Ligotti, Thomas – Alptraum-Netzwerk, Das (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 2)

_Wider Corporate America, den Moloch der Welt_

Unter der glatten Oberfläche der Geschäftswelt brodelt ein Sumpf aus Angst, Missgunst und Rache. Als Ort des Grauens erscheint die moderne Businesswelt geradezu ideal – indem sie den Einzelnen als austauschbares Rädchen im Getriebe betrachten, umspannen globale Konzerne mit einem Netzwerk, das unüberschaubar geworden ist.

Frank, der Bürohengst, sieht sich in einem Netz aus Intrigen gefangen, das ihn zu erdrücken droht. Doch wenn er die Chance zur Gegenwehr bekommt, wird seine Vergeltung bestialisch sein …

Die Titelstory dieser Original-Storysammlung gewann 2003 in den USA den |Horror Guild Award| und den traditionsreichen |Bram Stoker Award|.

_Der Autor_

Thomas Ligotti, geboren 1953, arbeitete 20 Jahre lang in einem Verlag seiner Heimatstadt Detroit (Motor City, Murder City). Seit seinem 17. Lebensjahr (1970) leidet er unter Platzangst (Agoraphobie), die bekanntlich nur zu lindern, aber nicht zu heilen ist. Das hat sicherlich seine Sicht auf die Welt geprägt.

Ligotti hat sich mit seiner speziellen Machart des Horrors eine treue Anhängerschaft erschrieben. Seine erste Story erschien 1981, die erste Storysammlung „Songs of a Dead Dreamer“ 1986. Obwohl das Thema meist der Gothic-Fantasy angehört, ist seine Wahrnehmungsweise vielmehr die des Surrealismus (ohne den Thesen von Breton etc. zu gehorchen): Die meisten Szenen werden durch die verzerrte Perspektive des todgeweihten Erzählers betrachtet.

Ligotti verdankt viele Impulse dem expressionistischen deutschen Film der 1920er Jahre, so etwa „Das Kabinett des Dr. Caligari“, aber natürlich auch den Großen des Horror, also Poe, Chambers und Lovecraft, aber auch Burroughs und Kafka.

_Die Erzählungen_

|1) Der Lohn des Lebens: Meine Arbeit ist noch nicht erledigt|

Frank Dominio, der Ich-Erzähler, ist ein Bürohengst in einem großen amerikanischen Traditionsunternehmen. Die Abteilungsleiter wissen, dass sie immer mehr vom ewig Gleichen produzieren wollen. Neue Ideen wie die von Frank sind nicht nur nicht gefragt, sondern erscheinen sogar als gefährlich. Seine Erzfeinde fasst Frank im Kreis der Sieben zusammen, und deren Kopf ist Richard. Wenn dies die Sieben Zwerge wären, dann wäre Richard der Zwerg „Doc“. Im Bannkreis seiner Zwangsneurosen gefangen, erblickt Frank in Richard seinen Widersacher: den Puppenspieler, den Manipulator, den „Reparierer“. Stillschweigend natürlich, denn hier geht’s zivilisiert zu. Noch.

Nach seiner freiwilligen Kündigung, zu der es nach einer letzten Demütigung kommt, hinterlässt Frank eine Botschaft: „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“. Er löst alle seine Konten auf und quetscht seine Kreditkarte aus, bis sie jault. Er kauft sich genügend Waffen, um die Sieben auszulöschen. Doch bevor er dies am Montag tun kann, erwischt ihn am Samstag zuvor eine Explosion. Die Folgen sind, gelinde gesagt, kurios.

~ Die Verwandlung ~

Was Frank war, muss zunächst lernen, die Konsistenz seines nunmehr geisterhaften Körpers je nach Bedarf zu regulieren. Darauf kann er beginnen, seine „unerledigte Arbeit“ zu verrichten. Er beginnt mit Perry Stokowski, von dem nicht viel übrig bleibt. Tags darauf erscheinen die Detektives Black und White in der Firma und befragen „Doc“ Richard, doch der tut ahnungslos. Und sie wissen noch nicht, dass sich Frank – heißt er nun Domino oder Dominio? – nicht mehr unter den Lebenden im herkömmlichen Sinne befindet.

Die gegen Frank Verschworenen fallen, wie zu erwarten, einer nach dem anderen verschiedenen unglückseligen, aber meist ziemlich bizarren „Ereignissen“ zum Opfer, meist nichts ahnend. Aber als sich der Kreis der Sieben bis auf einen reduziert hat, bleibt Frank die Konfrontation mit dessen Anführer nicht erspart: Richard. Und dabei erlebt er eine böse Überraschung: Man hat ihn erwartet …

~ Mein Eindruck ~

Es fängt ganz harmlos mit allgemeinem Unbehagen und Unwohlsein an, doch sobald Frank die Verschwörung gegen sich entdeckt hat, beginnt seine Reaktion Formen anzunehmen. Die Explosion verwandelt ihn, wie einst Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt wurde. Doch Franks neues Leben ist kein Alptraum, wie es die Verwandlung für Gegor bedeutet, sondern vielmehr eine Chance. Nun kann er sich noch leichter fortbewegen und überall Schaden anrichten. Sein Einfallsreichtum ist bewunderns- und lobenswert. Nur einer kommt davon: Richard. Denn Doc ist auf diese Eventualität gut vorbereitet. War Frank einfach nur böse, so ist Richard ein Vielfaches davon.

Dieser Text kommt dem, was wir unter einem realistischen Erzähltext mit Kriminalstory verstehen, in diesem Band am nächsten. Aber auch hier werden schon etliche Regeln gebrochen, so dass aus der üblichen Ermittlung leider nichts wird. Sie ist unwichtig. Wichtig sind Franks Weiterentwicklung und die Erkenntnisse, die sie ihm bringt.

|2) Die Wiederkunft der Toten: Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt|

Die Firma Blaine ist in die Mordstadt gezogen, nachdem diese in die Goldene Stadt umgetauft worden war. Wenig später findet man die ersten Leichen im Perimeter der Innenstadt. Unser Gewährsmann (Frank?) beobachtet die darauffolgenden Ereignisse mit wachsendem Zweifel. Er hat etwas Beunruhigendes beobachtet, einen merkwürdigen Zusammenhang. Jedes Mal, wenn ein gelblicher Dunst besonders direkt in den Straßen der City hängt, erhöht sich die Zahl der Leichen. Dieser Prozess setzt sich auch in den vier Wänden von Blaine & Co. fort: Der Dunst ist so dicht auf den Fluren der Firma, dass man kaum die Hand vor Augen sieht, und es wundert unseren Chronisten keineswegs, dass ein Abteilungsleiter nach dem anderen ein vorzeitiges Ende findet.

Blaine hat nur einen Service anzubieten, nämlich die Manipulation von Dokumenten, doch verkündet man zur allgemeinen Verblüffung der Mitarbeiter, die sich in einem Kellerraum versammeln mussten, dass die Firmenleitung, sofern noch vorhanden, auf Expansion bedacht ist. Und zwar weltweit. Dieser Plan erscheint absurd, doch jeder, der auch nur an Kündigung laut zu denken wagt, kann gleich sein Testament machen. Jetzt sei der Firmengründer höchstselbst am Ruder des schlingernden Schiffes, heißt es pompös.

Unserem Erzähler schwant nichts Gutes, als ihn der Vizepräsident der Entwicklungsabteilung, Harry Winston, zu sich ruft. Winston soll ihm lediglich ausrichten, dass ihn U. G. Blaine zu sehen wünscht. Auf der Toilette im obersten Stockwerk. Au weia, denkt unser braver Mann, macht sich aber tapfer ans Erklimmen des Treppenhauses (der Lift dieses bröckelnden Gebäudes ist schon längst ausgefallen). In der Toilette steht er endlich dem Firmengründer gegenüber: dem gelblichen Dunst, der durch die Straßen und Abteilungen wabert.

Wird er diese Begegnung überleben?

~ Mein Eindruck ~

Diese Erzählung ist in gediegenstem Prosastil verfasst und ich fühlte mich sofort in selige Zeiten bzw. Seiten von Henry James oder Edgar Allan Poe versetzt. Beinahe frei von jeglicher Ironie oder gar von Zynismus, beschreibt der Chronist lediglich, was zu passieren scheint. Es ist ja seine Interpretation der Dinge, die wir lesen. Aber mit einem gehörigen Maß an Zurückhaltung gegenüber der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und Intelligenz. Es scheint sich nicht mehr um den gleichen Frank Dominio zu handeln – falls er es überhaupt ist, denn ein Name wird nie genannt.

„Die Stadt der gelben Pest“, das könnte fortan der Name dieser Stadt sein, wenn es nach der Sensationspresse ginge. Unwillkürlich denkt jeder Horrorfreund an Poes geniale Erzählung [„Die Maske des Roten Todes“ 773 (ca. 1845) und Robert William Chambers einflussreiche Erzählungssammlung „The King in Yellow“ (1895), die unter anderem auch H. P. Lovecraft inspirierte. Der titelgebende König symbolisiert den Tod. Genau wie in Ligottis kurzer Erzählung „Die Wiederkunft der Toten“. Der Zusammenhang ist plausibel, denn Ligotti ist erwiesenermaßen ein intimer Kenner der Literatur des übernatürlichen Schreckens.

|3) Geschäfts-Auflösung: Das Alptraum-Netzwerk|

In kurzen Szenen und Dokumenten schildert dieser Text das konsequente Ende des in den ersten zwei Texten initialisierten und fortgesetzten Prozesses: die finale Selbstzerfleischung und Auflösung des SYSTEMs.

Zunächst träumen Firmengründer von grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, doch das Notizbuch eines Managers enthüllt, was er darunter versteht: Kannibalismus, die Zerfleischung seiner untergebenen Mitarbeiter. Einer dieser Mitarbeiter jagt sich vor versammelter Belegschaft eine Kugel durch den gequälten Schädel. Fortan, so verrät eine weitere Kleinanzeige, dürfen nur noch Genehmigte Arbeitskräfte beschäftigt werden. Doch leider legen auch diese zu viel Initiative an den Tag, und es kommt zur Einstellung von „Beschäftigungseinheiten mit autonomer oder halbautonomer Programmierung“.

Wie sich herausstellt, existieren inzwischen in den EDV-Systemen der größten Konzerne nur noch zwei Konglomerate: OneiriCon, das sich den ursprünglichen Traum zum Programm erhoben hat, und sein Gegenspieler, das Alptraum-Netzwerk, quasi seine Nachtseite. Es kommt zur Invasion in die unterirdische Domäne OneiriCons und zu grausigen Szenen der Zerfleischung. Ein weiterer Prozess wird eingeleitet: die langsame, schrittweise Durchdringung der beiden Giganten durch Doppelagenten. Am Ende steht nur ein einziger Riese – und das totale Chaos, denn nichts mehr unterscheidet Traum, Alptraum und das, was man früher als die „Wirklichkeit“ zu bezeichnen beliebte. Die Entropie hat ihr Endstadium erreicht: quasi den Kältetod des Universums …

~ Mein Eindruck ~

Hier erreicht die ätzende Kritik des Autors am American Way of Life und dem kapitalistischen System des Westens (er unterschlägt die Schwellenländer China, Indien und Brasilien) ihren Höhepunkt. Sowohl auf der geistigen, emotionalen als auch auf der körperlichen Seite bleiben nur noch Fetzen vom SYSTEM übrig.

Diese Absicht und das Verfahren belegen die Äußerungen des Autors im folgenden Nachwort. Der einzige Minuspunkt dieses Textes: So etwas wie Handlung oder gar konkrete Akteure sucht man vergebens. Wenigstens gibt es eine Entwicklung.

|Das Nachwort: Das ultimate Objekt des Abscheus|

Der Autor Thomas Wagner hat zusammen mit Eddie Angerhuber zwei Interviews mit dem Autor geführt und sie mit anderen Aufsätzen und Informationen ergänzt. Daraus ist ein wirklich hilfreiches und erhellendes Nachwort geworden, dessen Quellen zudem einzeln belegt sind.

Wagner schreitet vom Allgemeinen zum Besonderen. Er tastet sich zunächst von einem allgemeinen Eindruck von Ligottis Spielart des Supernatural Horrors zu dessen Biografie und Werk vor. Ligottis Horror unterscheidet sich signifikant von dem, was gemeinhin als Horror-Genre auf den Markt geworfen wird. Während die Erfolgsautoren das Böse mit Schrecken in die Welt der Normalen einbrechen lassen, um sich nach Konflikt und Erlösung wieder dorthin zu entlassen, versinkt der von vornherein neurotische Protagonist in zunehmend beängstigenden und beunruhigenden Schichten des Wahns. Das erinnert an Poe und Lovecraft, aber in seiner Absurdität und Erklärtheit auch an Kafka – allesamt erklärte Vorbilder Ligottis.

Aus dem Wahn, der über dem Kopf des Helden zusammenschlägt, gibt es kein Entrinnen, keine irgendwie geartete Erlösung. Im „Alptraum-Netzwerk“ ändert sich etwas an diesem Verlauf. Es gibt ein konkretes Feindbild für den Protagonisten Frank Dominio: Corporate America. Deshalb auch der ursprüngliche Untertitel „Three Tales of Corporate Horror“. Doch Frank gelingt es keineswegs, Corporate America umzunieten, sondern er stößt vielmehr auf etwas noch viel Schrecklicheres, das an das Lovecraftsche Grauen des Nichts erinnert: das Große Schwarze Schwein umfasst Frank. Er befindet sich permanent im Alptraum, nicht der Alptraum in ihm. Und zwar permanent.

Diese drei Erzählungen werden im abschließenden Abschnitt detailliert vorgestellt und diskutiert, besonders auch mit Einlassungen seitens des Autors. Er meint wirklich ernst, was er schreibt, und hält mit seiner ätzenden Kritik an der westlichen (amerikanischen) Gesellschaft nicht hinterm Berg. Darin ist er europäischen Autoren wie Kafka viel näher als etwa Ramsey Campbell oder Joe Lansdale.

|Die Übersetzung|

Monika Angerhuber hat sich wirklich und sichtbar angestrengt, um eine erstklassige Übersetzung abzuliefern – ich hoffe, sie wurde dafür anständig entlohnt. Dennoch bin ich hin und wieder über Fehler gestolpert, manche harmlos, manche weniger leicht.

Auf Seite 20 finden wir in der ersten Zeile zweimal das Wörtchen „mit“. Auf Seite 34 stieß ich auf die Formulierung „vom praktischen Standpunktes der Fahrzeit …“. Offenbar wurde hier korrigiert, dies aber nicht ganz sauber zu Ende geführt. Auf Seite 38 finden wir das hübsche Wort „Drogierie“ – was mag es bedeuten? Es ist offenbar auf einen Flüchtigkeitsfehler zurückzuführen, wie so vieles andere, das ich hier gar nicht aufzählen will.

Auf Seite 111 rätselte ich lange über folgenden Satz, mich fragend, wo der Fehler liegt: „[Kerrie] stürzte auf ihre Sportjacke zu, die ein dumpfes Geräusch erzeugt hatte, als sie ihn zu Boden warf.“ Dumm nur, dass zuvor an keiner Stelle erwähnt wird, dass Kerrie den Maskenmann zu Boden wirft. Dieser steht vielmehr steif und stumm da. Also wo ist der Fehler? Ganz einfach: Es muss „als sie sie (= die Jacke) zu Boden warf“ heißen.

Auf Seite 139 stieß ich auf einen Logikfehler. „Dieser Plan … würde die erhöhten Gewinne erklären, die Blaine im letzten Vierteljahr umgesetzt hatte.“ Gewinne werden aus dem Umsatz qua Einnahmen vs. Ausgaben generiert, aber nicht selbst „umgesetzt“.

Das Druckbild fand ich ziemlich anstrengend. Da die Absätze und Dialoge eh schon selten sind, hätte man die ellenlangen Zeilen gerne kürzer machen können. So aber watet der Leser durch seitenlange Absätze, die von nichts unterbrochen werden, ganz besonders in der mittleren Erzählung.

_Unterm Strich_

Man kann leicht eine Überdosis von Ligotti bekommen, denn in seinen Texten gibt es keine aufhellenden Partien, die eine Erlösung aus dem Alptraum des Protagonisten erhoffen lassen. Die 42.000 Worte lange Novelle „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“ tut so, als ginge es um einen „gewöhnlichen“ Serienmörder, aber dabei vertieft sich der Alptraum, bis im Showdown alles nur noch schlimmer statt besser wird. Stilistisch ist man an Stephen King erinnert, wenn er mal einen bösen Tag hatte, mehr aber noch an Lovecraft, besonders durch die psychologischen Details, die wir vom Protagonisten erfahren, und im Schluss.

Die zweite Erzählung „Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt“ erinnert noch stärker an den Magier aus Providence, aber auch an Orwell (Harry Winston) und besonders Poe und Chambers (s. o.). Im dritten Text – ich sträube mich, dies eine Erzählung zu nennen – wirft der Autor einen Blick in die Kristallkugel und sieht nichts als Chaos, Panik und Entropie voraus – wen wundert’s?

Dies ist weder Literatur der Erbauung noch der Unterhaltung, es ist Literatur des Zorns und des Hasses, gekleidet in stilvolle Texte. Ich war stets in Versuchung, mir die zahlreichen Szenen als Comicbook vorzustellen, nicht als expressionistischen Film – das funktioniert erstaunlich gut. Sollte mich wundern, wenn Alan Moore oder ein anderer Comicbook Artist sich dieses Sujets nicht irgendwann mal annehmen würde. Alle anderen, die die Welt nicht so schwarz und deprimierend sehen wollen wie Thomas Ligotti, sollten die Finger davon lassen und sich etwas Unterhaltenderes reinziehen.

Hinweis: Das Buch gibt es auch als MP3-Audio bei [Lagato.]http://www.lagato-verlag.de

|Originaltitel: My work is not yet done, 2002
Aus dem US-Englischen von Monika Angerhuber
172 Seiten
ISBN-13: 978-3-89840-922-8|
http://www.blitz-verlag.de
http://www.ligotti.de.vu

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