Ursula K. Le Guin – Die Geißel des Himmels

Weltuntergang en gros: fast so gut wie Philip K. Dick

Es ist ein geringfügiges Vergehen, wegen dessen sich George Orr einer psychologischen Therapie unterziehen muss: Medikamentenmissbrauch. Der Patient tut alles, um seine Träume zu unterdrücken, worauf sein behandelnder Arzt, der Psychiater Dr. Haber, eine gewöhnliche psychische Störung diagnostiziert. Doch George Orrs Träume können die Realität verändern. Ohne zunächst zu ahnen, worauf er sich einlässt, zwingt Dr. Haber seinen anbefohlenen Schützling, eine Reihe künstlich induzierter Träume zu erleben, bis sich Orr ganz und gar in diesen Träumen verliert und von der Welt, wie wir sie kennen, keine Spur mehr übrig ist. (Verlagsinfo)

„The Lathe of Heaven“ (wörtlich: „Die Drehbank des Himmels“) wurde für das amerikanische Fernsehen verfilmt. Der 1971 erschienene Roman erinnert an manche Werke von Philip K. Dick.

Die Autorin

Ursula Kroeber Le Guin, geboren 1929 als Tochter des berühmten Anthropologen Kroeber, ist meiner Ansicht nach eine bessere Schriftstellerin als C.S. Lewis (was etwa Jugend-Fantasy angeht), mit einem klareren Stil als Alan Garner (GB), origineller als Susan Cooper oder Joy Chant und schreibt flüssiger als alle ihre amerikanischen Nachahmer. Ihr Stil zeichnet sich durch anmutige Eleganz aus. Sie gehört zu den höchstdekorierten amerikanischen Schriftstellern überhaupt.

Am bekanntesten wurde sie durch ihren – kürzlich verfilmten – Erdsee-Zyklus, in dessen Universum sie immer neue Romane spielen lässt. Aber da sie von Haus aus einen anthropologischen Hintergrund hat (s. o.), spielen ihre frühen SF-Geschichten verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung des Menschen oder von alternativen Kulturen durch. Dazu gehört der frühe Hainish-Zyklus, der Roman „Die Geißel des Himmels“ und die preisgekrönten Romane [„Die linke Hand der Dunkelheit“ 785 (1969) sowie „Der Planet der Habenichtse“ (1974). In „Linke Hand“ beschreibt sie eine Kultur, die nicht von zwei verschiedenen Geschlechtern und deren determinierter Sexualität beherrscht wird. „Habenichtse“ entwirft die große Utopie der Anarchisten: keine Herrschaft, keine sozialen Unterschiede, nur Nächstenliebe und Freiheit – in Armut.

In zahlreichen Storysammlungen hat sich Le Guin sowohl in der Fantasy wie auch in Mainstream und SF als scharfsinnige Theoretikerin und Beobachterin erwiesen. Zu diesen Collections gehören besonders „Die zwölf Striche der Windrose“, „Die Kompassrose“, „Ein Fischer des Binnenmeeres“, „Four Ways to Forgiveness“ und zuletzt „Changing Planes“ (2005).

Le Guin hat auch Gedichte und Kinderbücher geschrieben, mit der Norton Anthologie zur Science Fiction erwies sie sich als wichtigste – und umstrittene – Initiatorin weiblicher Science-Fiction in den siebziger Jahren. Eine interessante und aktuelle Würdigung ihres Werks findet sich in Thomas M. Dischs Sachbuch „The dreams our stuff is made of. How science fiction conquered the world“ (1998). Diese kritischen und kenntnisreichen Essays werden sukzessive im „Heyne SF Jahr“ veröffentlicht. Relevant zu Le Guin sind die Kapitel „Can girls play too? Feminizing science fiction“ und „The third world and other alien nations“.

Handlung

George Orr lebt kein aufregendes Leben in Portland, Oregon. Er ist eine Art „Otto Normalbürger“, passiv, alleinstehend, also kein Grund, der wichtigste Mensch der Welt zu sein. Doch als er vom Hospital zu Dr. William Haber geschickt wird, ist Orr nur noch ein Nervenbündel, ausgezehrt und zittrig. Er habe seit mehreren Nächten nicht geschlafen und halte sich mit Medikamenten wach. Wegen dieses Medikamentenmissbrauchs hat man ihn nun zur Freiwilligen Therapeutischen Behandlung verdonnert. Bricht er sie ab, wird man ihn der Zwangsweisen Therapeutischen Behandlung (ZTB) unterziehen, und das ist bestimmt genauso schlimm, wie es klingt. Darum macht Orr bis zum Ende der FTB weiter.

Wirkungsvolle Träume

Dr. Peter Haber berichtet George, er wolle verhindern zu träumen, denn seine Träume verändern die Wirklichkeit. So habe er zum Beispiel als Junge den Verführungsversuchen seiner jungen geschiedenen Tante Ethel dadurch entgehen wollen, dass er träumte, sie sei schon vor Wochen bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Als er am nächsten Morgen erwacht sei, habe er zu seinem Entsetzen feststellen müssen, dass dies tatsächlich der Fall war – und zwar sei dieser Unfall schon vor Wochen geschehen. Niemand außer ihm habe sich erinnern können, dass sie am Abend vor seinem Traum noch mit ihm und seiner Mutter am Tisch gesessen hatte. Der „wirkungsvolle Traum“ verändert mithin nicht nur ein einzelnes Detail, sondern auch die gesamte damit verknüpfte Wirklichkeit inklusive der entsprechenden Erinnerungen! Als sich solche Vorfälle häuften, habe er nicht mehr gewagt zu schlafen.

Macht

Dr. Haber, ein bärengroßer Mann mit einem rotbraunen Rauschebart, überzeugt sich widerwillig von der verblüffenden Fähigkeit George Orrs. Als Schlafforscher kann er auch Hypnose anwenden. Mit Hilfe eines von ihm entwickelten Apparates, des Verstärkers, verkürzt Haber die Zeit, die bis zum Hypnosezustand verstreicht, immer mehr, um so Orrs „wirkungsvolle Träume“ besser studieren zu können. Allmählich erkennt er die immensen Möglichkeiten, die in Orrs Fähigkeit liegen. Es ist genau das, wonach korrupte Staatsmänner und andere Machthaber stets streben: die Macht eines Gottes. Und daher handelt er nur folgerichtig, als Haber versucht, sich Orrs Fähigkeit mit Hilfe des Verstärkers anzueignen.

Doch so einfach macht es ihm Orr nicht. Er weiß, dass ihm Haber suggeriert, dessen Wünsche zu erfüllen. Er nimmt sich eine Anwältin, die Mulattin Heather Lelache, die er zu lieben lernt und die er später immer wieder herbeiträumt. Doch Heather kann nichts Schlimmes an Habers Experimenten erkennen. Sie lässt Haber freie Hand, bis die FTB abgeschlossen ist. Leider merkt sie nicht, dass sie von Haber übers Ohr gehauen wurde.

Der Schwarze Tod

Haber will George schon helfen, seine Angst vor den Träumen zu verlieren. Doch dafür muss George erst einmal seine Umgebung verbessern: Aus der überbevölkerten und kriegerischen Welt wird eine friedliche Welt. Doch die plötzlich geeinte Welt ist nur deshalb leerer, weil der Schwarze Tod – eine krebserzeugende Epidemie mit Merkmalen von Aids – sechs Milliarden Menschen getötet hat.

Die Invasion

Und sie ist nur deshalb friedlich, weil sie sich einer äußeren, vermeintlichen Bedrohung gegenübersieht: den Aldebaranern. Die Luftwaffe greift Portland an, weil alles ein riesiges Missverständnis ist. Die Militärs halten die friedlichen und völlig unbewaffneten Außerirdischen (die aber gleichwohl den Mondstützpunkt zerstört haben) für Angreifer. Eine große Bombe trifft den schlafenden Vulkan Mt. Hood und führt zu gigantischen Eruptionen. Anarchie bricht aus.

Die Beatles

In Georges nächstem Traum, der das Chaos beenden soll, sind die Außerirdischen gelandet, in die Gesellschaft integriert und begrüßen ihn persönlich in Habers Praxis. Er verfüge, sagen sie, über eine ihnen wohl bekannte Fähigkeit: iakhlu’. Und sie raten ihm, sich in Not an Freunde zu wenden. Der Beatles-Song „With a little help from my friends“ erhält nun eine tiefere Bedeutung. Zu diesen Freunden gehört auch Orrs Geliebte bzw. Ehefrau Heather.

Das Nichts

Der Tag des Triumphes von Dr. Haber ist ein Tag des Weltuntergangs. Er hat es geschafft, die Methode, mit der Georges Gehirn die wirkungsvollen Träume erzeugt, zu reproduzieren und mit Hilfe seines Verstärkers in Gang zu setzen. Als er George nicht mehr benötigt, um die Realität zu manipulieren, spielt Haber kurzerhand selbst Gott. Die Folgen seines Solipsismus und Machtstrebens äußern sich in wachsenden Abschnitten von Nichts: kein Fluss, keine Berge, immer weniger Stadtviertel. Kann George Heather, die Welt und Dr. Haber noch retten?

Mein Eindruck

Die Autorin behandelt in ihrem frühen SF-Roman Fragen der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Ganz offensichtlich interessiert sie sich hier für Aspekte der Metaphysik, d. h. des Einflusses des Geistes auf die physische Realität. Wie an den Zitaten, die jedem Kapitel vorangestellt sind (von Lao-Tse, Victor Hugo, H. G. Wells und anderen), abzulesen ist, sind diese Begriffe und Diskussionen schon ziemlich alt, aber für die Generation der Endsechziger und Siebziger des 20. Jahrhunderts macht die Autorin sie wieder relevant. Für diese Generation waren gesellschaftliche Umwälzung, Friedensbewegung und ökologisches Bewusstsein ein tägliches Anliegen von höchster Bedeutung.

An einem einzigen Ort, der eingehend geschilderten Stadt Portland in Oregon, zeigt die Autorin beispielhaft, welche Alternativen als Strukturen für die Realität von morgen bereitstehen – und was sie bedeuten könnten: im Guten wie im Schlechten. So etwa erschafft Orr einmal die perfekte Gesellschaft, doch alle Menschen sehen gleich aus und tragen eine graue Haut. Ist das Motto „Das Beste für die größte Anzahl Menschen“ menschlich bzw. menschenwürdig? Wohl nicht, denn George Orr wird Zeuge einer Szene, wie ein Krebsleidender auf offener Straße von einem Mann mit Bürgerrechten – kein Polizist! – angehalten, der Schädigung der Volksgesundheit angeklagt und standrechtlich erschossen wird.

Auch Philip K. Dick hat die Realität auseinander genommen und schmelzen lassen. So weit geht Le Guin jedoch nicht. Sie ist eine weitaus rationalere Philosophin als Dick, der zusätzlich seine Ängste und Obsessionen verarbeitete. Wie gesagt, liest sich „Geißel des Himmels“ wie ein sokratischer Dialog. Zu diesem Eindruck tragen auch die Zitate chinesischer Denker wie Lao-Tse und von Victor Hugo bei. Aber ihr Buch liest sich lange nicht so aufregend und beklemmend wie ein guter Roman von Philip Dick. Die Lovestory zwischen George und Heather Lelache hat mehr Ähnlichkeit mit der Liaison zwischen zwei platonischen Akademikern. Als Erzählerin ist die Le Guin am besten in der Fantasy [(„Erdsee“) 146 und in „Die linke Hand der Dunkelheit“, einem preisgekrönten Science-Fiction-Roman.

Zur neuen und vollständigen Übersetzung

Zunächst verfügt die neue Ausgabe, die Edition Phantasia vorlegt, über rund 90 Seiten mehr Text als die Heyne-Ausgabe aus den Jahren 1974 und 1979. Das ist rund ein Drittel. Die hinzugekommenen Abschnitte bestehen in erster Linie aus rechthaberischen Erläuterungen Dr. Habers über seine Arbeit. Da sie ganz schön ermüdend sein können, hat die |Heyne|-Übersetzerin sie einfach weggelassen. Folglich verlor die |Heyne|-Ausgabe an Tiefgang und Glaubwürdigkeit, was sie an Actionorientierung gewann.

Schon bei der ersten Lektüre der Heyne-Ausgabe war mir klar, dass etwas fehlt. Denn Dr. Haber ist keineswegs ein „mad scientist“, sondern beschreitet lediglich den Weg aller Wissenschaftler, die das haben wollen, was ihren Patienten zu etwas Besonderem macht. In seinem Fall sind es „wirkungsvolle Träume“. Insofern kritisiert die Autorin die westliche Wissenschaft allgemein und nicht nur Dr. Haber im Besonderen. Begreift und akzeptiert man George Orrs weiterentwickelten Standpunkt, dass Traum und Welt nicht zu trennen sind, wird verständlich, warum Dr. Habers Anwendung des Traumverstärkers das Nichts erzeugt, also die Welt auffrisst. Dr. Haber hat die Welt nicht in sich, sondern will das, was außerhalb seiner selbst ist, kontrollieren. Dies geht im Fall des wirkungsvollen Traumes offensichtlich nicht. Der Träumer muss etwas von sich einbringen, um etwas zu verändern. Aber in Haber ist nichts – und damit ersetzt er die Welt.

Es ist also recht löblich, die Rechtfertigungen Habers wieder einzufügen. Der Übersetzer Joachim Körber ersetzt dabei die Nomenklatur der Heyne-Ausgabe. So wird etwa aus „Augmentor“ ein gewöhnlicher „Verstärker“.

Aber er orientiert sich auch an den verschiedenen Stilebenen des Originals. Wenn ein bekiffter Hippie (Manny, der Hausmeister von George) seine Silben verschleift, so klingt das natürlicher als das Hochdeutsch, das ihn die alte Ausgabe sprechen lässt. Für manche Stilfigur Körbers gibt es aber kein Gegenstück. So redet bzw. denkt die Anwältin Heather Lelache etwas ironisch von „Klapperatismus“ und von ihrem eigenen „Oberstübchen“ (S. 59/63). Das finde ich recht gelungen, wenn auch ein wenig gewagt. Noch gewagter ist ihr Ausdruck von den „Geschlechtskrankheiten der Seele“ (S. 111 und 115).

An Fehlern konnte ich nur zwei finden, und das ist verdammt wenig. Laut DUDEN wird nicht wie auf S. 83 „plümerant“ geschrieben, sondern „blümerant“. Gravierender ist hingegen die erste Zeile auf Seite 184. Haber sagt: „Also, es gibt nichts mehr zu <führen>, weil es sowieso nicht in Ihren Händen liegt.“ Das Verb „führen“ ergibt an dieser Stelle keinen Sinn. Erst wenn man es durch „fürchten“ ersetzt, fügt sich dieser Satz in den Kontext des Absatzes ein. Leider liegt mir das Original nicht vor, und in der Heyne-Ausgabe fehlt dieser Satz.

Unterm Strich

„Die Geißel des Himmels“ – der deutsche Titel ist einem der chinesischen Zitate entnommen – erscheint mir wie Ursula Le Guins Versuch, das Problem der Anwendung des Willens (in Traumform) auf die Welt mit den Mitteln eines Philip K. Dick zu illustrieren. Dabei hat sie allerdings die Hauptfigur, George Orr, so durchschnittlich wie nur möglich gezeichnet und eine Hierarchie wie bei Dick unvollständig gelassen: Orr ist der kleine Mann von der Straße, Haber ein Macht-Haber, doch es fehlt ein Über-Mensch, und die Aliens sind nicht eine Ausgeburt von Paranoia, sondern freundliche Helfer. Die Erkenntnisgrenzen des Lesers werden nie überschritten, was erstens ein wichtiger Unterschied zu Dick ist und zweitens den Roman recht gut verständlich macht.

Die Story des Romans ist in recht einfachen Begriffen, aber dennoch einigermaßen spannend erzählt. Also könnten meiner Meinung nach auch Leser, die mit Science-Fiction nichts am Hut haben, etwas damit anfangen. Für den Hintergrund könnte es sich als hilfreich erweisen, ein paar Philosophiekenntnisse mitzubringen, um zum Beispiel auch den Überbau zu verstehen, den die Autorin in die Motti gepackt hat, sozusagen als Andeutung dessen, was ihre Geschichte in philosophischen Begriffen bedeuten könnte. In der neuen, vollständigen Ausgabe ist außerdem für Dr. Habers Erläuterungen und andere erklärende Abschnitte etwas Geduld aufzubringen.

Wer die Romane „Die linke Hand der Dunkelheit“ und „Der Planet der Habenichtse“ mag, wird auch mit „Die Geißel des Himmels“ etwas anzufangen wissen. Er ist also für den anspruchsvollen Leser gedacht. Mir war der Roman nicht verrückt genug – dann schon lieber Dick. Und von Action kann nur selten die Rede sein, egal ob hinsichtlich Handlung oder Liebe. Dann schon lieber Benford, Bear oder Brin.

Taschenbuch: 232 Seiten
Originaltitel: The lathe of heaven, 1971
Aus dem US-Englischen übertragen von Joachim Körber
ISBN-13: 9783937897165

www.edition-phantasia.de