Jens Lossau – Nordseeblut

Inhalt

Albert Rothmann hat zwei Bücher geschrieben: Eines wurde von den Kritikern verrissen und verkaufte sich hervorragend, das andere wurde hochgelobt und lag wie Blei in den Regalen. Nun befindet der Autor sich in einer Schaffenskrise, und der lange, kalte, deprimierende Winter droht im Städtchen Norden, direkt am Meer. Eine solche Umgebung |kann| unter diesen Voraussetzungen eigentlich nur jeden fruchtbaren Gedanken absorbieren.

Albert beobachtet zufällig ein paar Halbwüchsige in ihrem Versteck und beschließt, sich mit ihnen die Zeit zu vertreiben und dabei vielleicht neue Ideen zu sammeln. Aus den Tiefen seiner Erinnerung kramt er ein Ungeheuer hervor, Wengry, das er auf die Jungen hetzt.

Er folgt ihnen unauffällig und findet heraus, dass sie allesamt irgendwelche Probleme zu haben scheinen. Als ihm sein perfides Spielchen jedoch leidzutun beginnt, stellt er fest, dass er es nicht mehr stoppen kann: Wengry hat sich verselbständigt. Und während das sowieso nicht eben unkomplizierte Leben der Jungen Mark, Vic, Tom und Phil plötzlich in eine Abwärtsspirale stürzt, versucht Albert verzweifelt herauszufinden, was genau damals eigentlich geschehen ist, als er erstmals von Wengry gehört hat. Irgendetwas hatte das doch mit seinem Freund aus Kindertagen zu tun – aber warum kann er sich nicht erinnern?

Je tiefer er in das Geheimnis vordringt, desto schrecklicher werden die Konturen dessen, was sich langsam aus dem Nebel schält. Besteht noch die Chance, irgendwie das Ruder herumzureißen, oder sind alle Beteiligten dieser als makabre Farce gedachten Geschichte schon unwiederbringlich in den unheimlichen Sog von etwas geraten, das seine Wurzeln tief in der Vergangenheit hat?

Kritik

„Warnung! Das ist kein gewöhnlicher Regional-Krimi!“ Das behauptet zumindest die Rückseite des Buchs. Man stutzt, man lächelt, man überzeugt sich selbst. Zwanzig Seiten später lächelt man nicht mehr; man |hat| sich selbst überzeugt. Ebenso gut hätte man die Worte Dante Alighieris aufdrucken können: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“

„Nordseeblut“ ist Horror in Reinstform. Und das Schlimmste ist mit Sicherheit nicht Wengry, sondern der alltägliche Horror kranker Gemüter, die sich an jenen austoben, die sich nicht zu wehren verstehen. Lossau stochert offenen Auges in Wunden herum, nimmt den Leser mit an die Schmerzgrenzen und ein bisschen darüber hinaus. Es ist die Banalität des Bösen, die einmal mehr schockiert, die Unerträglichkeit, die zur Norm wurde, so unfassbar das auch sein mag.

Dabei sind die Jungen keineswegs unsympathisch gezeichnet; gegenteilig fühlt man mit ihnen, und wenn sie anfangs auch etwas altklug daher kommen, stellt man schnell fest, dass sie keinen Grund haben, besonders lange Kinder zu bleiben.

Der eiskalte Nordseewinter in all seiner Trostlosigkeit bietet den perfekten Hintergrund für diese Geschichte; in der Dürftigkeit der Witterung werden all die Sorgen und Ängste eingefangen und widergespiegelt. So abstoßend das Geschehen auch sein mag – für den Stil gilt das nicht. Widerwärtigkeiten, Trostlosigkeit, Angst, Gewalt werden nicht mit kruden Worten beschrieben, das Seelenleben der Protagonisten sanft bedacht. Überraschende, originelle Wortbilder fügen glitzernde Punkte in das ganze Schwarz und Rot, und das eine oder andere Mal bleibt das Auge an einer Zeile hängen, und das Gehirn nimmt sich die Zeit, kurz „wow!“ zu denken, ehe es sich wieder in die düstere Verworrenheit versenkt.

Fazit

„Nordseeblut“ ist nichts für schwache Gemüter. Aber es ist ein wirklich guter Roman, eine unter die Haut gehende Mischung aus rational nicht Erklärbarem, finsterem Märchen, sozialen Missständen, Wahnsinn und dem dünnen grünen Zweig der Hoffnung, den die Jungen sich bewahren durch ihre Freundschaft zueinander.

Wer es als interessant und nicht zu gefährlich erachtet, einen langen Blick in die bedrohlichen Tiefen der menschlichen Psyche zu werfen, wer vor dem Grauen nicht zurückschreckt, der ist mit „Nordseeblut“ bestens bedient. Mein Tipp: Lesen – wenn ihr euch traut!

Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
ISBN-13: 9783898402996
www.blitz-verlag.de
www.jenslossau.de