Kouno, Fumiyo – Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms

Die Manganovelle „Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms“ (jap.: „Yûnagi no Machi, Sakura no Kuni“) von Fumiyo Kouno beschäftigt sich mit den Spätfolgen des Abwurfs der Atombombe ‚Little Boy‘ auf die japanische Stadt Hiroshima, genauer gesagt mit ihren Auswirkung auf das Leben einer von dort stammenden Familie in den Jahren 1955, 1987 und 2004. Fumiyo Kouno nähert sich diesem schwierigen Thema auf zartbittere Weise. Anstatt sich im dokumentarischen Stil auf dessen Beschwerlichkeiten zu konzentrieren, erzählt ihr Comic in leichtfüßiger Weise vom Alltagsleben und lädt so die Leser ein, sich in seine Figuren einzufühlen. Er bietet allerdings keine sensationelle Geschichte des ‚Durchmachens‘, sondern vielmehr eine des Lebens mit dem Unabänderlichen. Was diese Erzählung, abgesehen von ihrer Geschichte als solcher, so gut macht, ist, dass sie nicht predigt: Da gibt es keine symbolischen Rollen und auch keine psychologischen Erklärungen, der Leser bleibt also gefordert, selbst zu denken. Fumiyo Kuono maßt sich nicht an, für alle ‚Hibakusha‘ zu sprechen, sondern verlässt sich ganz auf die Kraft ihrer Erzählung und die Glaubwürdigkeit ihrer Charaktere. Und gerade das macht die Tragweite der Folgen der Katastrophe einer davon selbst nicht betroffenen Leserschaft verständlich.

Wie alle Mangas wird auch „Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms“ von rechts nach links gelesen. Dies ist das erste Buch, das ich so gelesen habe, und doch hatte ich mich bereits nach wenigen Seiten daran gewöhnt. Die relativ offen angelegte, aber dennoch intuitiv eindeutige Panelstruktur, eigentlich gar keine allzu besondere, trägt zum einfachen Lesefluss ebenso bei wie die schönen, klaren und eindeutigen Zeichnungen: leicht wirkende, scharfe Linien mit klaren Kontrasten, dazu einige Panel mit Details voller Schönheit. Mit wenigen dynamischen Strichen fordern die Charakterzeichnungen die eigene Fantasie heraus, wohingegen üppige, aber niemals überladene Hintergründe Stimmungen erschaffen. So wird die Lektüre unterhaltsam und fesselnd.

Einige Themen ziehen sich, mit den einzelnen Handlungsverläufen clever verwoben, im Hintergrund durch das gesamte Buch. Beiläufig stellen sie Sinnzusammenhänge her: die Baseballversessenheit des Nachkriegsjapan, seine Entschlossenheit zum Frieden als Folge des Krieges, Familienerinnerungen, Überraschungsbesuche und natürlich die Langzeitfolgen des Bombenabwurfes über Hiroshima auf die Hauptfiguren. Davon abgesehen haben wir verschiedene Erzählstränge, die lose miteinander verbunden sind, sich aber erst zum Ende hin als überzeugendes Gesamtbild zusammenfügen. Die grafische Novelle besteht aus drei Teilen, deren erster scheinbar für sich allein oder allenfalls als Vorgeschichte da steht, bis er vom Ende des dritten Teils (welcher einen Handlungsverlauf des zweiten weiterführt) thematisch umschlossen wird.

Das erste Buch, „Town of Evening Calm“, berichtet uns von Minami Hirano, einer jungen Schneiderin, die mit ihrer Mutter Fujimi im Jahre 1955 in einem Bretterbudenslum des Nachkriegshiroshima wohnt. Schilder an allen Straßenecken protestieren gegen Räumungsversuche und fordern zum Widerstand auf. Dem zarten Beginn einer Romanze zwischen Minami und einem Arbeitskollegen namens Uchikoshi stehen ihre Schuldgefühle entgegen, die Explosion, die so viele Leben gekostet hat, überlebt zu haben. Auch wie sie damals damit umgegangen ist, belastet sie. Regelmäßig erinnert sie sich an ihre Geschwister, die durch die Katastrophe umkamen oder danach zu Verwandten fortgingen. Und dennoch verliert sie nicht die Hoffnung, als sie schließlich von der Strahlenkrankheit heimgesucht erblindet … Diese Geschichte wird im Prinzip unmittelbar aus der Perspektive von Minami erzählt, die auf der letzten Seite – nach der durch das Abflauen der Küstenwinde einsetzenden Abendruhe – den Wind von der Stadt her zurückblasen spürt; das symbolische Echo der Bombendruckwelle, die ihre Familie so schwer getroffen hat, nimmt ihren bevorstehenden Tod vorweg.

„Country of Cherry Blossoms, Part 1“ ist im Tokyo des Jahres 1987 angesiedelt. Die bildliche Erzählung behandelt das Geschehen geringfügig distanzierter, allerdings erneut aus der Perspektive ihrer Hauptfigur – welche dieses Mal auf die eigene Kindheit zurückblickt: Nanami Ishikawa, Spitzname Goemon, ist eine junge Schülerin und ein kleiner Wildfang. Sie scheint sich ein wenig zu sorgen, dass sie nicht richtig dazugehört, jedenfalls scheint sie nicht viele Schulfreunde zu haben – abgesehen von ihrer engen Freundin Toko, einem Mädchen aus der Parallelklasse. Beim Baseballtraining bekommt Nanami einen Ball auf die Nase und muss sich unter einem Baum eine Auszeit nehmen (wobei sie ein bisschen wie Charlie Brown aussieht). Wo sie aus dem Spiel ohnehin raus ist, nutzt sie die Gelegenheit, um abzuhauen und ihrem etwas älteren Bruder Nagio im Krankenhaus einen Besuch abzustatten – und stößt dabei unterwegs auf ihre Freundin Toko. Bei der beklagt sie sich noch, dass sie von einer Fremden als Junge wahrgenommen wurde. Im Krankenhaus springt sie bei ihrem Bruder aufs Bett und bestreut ihn und seinen Bettnachbarn mit Kirschblüten vom Schulgelände, wofür sie von ihrer Großmutter (Fujimi Hirano aus dem ersten Teil) gescholten wird, die auch gerade auf Besuch kommt. Am Ende der Geschichte hat sich Nanami mit ihrer Außenseiterrolle abgefunden, aber auch einen Teil ihrer kindlichen Unschuld eingebüßt.

Im dritten Teil des Mangas wird diese Erzählung wieder aufgegriffen, auch wird sie weiterhin aus Nanamis Perspektive erzählt. Allerdings fließt erstmals auch das Erleben ihres Vaters Asahi mit ein, in dessen Geschichte und Wahrnehmung man als Leser kurze Einblicke erhält. „Country of Cherry Blossoms, Part 2“ spielt siebzehn Jahre später und überwiegend wieder in Hiroshima. Dorthin verfolgt Nanami heimlich ihren Vater Asahi, der sich in letzter Zeit angewöhnt hat, ‚lange Spaziergänge‘ zu machen und für eine außergewöhnlich hohe Telefonrechnung sorgte. Seine Kinder fragen sich, ob er vielleicht langsam senil wird. Aber Asahi besucht nur seine alte Heimatstadt, von der er sich entfremdet hatte, als er damals Hiroshima verließ, um mit Tante und Onkel Ishikawa zu leben, die ihn an Kindes statt aufnahmen. Zurück in Hiroshima, besucht er das Familiengrab, desweiteren alte Bekannte. Aber das muss Nanami noch herausfinden. Selber schon in ihren späten Zwanzigern, beginnt für sie eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie. Dabei nimmt sie Toko mit, die sie nach Jahren getrennt verbrachter Zeit, in der sie nichts voneinander gehört hatten, wiedertrifft. Auf ihrer gemeinsamen Reise von Tokyo nach Hiroshima erfährt Nanami, dass Toko und Nanamis Bruder Nagio sich ziemlich gut kennen, und bekommt auch die Schwierigkeiten mit, die ihrer Liebe im Weg stehen – weil Nagio nämlich nicht nur asthmakrank, sondern auch der Sohn eines Hibakusha ist, was ihn in den Augen von Tokos abergläubischen Eltern mit dem Stigma eines bösen Schicksals belegt. Es besteht Angst vor ‚Ansteckung‘. Toko und Nanami müssen sich nun also beide der Vergangenheit stellen. Toko tut einen ersten Schritt, indem sie das [Hiroshima Peace Memorial Museum]http://www.pcf.city.hiroshima.jp besucht, und Nanami, indem sie weiterhin ihrem Vater folgt und ihm schließlich vorsichtige Fragen nach Hiroshima stellt. Am Ende ist die Stille gebrochen, und die Kirschen blühen wieder. Aber wie Minami gesagt hat: Egal, wie oft die Abendstille vergeht, diese Geschichte wird nie zu Ende sein …

Die englischsprachige Übersetzung von Naoko Amemiya & Andy Nakatani kommt im DIN-A5-Format (148 × 210 mm) als Softcoverausgabe mit Einbandklappen vorne und hinten, die sich als Lesezeichen verwenden lassen. Der Druck ist schwarzweiß, abgesehen von den sanften Farben auf dem Einband und den ersten vier Seiten. Die Zeichnungen sind allerdings so nuanciert, klar und lebendig, dass ich Farben beim Lesen überhaupt nicht vermisst habe. Ein schöner Bonus sind die fünf Seiten im Anhang, auf denen einige Quellen und Literaturhinweise gegeben werden, zudem eine einfache Karte von der Bucht von Hiroshima und dem sich daran anschließenden Stadtzentrum mit darin eingetragenen Markierungen der im Buch vorkommenden Orte des Geschehens plus einigen Anmerkungen zu einzelnen Seiten der Geschichte sowie einem zweiseitigen Nachwort der Autorin. Während Rückblenden ist der Sprechblasentext grau gedruckt, sodass sich verschiedene Zeitebenen in der Regel klar trennen lassen. Dennoch ist „Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms“ kein Buch zum Schnelllesen, da die Erzählung sehr dicht ist.

_Fazit:_ Fumiyo Kounos „Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms“ ist ein wirklich schöner Manga, der sehr präzise Momente zeichnet, Stimmungen und Erinnerungen vermittelt, dies mit einer verwickelten, über beinahe sechzig Jahre hinweg erzählten Geschichte verbindet, und der darüberhinaus das Andenken der Atombombenopfer Hiroshimas ehrt, ohne jemals ins Predigen zu verfallen. Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit klassischen Bildungsromanen ist es in erster Linie eine Geschichte des Überdauerns und der Hoffnung. Die englische Übersetzung im Softcovereinband ist eine hochwertige Luxusausgabe.

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