Koppel, Hans – Entführt

Skandinavische Spannungsliteratur sprießt schon fast wie Unkraut aus dem Boden – glücklicherweise finden sich in diesem Dschungel an Neuerscheinungen auch immer wieder einige sehr bemerkenswerte Blumen. Ob wohl Hans Koppels Debütwerk „Entführt“ auch dazu gehört?

_Nebulöse Nachbarschaft_

An einem ganz normalen Tag verabschiedet sich Ylva von ihren Kollegen, um schnell zurück nach Hause zu ihrem Mann Mike und ihrer Tochter Sanna zu kommen. Mit dem Bus möchte sie nach Hause fahren, doch dann hält plötzlich ein Auto neben ihr. Vermeintlich alte Bekannte sprechen Ylva an und überreden diese, sie nach Hause zu bringen. Ylva willigt ein und wird diese Entscheidung bitter bereuen, denn sie ist in das Auto ihrer Entführer gestiegen. Ein Ehepaar sperrt sie in einen schalldicht isolierten Keller ein, in direkter Nachbarschaft von Ylvas Familie. Über einen kleinen Monitor kann sie auf der Straße die Bewegungen ihres Mannes und ihrer Tochter verfolgen, sie beobachtet, wie diese das Haus verlassen, wieder zurückkehren, abends Licht machen und sich durchs Haus bewegen. Mike und Sanna sind so nah und doch kann Ylva sie nicht verständigen, nicht um Hilfe rufen und sich nicht wehren. Das Ehepaar will Ylva büßen lassen für ein Ereignis, das viele Jahre zurückliegt und das Ylva nur vergessen wollte. Über Monate hinweg wird sie gefangen gehalten, ausgebeutet und vergewaltigt.

Nur wenige Häuser weiter bangt Mike um das Leben seiner Frau. Am Abend von Ylvas Verschwinden macht er sich noch keine Sorgen, hatte seine Frau doch angekündigt, nach Feierabend eventuell mit ihren Kollegen noch etwas trinken zu gehen. Als sie am nächsten Morgen allerdings noch nicht zuhause ist, fürchtet Mike zunächst, sie habe wieder eine Affäre. Erst nach und nach dringt der Gedanke zu ihm durch, ihr könne etwas passiert sein. Er meldet Ylvas Verschwinden der Polizei, als betrogener Ehemann steht er aber schnell als Hauptverdächtiger da. So kämpft Mike nicht nur darum, sein Leben mit Sanna neu zu organisieren und um seine Frau zu trauern, sondern auch darum, sich der Polizei und der Öffentlichkeit gegenüber zu verteidigen. Mit der Zeit glaubt er nicht mehr daran, dass seine Frau je zurückkommen könnte.

Doch ein ehemaliger Mitschüler Ylvas – Calle – verfolgt in den Medien die Berichte um die ehemals berüchtigte Viererbande, zu der auch Ylva gehörte: Nach und nach kommen die drei jungen Männer, die einst zu der Viererbande zählten, ums Leben. Besteht ein Zusammenhang?

_So nah und doch so fern_

Hans Koppel steigt direkt ein, ohne viele Umwege. Schnell schildert er den Mord an einem Mann, der eigentlich eine Internetbekanntschaft treffen wollte. Kurz darauf folgt Ylvas Entführung – die Situation scheint aussichtslos. Die junge Frau ist in einem schalldichten Keller weggesperrt und den Launen eines Ehepaars ausgeliefert, ohne dass eine Chance zur Flucht besteht. Gleich zu Beginn eröffnet Koppel weitere Handlungsstränge, neben dem um Ylva und ihren Mann auch den sehr entscheidenden Handlungsstrang um Ylvas ehemaligen Mitschüler Calle, der aufzuhorchen beginnt, als er vom ersten Tod innerhalb der Viererbande liest. Durch den schnellen Wechsel zwischen den Handlungssträngen baut Hans Koppel schnell Spannung auf und auch dadurch, dass man als Leser natürlich wissen möchte, welches Motiv das Ehepaar verfolgt, wird man an den Thriller gefesselt. Etwas aufatmen kann man in den Passagen, die sich um Mike und Sanna drehen, denn die beiden versuchen, sich ohne Ylva zu arrangieren und sich ein neues Leben aufzubauen. Bald kommt eine neue Frau ins Spiel und das Leben nimmt seinen Lauf. Der Gegensatz zwischen der scheinbaren Familienidylle und der harten Realität im Keller könnte größer kaum sein. Während Mike beginnt, seine Trauer abzulegen, verzweifelt Ylva immer mehr, denn sie merkt, dass ihren Entführern, und damit auch ihr, die Zeit davon rennt.

Über weite Strecken ist „Entführt“ unglaublich spannend und durch die kurzen Kapitel, die nur spärlich bedruckten Seiten und die große Schrift fliegt man nur so durch das Buch beim Lesen. Doch ganz ehrlich: Der Mittelteil schleppt sich ziemlich dahin. Ylva ist entführt, Mike wird als Mörder verdächtigt, aber auch nur so gerüchteweise, denn es gibt keine offiziellen Ermittlungen gegen ihn (ohne Leiche gibt es ja auch keinen wirklichen Fall), an die Vergewaltigungen und das Psychospiel der Entführer hat man sich fast schon gewöhnt und dann passiert nichts weiter. Koppel schaltet zwischen Mike und Ylva hin und her, erzählt einmal von Mikes Alltag und auf der anderen Seite von Ylvas Leben im Keller, in dem es strikte Regeln zu befolgen gilt. Aber es passiert nichts Neues. Weder steigern die Entführer ihre Grausamkeiten, noch streut Koppel Informationen ein, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, das Motiv zu entschlüsseln.

Spannend wird es erst wieder, als Mike zufällig auf Ylvas Entführer trifft und Vertrauen zu ihm fasst. Hier zieht Koppel wieder das Tempo an. Wie er am Ende aber alles auflöst, wirkt wie in einem recht gewöhnlichen Actionfilm – das Motiv hinter der Tat schildert er uns im Nachklapp des Buches, entschieden hatte sich aber vorher schon alles. Das konnte mich nicht so sehr überzeugen.

Auch die Charaktere konnten mich nicht wirklich begeistern. Auf der einen Seite haben wir die gutaussehende Ylva, die ihren Mann nachgewiesenermaßen bereits einmal betrogen hat und die es wohl mit der Treue nicht so ernst zu nehmen scheint. Und auf der anderen steht Mike, der seine Frau liebt und zu ihr steht, der aber nach ihrem Verschwinden allzu schnell alle Hoffnung aufgibt, seine Frau je wiederzusehen. Mir ging das alles zu schnell. Nach den vielen gemeinsamen Jahren kann ich mir nicht vorstellen, dass man schon nach wenigen Wochen zum Alltag übergehen und die Hoffnung aufgeben kann. Würde ein Ehemann nicht insgeheim immer darauf hoffen, seine Frau könne noch am Leben sein und eines Tages zurückkehren? Mir persönlich war Mike etwas zu schwach, Ylva dagegen zu eiskalt. Wie sie sich mit der Situation im Keller arrangiert und wie sie ihrem Entführer zu Diensten ist, war irgendwie übertrieben und wenig glaubwürdig.

_Blume oder Unkraut?_

„Entführt“ ist beides nicht so recht: Was am Anfang wie eine strahlende Blume wirkte, die meine Aufmerksamkeit völlig gefangen nahm, wandelte sich streckenweise zu eher lästigem Unkraut. Insgesamt dürfte das Buch im Dschungel der Neuerscheinungen wohl untergehen, zu wenig hebt es sich vom Einheitsbrei ab. Die Charaktere wirken lieblos und wenig authentisch, die Spannung lässt im Mittelteil sehr zu wünschen übrig und auch die Idee hinter dem Ganzen ist alles andere als neu. Hans Koppels Debütwerk unterhält für einige wenige Stunden (auch wenn es rund 350 Seiten hat, so ist das Buch aufgrund des luftigen Layouts in drei bis vier Stunden durchgelesen), wird aber eher nicht im Gedächtnis bleiben. Schade, der Beginn war vielversprechend, da hätte mehr draus werden können.

|Klappenbroschur: 352 Seiten
Originaltitel: Kommer adrig mer igen
Telegram Bokförlag
Aus dem Schwedischen von Holger Wolandt
ISBN-13: 978-3-453-26760-2|
http://www.heyne.de

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