Korb, Markus K. – Grausame Städte (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 1)

_Der Fänger im Schlafmohnfeld._

Edgar Allen Poe ist eine wichtige Persönlichkeit der phantastischen Literatur, so weit nichts Neues. Seine teils delirierenden Streifzüge durch bizarre Alpdruckwelten sind noch heute Inspiration für Autoren. Um dem Rechnung zu tragen, hat der BLITZ-Verlag „Edgar Allen Poes Phantastische Bibliothek“ ins Leben gerufen, eine literarische Verbeugung vor dem opiumschmauchenden Wort-Virtuosen. Aber es irrt sich, wer glaubt, dass der BLITZ-Verlag eine Horde von Nachwuchstalenten verpflichtet hat, um in poeschen Werken zu wildern. Natürlich hat Herausgeber Markus K. Korb den deutschen Phantastik-Underground nicht außen vor gelassen, (er selbst hat ja diesen ersten Band zu der Reihe beigesteuert), aber gleichzeitig hat er einige Schätze von Autoren geborgen, die dem deutschsprachigen Leser bisher nicht zugänglich waren.

_Der Herausgeber hat das erste Wort!_

Markus K. Korb, 1971 in Weimar geboren, hat sich der düsteren Phantastik verschrieben und widmet diesen ersten Band der „Edgar Allen Poe“-Reihe seinen „Zwei-Städte-Zyklus“. Insgesamt acht Geschichten entführen den Leser in die dunklen Eingeweide von Venedig und von Berlin. Vier Storys pro Stadt, nicht zusammenhängend, aber durch Anspielungen und einen kalkulierten Aufbau miteinander verflochten. Hiermit seien sie vorgestellt:

_Venezia Vicioso._

Die ersten beiden Geschichten „Concetta“ und „Carnevale in Venecia“ sind keine „Geschichten“ im klassischen Sinn: Es gibt nur einen einzigen Protagonisten, den Ich-Erzähler, der seine jeweilige Situation darstellt. Es sind innere Monologe mit düsterem Ausgang („Concetta“), oder von allegorischer Qualität („Carnevale in Venecia“). Es ist schwierig, den Leser zu unterhalten, wenn es keine „Spannung“ im eigentlichen Sinn gibt, und Korb hat es hier nicht wirklich geschafft, den Gedankenwelten seiner Protagonisten so viel Atmosphäre zu verleihen, dass dieser Spannungsmangel kompensiert werden könnte. Wenigstens „Concetta“ lebt von seiner morbiden Stimmung, aber der philosophische Streifzug durch den „Carnevale in Venecia“ ist einfach zu schwach, um mitzureißen.

„Das Ikarus Prinzip“ versucht sich dann an einer „wirklichen“ Story, und das funktioniert auch gar nicht schlecht. Ganove Mario hat es sich zum Ziel gemacht, im Palazzo Dario einen Rubin zu stehlen, um sich endlich zur Ruhe setzen zu können. Während seiner Anfahrt mit einer Touristengruppe erfährt Mario von mysteriösen Geschehnissen im Palazzo. Natürlich glaubt er kein Wort davon, bis er in ein lebendiges Fresko stürzt, um dort mit Dionysos höchstpersönlich einen zu bechern. Die Story macht Spaß, und die Auflösung ist nett, allerdings merkt man auch, wo Korb seine Schwächen hat: in den Dialogen. Aber was soll’s, in dieser Disziplin waren seine beiden Vorbilder Lovecraft und Poe ja auch keine Weltmeister.

Während sich die ersten beiden Storys an Poe’schen Prosa-Streifzügen orientieren, greift „Die Insel der Gräber“ auf Lovecraft-Thematik zurück: Die Leichen von Venedig werden auf die Insel der Gräber geschafft, wo sie der Totengräber bestattet. Diese Insel hat einen morbiden Ruf und eine noch morbidere Ausstrahlung, der Pfarrer bittet den Ministranten Paolo darum, dass er nicht an der Zeremonie teilnimmt, sondern sich mit dem missgebildeten Totengräbersohn abgibt. Wiederum keine schlechte Stimmung, die Korb hier entfesselt, aber ähnlich wie bei den ersten beiden Storys, hat man ständig das Gefühl, dass er unbedingt etwas Ähnliches schaffen möchte wie seine Vorbilder – und das kann eben keiner.

_Bizarres Berlin._

In „Insomnia“ darf der Leser einen jungen Dandy begleiten, der sich in das Nachtleben des betuchten Berlin stürzt, um seine Vergnügungssucht zu stillen. Recht bald erfährt man dann auch, wie besagter Nachtwandler das zu erreichen gedenkt …
Also, das alte Berlin (20er, 30er Jahre) hat Korb hier wirklich spürbar werden lassen (zumindest so, wie er es sich vorstellt); beschreiben kann er! Nur der Story fehlt der rechte Drive, Spannung ist kaum vorhanden, und sehr schnell errät man das bizarre Hobby, mit dem sich der Protagonist die Zeit vertreibt. Schade!

„Der Schlafgänger“ beleuchtet stattdessen die Armenviertel im Berlin von 1842, und erneut hat Korb die Stimmung beklemmend und spürbar eingefangen. Die Familie des Ich-Erzählers lebt am Existenzminimum und muss sich daher „Schlafgänger“ in die Wohnung holen, um sie finanzieren zu können, eine Art Untermieter, die sich in der Stube der Familie zum Schlafen legen. Eines Nachts nimmt eine vermummte Gestalt dieses Angebot in Anspruch und verbreitet alleine durch ihre Anwesenheit eisiges Unbehagen. Der Bruder des Erzählers erkrankt plötzlich, und schnell ist ein Verdächtiger gefunden …

Diese Story wurde bereits im „phantastisch!“-Magazin veröffentlicht, zu Recht, denn in dieser Sammlung ist sie die stärkste. Ähnlich wie der Erzähler fragt man sich ständig, ob der Schlafgänger nun tatsächlich das Böse in die Familie bringt. Beklommen zittert man um das Schicksal des Bruders und teilt den Verdacht des Erzählers. Erinnert ein wenig an „Die Nacht des Roten Todes“ von Poe.

„Wir sehen alle besser aus in Schwarz und Weiß“ dagegen ist wieder schwächer: Ähnlich wie „Concetta“ ein Ich-Bericht über ein Leben, das in Wahnsinn mündet, aber der Grund dafür, warum wir denn nun alle besser aussehen in Schwarz und Weiß, klingt arg konstruiert und will sich aus dem Mund des Protagonisten einfach nicht nachvollziehbar anhören.

„Tief unten“ ist die Geschichte von „Woffo“, einem menschenscheuen Caver, der seine Zeit am liebsten damit verbringt, durch die Katakomben Berlins zu kraxeln, um dort Geheimes zu entdecken. Eines Abends bekommt Woffo eine Karte in die Hand gedrückt, die ihn zu verstecktem Nazi-Gold führen soll. Anstelle von gelbem Edelmetall erschließt sich ihm eine Verbindung zwischen nordischer Mythologie und der Nazi-Ideologie, die von einschneidender Bedeutung ist …

Qualitativ würde ich die „Tief unten“ in die Liga von „Der Flug des Ikarus“ packen: eine interessante und mitreißende Geschichte, die in ein überraschendes Ende mündet. Hier höre ich den Autor selbst: kein Nacheifern, keine Anklänge, Anspielungen und Zitate, und das steht Korb einfach am besten.

_Aufwärmübung für eine interessante Reihe._

Ehrlich gesagt halte ich „Grausame Städte“ für einen recht ungeschickt gewählten Auftakt der „phantastischen Bibliothek“. Korb macht seine Sache nicht schlecht, und Unterhaltungswert bietet seine Storysammlung allemal, aber an der schieren qualitativen Übermacht des zweiten Bandes zerschellt er einfach: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023 von Thomas Ligotti türmt sich wie ein Wolkenkratzer über Korbs „Grausame Städte“. So weit wird ein mancher Leser aber vielleicht gar nicht kommen, wenn seine Erwartungen von Band 1 geprägt worden sind: Korb liefert solide Qualität, die man haben kann, aber nicht haben muss, für Freunde wortgewandter Phantastik interessant, aber keinesfalls unverzichtbar.

_Nachwort: zum Nachwort._

Die Idee, zu jedem Autor der Reihe ein informatives Nachwort zu verfassen, ist stimmig und sinnvoll, aber was Eddie Angerhuber da über Korb und seine „Grausamen Städte“ vom Stapel lässt, ist teilweise zu putzig. Mit tiefschürfender Metaphorik ergründet sie die Genialität des deutschen Nachwuchsautors und garniert ihre Lobeshymnen mit germanistischem Imponierjargon. Bitte nicht falsch verstehen, Markus K. Korb verfügt über eine gute Sprache und seine Storys heben sich durchaus ab vom Standard, aber „Carnevale in Venecia“ als „atmosphärisch-desillusionierte Kontemplation“ zu bezeichnen, ist so, als würde man einen BigMac als „Garniertes Angus-Flambét zwischen temperiertem Sesam-Weizen-Baguette“ umschreiben. Lieber Himmel …