, oder? Aber keinesfalls, winkt Billy ab. Aha, aber wie kommt dann das Wundpflaster auf Billys Stirn? Billy bricht der Schweiß aus. Denn vielleicht wollen Sgt. Napolitino und Sgt. Sobieski auch noch wissen, wo ihr Kollege Lanny Olsen abgeblieben ist. Und was die unbekannte Leiche in Billys Haus zu suchen hat …

Mein Eindruck

Ähnlich wie schon in „Intensity“ setzt der Autor nicht nur die Hauptfigur, sondern auch den Leser unter Starkstrom. Allerdings waren die Abenteuer wesentlich haarsträubender als die von Billy Wiles in „Irrsinn“. Sicher, Billy hat einiges zu verlieren, darunter auch seinen Lebenssinn, der in Barbara verkörpert ist. Aber die Art und Weise, wie er mit der perfide herbeigeführten Situation umgeht, lässt auf eine gewisse Abgebrühtheit schließen. Doch der Grund dafür wird erst 170 Seiten vor Schluss angedeutet. (Und ich werde mich hüten, etwas davon zu verraten.) So lange bleibt uns also Billys Handeln ein Rätsel.

Wir sollten uns lieber fragen, ob wir angesichts des Eingreifens eines solchen „Todeskünstlers“, der Mord als schöne Kunst darbietet, ebenso gehandelt hätten oder komplett durchgedreht wären. Die perfide Frage des Todeskünstlers lautet nämlich: Hat das Leben des einen Menschen mehr Wert als das eines anderen? Ist eine hübsche junge Lehrerin mehr wert als eine alte, sozial engagierte Dame? Muss man den Verlust eines nihilistischen Skeptikers und Trinkers beklagen? Oder ist dieser Teilnahme nur ein beliebter Mensch würdig?

Genau die gleiche Frage wird an Billy gerichtet, als ihm Barbaras betreuender Arzt nahelegt, doch die Maschinen abzuschalten, die Barbara am Leben erhalten, „um wertvolle Ressourcen zu erhalten“, die anderen Patienten zugute kommen könnten. Billy (der Autor) bezeichnet die entsprechende Geisteshaltung als „utilitaristische Ethik“, d. h. man sollte so handeln, dass es der größtmöglichen Zahl Menschen zum Nutzen dient. Was dabei dem Einzelnen dient, bleibt allerdings auf der Strecke. Und der Autor setzt dieses Problem in spannende Handlung um.

Billy verdächtigt zunächst Steve Zillis, gerät aber anscheinend auf den Holzweg. Der Schlüsselbegriff, den Billy verstehen muss, ist „Darbietung, Performance“. Der Todeskünstler stellt Billy nicht nur moralisch auf die Probe, sondern beglückt ihn auch mit einer künstlerischen Darbietung. Leider ist in deren Verlauf, Gott sei’s geklagt, auch Billys Tod vorgesehen. Sozusagen als krönender Abschluss, als Pointe.

Man muss nicht mit dem Zaunpfahl winken, um diese Art von „Kunst“ als menschenverachtend erkennen und bewerten zu können. Was der Autor kritisiert, ist der Fetischismus, mit dem Kunst in jedweder Form, aber besonders in den USA, sowohl auf den Sockel gestellt als auch als Ware gehandelt wird, in die man investiert, mitunter sogar Unsummen. Ginge es nicht um Bilder und Skulpturen, sondern um lebende Menschen, würde es einen Aufschrei geben. Offenbar ist niemand bereit, für einen Menschen – sagen wir mal: einen Flüchtling aus Darfur – 135 Millionen Dollar zu bezahlen, den Preis eines wertvollen Gemäldes. Der Flüchtling ist ja nicht mal eine Zeile in den Abendnachrichten mehr wert.

Wer Koontz‘ Werke seit „Dunkle Flüsse des Herzens“ kennt, weiß, dass er sich um eine christlich wie philosophisch begründete ethische Haltung gegenüber den Menschen bemüht, die von Mitgefühl bestimmt ist. Er hat es im Gegensatz zu vielen seiner gut verdienenden Zunftkollegen geschafft, diese philanthropische Haltung nicht durch platte Lohnschreiberei zu desavouieren (je schlimmer die dargestellten Gräuel, desto mehr Kohle bringt der Thriller), sondern sie vielmehr in durchdachten Plots wie in „Irrsinn“ durchschimmern zu lassen.

Deshalb finden sich in „Irrsinn“ fast ein Dutzend Zitate aus dem Werk des britischen katholischen Dichters Thomas Stearns (T. S.) Eliot. Es sind sentenzenhafte Lebensweisheiten, die sich Billy ins Gedächtnis ruft, um ihn auf den rechten und erfolgreichen Weg zu leiten, die aber ab und zu auch vom Erzähler selbst eingestreut werden.

Die Idee der Kunst als Mord und praktizierte Menschenverachtung wird konterkariert von den zahlreichen Schilderungen der Natur, die sich in „Irrsinn“ finden. Nicht nur die Sonnenuntergänge fallen Billy auf, sondern auch die vielen Vögel, die den Himmel und die Umgebung seines Hauses bevölkern. Eindrücklichstes Beispiel eines solchen Vogel-Auftritts (siehe „Darbietung“) ist ein wilder Rabe, der auf Ivy Elgins Fenstersims Kirschen isst und die Kerne fein säuberlich aufreiht, als gelte es, die Ordnung ihres Hauses einzuhalten. Ein dezenter Hinweis, dass der Natur, in der sich ein höheres Prinzip (= Gott) manifestiert und beobachten lässt, nicht nur eine innere Ordnung innewohnt, sondern sie auch mit Wundern aufwarten kann, die wir erst mit offenen Augen entdecken können und sollten.

Die Natur bietet auch Trost und Lehre. Napa Valley ist nicht nur ein wundervolles Weinanbaugebiet, sondern auch Heimat vieler Vögel. Die Arten der Vögel verschwinden und kehren wieder je nach der herrschenden Jahreszeit, und wenn der Todeskünstler verschwunden ist, so werden auch die schönsten Vögel zurückkehren wie eh und je, denn sie sind Seelenführer. Und vielleicht ist das Schicksal so gnädig, Barbaras Seele zurückkehren zu lassen, zurück aus den Werken eines Charles Dickens, zurück in die Arme ihres wartenden, fürsorglichen Mannes.

Diese zuversichtliche Geduld steht diametral im Gegensatz zum Programm des Todeskünstlers, das – siehe oben – auf „Bewegung, Geschwindigkeit (= velocity, der Titel des Originals), Aufprall“ basiert und nur die Einzelteile des Menschen wahrnimmt, aber nicht dessen Ganzes, das größer ist als die Summe seiner Teile. Ist der Todeskünstlers ebenfalls ein Anhänger der „utilitaristischen Ethik“? Oder will er Billy nur anhand des Horrors, den er verbreitet, einen heilsamen moralischen Schock versetzen? Die Antwort wird nicht verraten, aber was auch immer der Todeskünstler beabsichtigt und bewirkt, es trifft auch den Leser – wenn dieser aufmerksam genug ist, es zu erkennen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch Bernhard Kleinschmidt zeugt von großer Sorgfalt und einem breitgefächerten wie auch tiefreichenden Verständnis der amerikanischen Sprache (die sich deutlich von der britischen unterscheidet). Wie ich an einem Originaltext von Koontz („Forever Odd“, 2005) gerade nachlesen kann, ist er ein äußerst präzise beschreibender Stilist, der selbst für die ausgefallensten Tätigkeiten und Dinge stets das einzige genau passende Wort findet. Das stellt hohe Anforderungen an jeden Übersetzer, denn manchmal ist die deutsche Sprache nicht präzise genug, um die genaue Entsprechung liefern zu können. Dann muss sich der Übersetzer einen Ersatz einfallen lassen, der nicht plump und nach Umgangssprache klingt. In fast hundert Prozent der Fälle ist dies Kleinschmidt gelungen, ohne Billy Wiles als Akademiker hinzustellen. Schließlich ist Billy doch „bloß“ ein Barkeeper, oder?

Dennoch stieß ich auf drei auffallende Fehler.

Auf Seite 136 findet sich in der vorletzten Zeile ein faktischer Fehler. Da heißt es „um sieben vor zehn“, während es doch schon zwei Seiten zuvor bereits 10:31 Uhr gewesen war. Es sollte „sieben vor elf“ lauten.

Auf Seite 241 taucht ein „Mount St. Helena“ auf, weltweit bekannt als Vulkan, der in den achtziger Jahren in die Luft flog. Nur hieß er damals noch, wie vielfach in den Nachrichten erwähnt, Mount St. Helens.

_Unterm Strich_

Wie alle Koontz-Romane seit „Dunkle Flüsse der Herzens“ liest sich auch „Irrsinn“ leicht, flüssig und unwiderstehlich spannend. Es ist ein wahrer Pageturner, doch im Unterschied zu vielen anderen Zunftkollegen hält der Autor auch Weisheiten bereit, die man woanders schwerlich findet. Der Showdown mit dem Todeskünstler, so packend er auch inszeniert ist, ist für mich gleichwertig mit den Einsichten, die der Autor eingestreut hat.

Besonders gefreut haben mich verschiedene Figuren und ihre Eigenarten, besonders aber das weibliche Orakel – sie nennt sich „Haruspizin“ – Ivy Elgin. Amerikanische Leser wissen schon lange: Wann immer man einen Koontz wieder zuklappt, fühlt man sich bereichert. Und das ist keine Sache des Glaubens, sondern eine Tatsache.

Originaltitel: Velocity, 2005
446 Seiten plus Anhang
Aus dem US-Englischen von Bernhard Kleinschmidt

www.heyne.de