Oliver Kuhn / Alexandra Reinwarth / Axel Fröhlich – Arschgeweih – Das wahre Lexikon der Gegenwart

Dunkelziffer: Lexikon mit Scheuklappen

Ist es nicht merkwürdig, dass Caffé-Latte-Gläser keine Henkel haben, obwohl sie sauheiß sind? „Das wahre Lexikon der Gegenwart“ nimmt solche und viele andere Seltsamkeiten unserer Zeit zum Anlass, sich darüber zu wundern und zu mokieren, mal amüsant und lustig, manchmal aber auch ernst und zornig.

Die Autoren

Oliver Kuhn, geboren 1972, ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München. Seit 2002 ist er Chefreporter beim |PLAYBOY|-Magazin. Er hat mehrere Bücher geschrieben.

Alexandra Reinwarth, geboren 1973, lebt seit 2002 in Barcelona, wo sie als Produzentin tätig ist.

Axel Fröhlich, 1968 in Nürnberg geboren, arbeitet seit 2000 als freiberuflicher Werbetexter. Er lebt zusammen mit Reinwarth in Barcelona.

Die Sprecher

Nina Petri gab ihr Schauspieldebüt in der TV-Serie „Rote Erde“ und war seitdem in vielen Erfolgsfilmen zu sehen, u. a. in „Lola rennt“ und „Bin ich schön?“. Sie wurde mit dem Bayerischen Filmpreis und dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet.

Peter Lohmeyer ist einer der profiliertesten deutschen Film- und Fernsehschauspieler. Er wurde mit dem Deutschen und dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Den größten Erfolg seiner Karriere feierte er 2003 in Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“.

Die Aufnahme fand im Juni 2007 im Eimsbütteler Tonstudio Hamburg statt. Regie führte Gabriele Kreis. Das Titelbild entspricht dem der Buchausgabe.

Inhalte

Unter den 98 Lexikoneinträgen, die ich gezählt habe (ich muss wohl zwei überhört haben, oder warum hat es bis zum vollen Hundert nicht gereicht?), können hier natürlich nicht alle vorgestellt werden. Erstens ist dafür kein Platz und zweitens wäre es todlangweilig und drittens müsste ich dann das Buch abschreiben – und das verstieße gegen das Urheberrecht. Also bleibt mir nur, eine Auswahl der merkwürdigsten und besten Einträge auszuwählen, und diese Auswahl muss naturbedingt subjektiv ausfallen.

Ist es nicht bedenklich, dass man von befreundeten Familien plötzlich Weihnachtsgrüße bekommt, wo alle blöde Nikolausmützen aufhaben? Sind wir nicht dämlich, dass wir Tomaten und Clementinen kaufen, bloß weil ein grüner Strunk dranhängt, der uns vorgaukelt, sie kämen frisch vom Strauch?

Und sollte man sich nicht aufregen über diesen Antiraucherterror, der sich zunehmend ausbreitet? Wenn einer begeisterter Passivraucher ist, dann ist er vielleicht scharf aufs passive Inhalieren. Zum Glück gibt es noch keine Passivfußgänger oder Passivautofahrer. Wenn man sich das ADAC-Magazin so durchliest und nichts anderes kennen würde, dann wäre man ziemlich überrascht, dass die Bevölkerung nicht aus lauter älteren Herrschaften besteht, die alle Mercedes und dicke BMWs fahren.

Das Arschgeweih ist ein auf den verlängerten Rücken tätowiertes Unterschichtenbekenntnis, sozusagen der Barcode für den kleinen gesellschaftlichen Unterschied. Aber wann war eigentlich die Arschgeweihnacht?

Jetzt könnte ich endlos so weitermachen, aber einen Eintrag muss ich noch loswerden. Warum besteht die weibliche Schambehaarung nur noch aus einem Strich, als wäre das ein Ausrufezeichen oder der Mittelstreifen einer Autobahn? Früher konnte ein Mann seine Finger hier den Busch teilen lassen und sie auf Entdeckungsreise schicken, vom Lustwandeln ganz zu schweigen. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Frau.

Mein Eindruck

Die Autoren sind scharfe Beobachter ihrer Zeit und Zeitgenossen, und oft landen sie mit ihren bissigen Bemerkungen – mitunter als Satire – einen Volltreffer. Aber manchmal liegen sie auch daneben. So etwa beim Eintrag über die allseits (?) geschätzte Wikipedia. Gemäß einer „neokapitalistischen Strategie“ lässt der Initiator der Online-Ezyklopädie andere Autoren für lau arbeiten, und die machen das auch noch. Wächter sollen Fehler in den Artikeln ausbügeln und Anarchisten rauswerfen. Das mag schon alles zutreffend sein, aber es ist natürlich überspitzt formuliert und wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit. In Wahrheit werden Artikel der Wikipedia laufend manipuliert, insbesondere von Parteien und Politikern. Man sollte sich also nicht auf die Kommentare der Autoren hierzu verlassen.

Bei Personen ist das etwas anderes. Jürgen Klinsmanns Auftritt in „Deutschland – ein Sommermädchen“ wird als „martialisch“ abqualifiziert, Heidi Klum macht alle neidisch, die weder reich noch eine Supermama sind, und Lady Diana muss alle Kommentare ertragen, da sie zu einer Gegendarstellung offensichtlich nicht in der Lage ist.

Die Sachgebiete sind querbeet gestreut, vom Internet bis zur Sexualität, von Vogelgrippe bis Second Life. Die einzige Sortierung ermöglicht das Alphabet, und das ist bekanntlich geduldig. Gemeinsam sind den Einträgen nur der kritische Blick auf das Phänomen und die spitze Feder, um die Kritik auszudrücken. Wo man allerdings eine bissige Bemerkung erwarten würde, bekommt man allzu oft – besonders im letzten Drittel – nur ein Apercu geliefert: einen Einzeiler à la Oscar Wilde (der um Welten besser war!).

Superaktuelle Themen sucht man vergebens. Wo ist der Transrapid, wo der Bundestrojaner (heißt jetzt „Online-Durchsuchung“ und ist somit nix Schlimmes, gell?), wo ist Hartz IV? Stattdessen findet man und frau so seltsame Themen wie „Embodiment“. Das sei ein Frauenpsychotrend, erfährt man erstaunt, bei dem sich frau durch eine körperliche Reaktion abreagieren kann, die positiv ist. Hat man sich darunter nun Schauspielerei oder Ohrfeigen vorzustellen? Das wird nicht so ganz klar.

Auch die Webseite „Cats-that-look-like-Hitler“ (wird nicht so geschrieben) interessiert mich nicht so wahnsinnig, soll aber wohl die Skurrilität des Internet belegen. Na, besser ein skurriles Internet als eines, in dem nur die Konzerne und Parteien das Sagen haben. Deshalb fand ich auch die Kritik an |YouTube| voll daneben. „Jeder Depp kann was reinstellen, unter anderem den Hit von den drei Kanaken, die eine Susi anhimmeln“ (wird nicht so ausgedrückt, keine Sorge). Lieber ein demokratisches Internet, in das jeder reingeht, als eine so elitäre Vorstellung, wie sie sich die drei Autoren offenbar erträumen!

Die Sprecher

An dem Vortrag von Nina Petri und Peter Lohmeyer kann ich absolut nichts aussetzen. Aber wie sie ihren getrennten Einsatz aufteilen, orientiert sich wohl eher nach dem Prinzip der Abwechslung. Einmal sprichst du, dann wieder ich, dann wieder du und so weiter. Aber dieses Muster halten sie nicht immer ein, deswegen lässt sich nicht von einer Regel sprechen. Es sei denn von einer, die lauter Ausnahmen kennt.

Es gibt weder Musik noch – God forbid! – Geräusche, so dass dieses „Lexikon der Gegenwart“ eine relativ trockene Angelegenheit ist.

Unterm Strich

Dass die Gegenwart – zumal in den Medien, in denen sich der Journalist, der Werbetexter und die Produzentin herumtreiben – vor allem aus Hypes und Fakes besteht, hat sich inzwischen herumgesprochen. Männlein und Weiblein, so suggeriert das Lexikon, sind gleichermaßen davon betroffen. Und man darf sich richtig schön darüber aufregen, dass nicht alles echt ist, geschweige denn vernünftig.

Andererseits kann man sich als Hörer fragen, was diese drei Herrschaften dazu bringt, so seltsame Phänomene wie Paris Hilton, Bundestrojaner und Hartz IV einfach auszublenden. Könnte es damit zu tun haben, dass sie sich besonders gut (= nur) in den Medien und im Internet (das Massenmedium der Zukunft) auskennen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Denn vielleicht es ja einfach nur eine Auswahl für dieses Hörbuch. Möglicherweise bietet das Buch genau das, was ich hier vermisst habe. Dann muss man sich aber fragen, wozu man sich das Hörbuch besorgen sollte. Ist das vielleicht die Schnupperpackung fürs Buch, der Appetizer für den Hauptgang, sozusagen das „Pröbli“ (Pröbchen) für die Vollversion?

Herr Ober, bitte ein kostenloses Upgrade!

75 Minuten auf 1 CD.
ISBN-13: 978-3899034622

http://www.hoerbuch-hamburg.de