Koontz, Dean – Schattennacht (Odd Thomas)

_Frankenstein trifft Dr. Jekyll und Mr. Hyde_

Nach den Ereignissen in [„Seelenlos“ 4825 hat sich Grillkoch Odd Thomas, der die Toten sehen kann, in ein einsam gelegenes Kloster in der Sierra Nevada zurückgezogen. Doch nach sieben Monaten des Friedens verschwindet einer der Mönche spurlos, und die Bodachs tauchen im nahegelegenen Internat auf, bösartige Schattenwesen und die Vorboten blutiger Katastrophen.

_Der Autor_

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren, musste in seiner Jugend hungern, schrieb Schundromane für einen Hungerlohn, lernte seine Frau Gerda kennen und konnte schließlich mit ihr nach Kalifornien ziehen, wo das Ehepaar seither stets mit einem Golden Retriever zusammenlebt. Es gibt kein einziges Koontz-Buch der letzten Jahre – etwa seit „Geschöpfe der Nacht“, in dem nicht mindestens ein Loblied auf diese Hunderasse angestimmt wird.

Die zahlreichen Thriller und Horror-Romane des schärfsten Konkurrenten von Stephen King wurden sämtlich zu Bestsellern und in über 30 Sprachen übersetzt. Weltweit hat Koontz laut Verlag über 400 Millionen Exemplare verkauft. Leider wurden bislang nur wenige von Koontz‘ Büchern verfilmt, so etwa „Watchers“. Die beste Verfilmung ist meiner Meinung nach „Intensity“, aber der Film strapaziert die Nerven derart, dass er höchst selten gezeigt wird.

Der Odd-Zyklus bislang:

1) Odd Thomas (2004, deutsch 2006 als „Die Anbetung“)
2) Forever Odd (2005, deutsch 2007 als „Seelenlos“)
3) Brother Odd (2006, deutsch 2008 als „Schattennacht“)
4) Odd Hours (Mai 2008)
4) In Odd We Trust (Graphic Novel, Juli 2008)

Dean Koontz auf |Buchwurm.info|:

[„Die Anbetung“ 3066
[„Seelenlos“ 4825
[„Todeszeit“ 5423
[„Todesregen“ 3840
[„Irrsinn“ 4317
[„Frankenstein: Das Gesicht“ 3303
[„Kalt“ 1443
[„Der Wächter“ 1145
[„Der Geblendete“ 1629
[„Nacht der Zaubertiere“ 4145
[„Stimmen der Angst“ 1639
[„Phantom – »Unheil über der Stadt«“ 455
[„Nackte Angst / Phantom“ 728
[„Schattenfeuer“ 67
[„Eiszeit“ 1674
[„Geisterbahn“ 2125
[„Die zweite Haut“ 2648

_Handlung_

Odd Thomas hat in Pico Mundo gelebt, einer 40.000-Seelen-Stadt irgendwo in Südkalifornien unweit einer Luftwaffenbasis, und arbeitete in einer besseren Frittenbude als Garkoch. Eines Tages musste er sehr zu seinem Leidwesen feststellen, dass er die Fähigkeit besitzt, die Toten zu sehen. Jedenfalls diejenigen, die sich noch an irdische Dinge klammern, so etwa Elvis Presley, der ständig flennt. Aber er sieht auch hyänenartige Schattenwesen, die er nach einem englischen Ausdruck „Bodachs“ nennt. Sie erscheinen dort, wo der Tod bald seine Arbeit verrichten wird, denn sie nähren sich von Todesangst und Verzweiflung.

Doch als im letzten August ein Irrer ein Massaker in einem Einkaufszentrum anrichten wollte, da war es Odd, dem es gelang, die meisten der Eingesperrten vor der Lastwagenbombe in Sicherheit zu bringen. Bei 41 gelang ihm dies nicht, und 19 von ihnen starben, darunter auch seine geliebte Freundin Stormy. In seinem letzten Abenteuer wurde sein bester Freund von einer Sekte entführt. Nachdem Odd es gelungen ist, ihn zu befreien, fühlt er sich ausgelaugt. Also ist er in die Sierra Nevada gezogen, um im Kloster der Mönche von St. Bartholomew seinen Frieden zu finden.

|Sieben Monate später|

Ein Schneesturm ist im Anzug, und als Odd nicht schlafen kann, geht er Patrouille. Sowohl für die Abtei der Mönche, in deren Gästehaus er logiert, als auch für das Nonnenkloster und das angeschlossene Internat hat er einen Generalschlüssel. Sein sechster Sinn führt ihn in das Wohnheim für behinderte Kinder, und er folgt einem Bodach, der schnurstracks in Zimmer 32 eindringt.

Dort stehen bereits zwei weitere Bodachs um das Bett von Justine herum, dem zehnjährigen Mädchen, das geistig behindert ist, seit sein Daddy versucht hat, es zu ertränken. Justine sieht Odd genau und da sie selbst nicht sprechen kann, benutzt ihr Geist die Zunge ihrer Bettnachbarin Annamarie. Odd ist erschüttert: Es ist die Stimme Stormys, seine toten Freundin. Doch er reagiert nicht, denn er weiß, dass er sie erst in der nächsten Welt wiedersehen wird.

Das Erscheinen der Bodachs verheißt eine Bluttat in der nahen Zukunft, und er warnt sowohl die Mutter Oberin als auch den Abt, die beide in sein Geheimnis eingeweiht sind. Außerdem spricht er mit Bruder John, einem ehemaligen Physiker und vierfachen Milliardär, der immer noch in einem Hochsicherheitslabor experimentiert, und mit dem verdächtigen Russen Rodion Romanovich. Doch nichts bereitet ihn auf den bewusstlos daliegenden Mönch Timothy vor, der die computerisierte Betriebsanlage zu überwachen hat. Als er sich über den schweren Mann beugt, um ihn umzudrehen, erhält er einen schweren Schlag auf die Schulter, der seinem Kopf gegolten hat. Er rollt sich gewandt ab und bringt sich in Sicherheit. Als er zurückkehrt, ist der Mönch ebenso weg wie der Angreifer.

Ob er sich den Männern des Sheriffs anvertrauen soll? Er fragt Bruder Knoche, einen ehemaligen Handlanger der Mafia, der zum Glauben bekehrt worden ist. Knoche warnt ihn eindringlich, dass die Cops keine Ahnung haben, was mit den Mönchen hier los ist. Die meinen sogar, Bruder Timothy sei nach Reno ins Spielkasino gefahren – was für ein Blödsinn. Der Schneesturm zwingt die Bullen dazu, wieder abzuziehen, um sich um verunglückte Autofahrer zu kümmern.

|Die Kreatur|

Die Abtei versinkt zunehmend in Schneemassen, wie sie der Wüstenbewohner Odd noch nie in seinem Leben gesehen hat. Wieder verlässt sich Odd auf seinen sechsten Sinn. Der führt ihn erneut zum Nonnenkloster. Im Schneegestöber kann er kaum vier Meter weit sehen. Aus dem Augenwinkel bemerkt er eine Bewegung und beeilt sich, den Eingang des Klosters zu erreichen. Es ist kein Bodach, denn das Wesen ist weiß wie Eis. Und es verfolgt ihn.

Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, beobachtet er, wie das weiße, halb durchsichtige Wesen gegen die Türscheibe klatscht und dann gegen die Scheibe des benachbarten Fensters drückt. Die Scheibe knackt und bekommt einen Sprung. Odd wird mit Schrecken erfüllt. Das Wesen hat kein Gesicht, erinnert an zusammengesetzte Knöchelchen, die sehr beweglich sind.

Er starrt ihm hinterher, als es bereits verschwunden ist. Da legt sich eine Hand auf seine Schulter, und eine Stimme sagt: „Kind …“

_Mein Eindruck_

Dean Koontz hat einfach zu viele Frankenstein-Romane geschrieben, will mir scheinen. Er schreibt ja die Romane, die eigentlich für eine TV-Serie gedacht waren (es gibt nur den Pilotfilm), alleine und mit Ko-Autoren fort. Wieder einmal haben wir es mit einem solchen Burschen zu tun. Aber ich werde nicht verraten, um welchen der Mönche es sich handelt (wenn ich das nicht schon getan habe). Wieder einmal zeigen sich Koontz‘ Wurzeln in der Sciencefiction und dem Horror vor Technik, die dem Menschen nicht nützt, sondern schadet. Von unerfreulichen Nebenwirkungen wie etwa mörderischen Skelettwesen mal ganz abgesehen.

Von geruhsamer Meditation in reiner Bergluft kann jedenfalls für Bruder Odd keine Rede mehr sein. Er muss sich vielmehr wie weiland Sherlock Holmes, den er des Öfteren ironisch zitiert, um die Aufklärung eines mysteriösen Falls von Verschwinden kümmern: Wo ist Bruder Timothy abgeblieben? Da der Schneesturm die Abtei und das Kloster ähnlich isoliert hat wie in Stephen Kings „Shining“ das Overlook-Hotel, ist a) die Zahl der Verdächtigen begrenzt, und b) kann er in aller Ruhe die Katakomben der Heizungs- und Maschinenräume erforschen. Ein treuer Geisterhund leistet ihm ebenso Gesellschaft wie der gute alte Elvis, der auch nicht in die nächste Welt weiterziehen will.

|Psychologie|

Das Auftreten unheimlicher Wesen wie der Skelettmaschinen und der Bodachs hat durchaus einen psychologischen Grund. Diesen versucht Oddie durch eingehende Befragungen der behinderten Kinder im Internat herauszufinden. Unglaublich, welchen familiären Katastrophen er dabei auf die Spur kommt. Justine und Annamarie habe ich bereits erwähnt, aber die Stimme Stormys weist Oddie auf einen jungen Mann namens Jacob hin. Jacob kann phantastisch zeichnen, hat sich aber von der Welt abgekapselt, als wäre er ein Autist. Zudem ist sein Gesicht deformiert.

Durch geduldiges, mehrmaliges Befragen gelingt es Odd, einen schrecklichen Moment in Jacobs Vergangenheit ausfindig zu machen, der dessen Psyche traumatisierte. Als er krank im Krankenhaus lag, wollte sein Vater, der deformierte und behinderte Menschen ablehnte, ihn sterben lassen. Jacob nennt seinen Vater den „Nimmerwar“, denn „nimmer war“ er für seine Familie da, und schon gar nicht für seinen Sohn. Jacobs zweites Trauma rührt von der Aschenbestattung seiner Mutter her, die auf See stattfand, als er etwa 15 Jahre alt war. Wieder war Nimmerwar abwesend.

|Finale|

Die Zusammenführung des Frankensteinthemas und des Geheimnisses, das Jacobs Vater umgibt, bildet den psychologischen Kulminationspunkt der Handlung. Dieses Finale wird begleitet vom Angriff der Skelettwesen auf Jacob und diejenigen Klosterbrüder, die ihn verteidigen. Dabei erweist es sich als nützlich, dass Rodion Romanovich alles andere als ein russischer Bibliothekar aus Indianapolis ist. Das war nur seine Tarnung …

|Die Hauptfigur|

„Odd“ bedeutet im Englischen „ungleich, schräg, sonderbar“. Doch das ist das Letzte, das Odd Thomas sein will. Denn es bedeutet, einsam zu sein und jede Hoffnung zu verlieren. Er ist auf seine Freunde angewiesen, und seine Freundin Stormy liebte er innig, auch wenn sie ihn ständig triezte. Aber wie sich herausstellt, ist Odd um einiges normaler und menschlicher als so mancher seiner Zeitgenossen. Sein Sinn für Humor ist ziemlich sarkastisch, und die Art, wie er über die Auswüchse des modernen amerikanischen Lebens, wie etwa Fernsehshows und gefährliche „Politiker mit einer Idee“, herzieht, ist erstens lesenswert und sorgt zweitens für eine Reihe von Lachern.

Andererseits ist dieser Humor nur der Ausgleich für das bei Koontz‘ Odd-Thomas-Romanen immer wieder zu findende Predigen: über die Schlechtigkeit der Menschen, ihren Dünkel, ihre Barbarei ganz allgemein. Sicher, die Predigten, die sich in „Intensity“ fanden, sind sehr kurz gehalten, aber wenn man sie summiert, bilden sie eine harsche Kritik am modernen Leben. Leider bietet auch das Klosterleben keine Alternative. Denn auch hier verbergen sich wie überall Gier, Dünkel und Überheblichkeit – wieder sind wir beim Frankensteinthema, sogar bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das Einzige, was Odd Thomas wirklich befürwortet, sind Demut und Liebe, für seine Mitmenschen und besonders für jene, die sich im Namen Gottes für die Armen, Schwachen und Behinderten einsetzen.

|Die Gabe|

Odd selbst kann sich nicht entscheiden, ob die Gabe, Totengeister und Bodachs – sie erinnern an die „Besucher“ in „The Gathering“ – sehen zu können, ein Segen oder ein Fluch ist. Doch mit dem Helden in der Christopher-Snow-Trilogie hat Odd gemein, dass er zwar außerhalb der Gesellschaft der Normalos steht, ihr aber zu Hilfe und Beistand verpflichtet ist. Denn nur dort findet er jene menschliche Wärme, die ihm Vater und Mutter verweigerten. Dass ihn dies zu einer Art Samariter oder klassischem Marvel-Comics-Supermenschen macht, ist klar, ihm aber nicht bewusst. Und wenn man Odds Weg ein paar Stunden lang gefolgt ist, dann will man garantiert nicht mehr mit ihm tauschen.

|Die Übersetzung|

Bernhard Kleinschmidt hat sehr gut übersetzt, und zwar häufig genauso, wie man sich in Deutschland ausdrücken würde, also beispielsweise mit „Denkste!“ und dergleichen. Aber unter einem „Karpaltunnelsyndrom“ konnte ich mir beim besten Willen nichts vorstellen. Ich tippe mal auf eine Eins-zu-eins-Übersetzung, denn „carpal tunnel syndrome“ gibt es. Es ist wohl hierzulande besser unter der Bezeichnung „Handwurzelentzündung“ bekannt, das bei Vielschreibern auftritt.

_Unterm Strich_

Ich habe den Roman in nur zwei Tagen gelesen. Es ist ja bekannt, dass Koontz ungemein lesbar und verständlich schreibt, dabei aber auch die Spannung nicht vergisst. Jede Menge Rätsel wollen gelöst sein. Odd Thomas zeichnet sich zudem durch seine Gabe als „Sprecher für die Toten“ und seinen scharfen Witz aus, der auch vor Politikern nicht Halt macht. (Keine Angst: Es werden nie Namen genannt.)

Der vorliegende dritte Band der Reihe könnte Besorgnis wecken, dass es aufgrund des religiösen Schauplatzes besonders um Gottes- und Glaubensfragen geht. Das mag schon zutreffen, besonders im Finale. Doch die Gottesmänner und -frauen sind alles andere als Heilige. Bei einigen ist es sogar lediglich Tarnung. Doch diejenigen, die echt sind, behandelt Koontz mit Respekt, denn sie versuchen, nichts Böses mehr zu tun und zudem zum Wachsen des Guten beizutragen, etwa durch Kinderpflege und -unterricht.

Ein wenig übertrieben fand ich Koontz‘ gewohntes Predigen, das er Odd Thomas in den Mund legt. Und ebenso übertrieben fand ich die Vorstellung, dass alleine schon zwei besondere Kinderbücher ausreichen könnten, um einen Mafia-Handlanger vom „Pfad des Bösen“ abzubringen. Bei diesen Kinderbüchern handelt es sich um [„Die wundersame Reise von Edward Tulane“ 2621 und „Despereaux – Von einem, der auszog, das Fürchten zu verlernen“. Beide Bücher stammen stammen von Kate DiCamillo. Sie sind auch in Deutschland ziemlich erfolgreich. Aber wer weiß: Sobald ich sie gelesen haben, werde ich vielleicht auch bekehrt, böser Junge, der ich bin …

|Originaltitel: Brother Odd, 2006
Aus dem US-Englischen von Bernhard Kleinschmidt
400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN-13: 978-3-453-26584-4|

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