Kuhn, Krystyna – Engelshaar

Hannah Roosen hat es nicht einfach. Ihren alten Job beim bei Psychologischen Notdienst der Polizei musste sie aufgeben, nachdem sie den Selbstmord eines jungen Mädchens nicht verhindern konnte. Die Schuldgefühle quälen sie und sie hofft, dass es ihr mit ihrem neuen Job bei der gerade gegründeten Arbeitsgruppe des Frankfurter Vermisstendezernats V11 endlich wieder besser geht.

Doch wie das Schicksal es will, muss sie sich bei ihrem ersten Fall erneut mit einem jungen Mädchen beschäftigen, genauer gesagt mit zweien. Jelena Epp ist allerdings tot, ihre beste Freundin Marina Klaasen verschwunden. Die beiden stammen aus Kirgisien und sind gemeinsam mit einer strenggläubigen Glaubensgemeinschaft, der Bruderschaft Ebenezer, nach Deutschland gekommen. Während Marina sich deren konservativen Regeln beugt, findet Jelena Anschluss bei einer russischen Gang von Jugendlichen und beginnt ein Verhältnis mit Kolja, dem Kopf der Bande.

Die Arbeitsgruppe vom V11, die neben der Polizeipsychologin noch eine Computerexpertin, einen psychiatrischen Gutachter und die Kommissare Fischer und Liebler als Mitglieder zählt, steht vor einem Rätsel. Als Vorzeigeprojekt des Innenministers, das dessen Ruf vor der Landtagswahl aufpolieren soll, stehen sie schon kurz nach ihrer Gründung vor dem Nichts. Wo ist das Motiv zu suchen? In der religiösen Gemeinde, die Jelena wegen ihres Lebenswandels ausgestoßen hatte? In der Gang der russischen Jugendlichen, weil Kolja aufgrund von Jelenas Aussage in Haft sitzt?

Ein schwieriger Fall, den Hannah Roosen und ihre Kollegen da zu knacken haben. Krystyna Kuhn macht es ihnen nicht leicht, indem sie einen geschickt verschachtelten, aber zumeist übersichtlichen Krimi schreibt. Die Handlung ist originell, spannend und geschickt aufgebaut. Es wäre ein Einfaches gewesen, den Täter in einer der beiden verdächtigten Gruppen – die religiösen Gemeinde und die Jugendgang – anzusiedeln, doch Kuhn lässt sich nicht auf diese Ebene herab. Sie behandelt sowohl die Gläubigen als auch die jungen Russen mit Respekt und verzichtet auf gängige Vorurteile. Das führt dazu, dass die Suche nach dem Täter zwar komplex, aber sehr realistisch verläuft und durch ihre Tiefe besticht.

Der eigentliche Täter entpuppt sich als Randfigur, der nur wenig Bedeutung beigemessen wird. Dennoch ist das Motiv nachvollziehbar und überrascht, da es nicht in übliche Krimi-Muster passt. Es geht viel tiefer und Kuhn schafft es, die Beweggründe des Täters sehr plausibel und einfühlsam darzustellen. Sie lässt dem Menschlichen hinter dem Mord sehr viel Raum, so dass es als Leser schwerfällt, den Täter zu verurteilen.

Was den Roman, neben der Handlung, so lesenswert macht, ist die Hauptperson und Ich-Erzählerin Hannah Roosen. Hannah ist keine Heldin, sie ist eine ganz normale Frau und Mutter eines pubertierenden Fünfzehnjährigen. Während in anderen Büchern von Krystyna Kuhn entweder eine lebenslustige Singlefrau („Fische können schweigen“) oder eine eiskalte Karrierefrau („Wintermörder“) im Mittelpunkt standen, präsentiert die Autorin in „Engelshaar“ eine sehr alltägliche Frauenfigur.

Hannah ist ständig überarbeitet, hat zu wenig Zeit für ihren Sohn, in ihrer Ehe kriselt es und ihr neuer Job setzt ihr zu. Sie hat das Gefühl, nicht richtig ernst genommen zu werden, und arbeitet deshalb umso härter. Sie geht geradezu in dem Fall auf, und das kommt wiederum dem Leser zugute. Er ist hautnah am Geschehen und sieht alles durch Hannahs psychologisch geschultes Auge.

Da die Polizeipsychologin auf eine sehr menschliche Art in der Ich-Perspektive erzählt, konzentriert sich das Buch weniger auf die trockenen Ermittlungen als vielmehr auf die zwischenmenschlichen Töne des Geschehens. Gut sortiert und anschaulich dargestellt, überzeugen sie vor allem dank Hannahs sympatischem Erzählstil.

Anders als bei anderen Büchern der Autorin fehlt in „Engelshaar“ der teilweise sehr bissige Humor von Kuhn. Der Schreibstil ist Hannah angepasst, die zwar durchaus auch mal witzig sein kann, vordergründig aber eine vom Leben eingespannte Frau ist. Kuhn drückt sich gewählt aus, ohne überkandidelt zu klingen. Sie schafft mit ihrer treffsicheren Art für Sätze und Wörter ein dichtes Erzählnetz, das sehr mitreißend ist

Mit „Engelshaar“, dem dritten von mittlerweile vier Kriminalromanen, untermauert Krystyna Kuhn ihre Stellung als eine von Deutschlands aufstrebenden Krimiautorinnen. Sie schafft es, ihre anderen Bücher weder in Bezug auf die Handlung noch in Bezug auf Hauptperson zu kopieren. Hannah Roosen glänzt nicht durch Originalität, sondern durch Bodenständigkeit und unglaubliche Authentizität. Dadurch, dass sie in ihren Büchern ihren Schreibstil der jeweiligen Protagonistin anpasst, ist jeder Roman der Autorin ein ganz neues Erlebnis!

http://www.piper-verlag.de

_Krystyna Kuhn auf |Buchwurm.info|:_

[„Fische können schweigen“ 2882
[„Wintermörder“ 4037

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