H. P. Lovecraft – Jäger der Finsternis

„Jäger der Finsternis“, ein Hörbuch mit sechs Erzählungen des Horror-Großmeisters H. P. Lovecraft, ist in der ständig wachsenden Reihe „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ bei LPL records erschienen. Diese mittlerweile durchaus umfangreiche Reihe ist eine wunderbare Möglichkeit, die Schrecken Lovecrafts entweder neu- oder wiederzuentdecken.

In diesem 2007 erschienenen Hörbuch vereint Herausgeber Lars Peter Lueg sechs Geschichten unterschiedlichster Couleur – da gibt es Teufelsgeiger, Menschenfresser und wahnsinnige U-Boot-Kapitäne, und alle erhaschen einen schauerlichen Blick auf das entsetzlich schwarze Grauen, das sich hinter unserer banalen Realität versteckt und nur durch einen fadenscheinigen Schleier von ihr getrennt ist. Einmal diese Entsetzlichkeiten geschaut zu haben, bedeutet für die Protagonisten in Lovecrafts Geschichten meistens den Tod, zumindest aber Wahnsinn. Für den Leser bzw. Hörer indes hat der Genuss der Lovecraftschen Alpträume weniger schwerwiegende Folgen, doch eine lebenslange Abhängigkeit bzw. Faszination gehört auch hier zu den Nebenwirkungen, die man – sicherlich gern – in Kauf nehmen muss.

Die erste Geschichte des Hörbuchs, „Die Musik des Erich Zann“ (engl. „The Music of Erich Zann“, 1922), gibt einen guten Einblick in die leicht verschobene Realität Lovecrafts. Der Ich-Erzähler, ein Student der Metaphysik in Paris, versucht vergeblich, die Straße wiederzufinden, in der er während seines Studiums gewohnt hat. Doch kann er sie weder auf Karten ausfindig machen, noch bei Spaziergängen durch die Stadt. Er erinnert sich jedoch, dass diese ominöse Straße einen durchaus beunruhigenden Charakter hatte. Die Gebäude neigten sich nach innen, als würden ihre Dächer einen Baldachin über der Straße bilden. Dies muss einen beklemmenden Eindruck erweckt haben, der noch durch die verschrobenen Bewohner der Straße verstärkt wurde. Der Erzähler bewohnte ein Mietshaus, dessen Mansardenzimmer ein deutscher Geiger sein Eigen nannte. Nach seinen öffentlichen Auftritten kam er nach Hause und spielte des Nächtens beunruhigende Melodien. Beeindruckt suchte der Ich-Erzähler die Nähe des eigenbrötlerischen Erich Zann, in der Hoffnung, dieser möge einige Stücke für ihn spielen. Doch erst als Zann seine eigenen Kompositionen spielt und der Erzähler einen Blick aus dem Fenster wirft, wird er des ganzen Grauens gewahr: Draußen sieht er weder die Straße noch Paris, sondern nur ein schwarzes, schauerliches Nichts. Er flieht, und fortan bleibt die Straße verschwunden.

„Die Musik des Erich Zann“ ist eine wunderbare kleine Geschichte, die mit grundlegenden Ängsten spielt und gleichzeitig versucht, die Kraft der Musik (in diesem Fall offensichtlich als Abwehr gegen böse Mächte) in Worte zu fassen. Hier kommt es weniger auf die Handlung selbst an als auf die stimmungsvolle Beschreibung des der Realität entrückt wirkenden Ortes derselben: die sich nach innen neigenden Gebäude, die den Erzähler zu erschlagen drohen, die seltsamen Bewohner, die Abgeschiedenenheit vom Rest der französischen Metropole – all das macht den Reiz der Geschichte aus.

Die zweite Geschichte, „In der Gruft“ (engl. „In the Vault“, 1920) spielt mit ironisch mit der Idee des Lebendig-begraben-seins und bricht sie auf gleichzeitig gruselige wie auch komische Weise. George Birch ist Totengräber und eigentlich perfekt für den Job. Er ist ein unsensibler Säufer, dem es nichts ausmacht, sich auf dem Friedhof herumzutreiben und Leichen schon mal ein bisschen zusammenzustauchen, damit sie in den zu klein geratenen Sarg passen. Und so ist er zunächst auch wenig beunruhigt, als er während seiner Arbeit durch einen Windstoß in der Gruft eingeschlossen wird. Das alte Schloss ist rostig und lässt sich nicht öffnen, und Birch findet sich in der Gesellschaft von neun Leichen wieder, die in ihren Särgen geduldig darauf warten, auf dem Gottesacker begraben zu werden. Nachdem Birch feststellt, dass all sein Rufen keine Hilfe bringt, sucht er nach anderen Möglichkeiten, sich zu befreien. Das Oberlicht könnte als Fluchtweg infrage kommen, nur um es erreichen zu können, braucht er eine Art Trittleiter. Wie gut, dass er neun belegte Särge zur Verfügung hat, die er übereinander stapeln kann …

Diese Geschichte lebt zu großen Teilen von der absoluten Ahnungslosigkeit Birchs und der dazu gegensätzlichen Erwartungshaltung des Lesers, dass irgendetwas Spektakuläres passieren muss. Während Birch also seelenruhig belegte Särge hin- und herrückt, stapelt und auf ihnen herumklettert, hat der Hörer das Gefühl, an einem Unfall vorbeizufahren: Man möchte nicht hinsehen, kann es sich aber doch nicht verkneifen. Selbstverständlich erfüllt Lovecraft die Erwartungshaltung des Lesers und Birch wird auf recht unangenehme Weise daran erinnert, dass Totengräber vielleicht doch kein Traumberuf ist. Eine wirklich kurzweilige Erzählung mit der richtigen Mischung aus beißendem Sarkasmus und Grusel.

In „Das Bild im Haus“ (engl. „The Picture in the House“, 1919) begegnen wir einem enthusiastischen Archäologen, der sich in der Gegend um Arkham (ein Landstrich, den Lovecraft oft als Handlungsort auswählt) alte Gehöfte ansieht. Er wird von schlechtem Wetter überrascht und hofft, in einem Haus am Wegesrand Unterschlupf zu finden. Auf sein Klopfen reagiert zwar niemand, doch da es wirklich stark regnet und die Tür nicht verschlossen ist, beschließt er einzutreten. Als er sich umsieht, bemerkt er im altertümlich eingerichteten Wohnzimmer ein seltenes Buch. Gerade als er darin blättern will, hört er von oben Geräusche. Es stellt sich heraus, dass das Haus tatsächlich bewohnt ist und sein seltsamer Bewohner, obwohl er weder lesen noch schreiben kann, gern und oft in dem Buch blättert. Besonders angetan hat es ihm Bildtafel zwölf, die das Schlachthaus von afrikanischen Menschenfressern zeigt.

Dass der Erzähler an einen Kannibalen geraten ist, wird nie ausdrücklich gesagt. und die Geschichte endet, bevor man erfährt, ob er sich aus seiner misslichen Lage befreien kann oder dazu verdammt ist, das nächste Opfer dieses Anhängers von Menschenfleisch zu werden. Somit hängt „Das Bild im Haus“ auf beunruhigende Weise in der Schwebe und lässt den Leser, ohne eine Auflösung zu bieten, buchstäblich im Regen von Arkham stehen. Gleichzeitig malt Lovecraft ein abschreckendes Bild dessen, was passieren kann, wenn man bei Fremden Unterschlupf sucht – ein Handlungsschema, das auch heute noch zahllose Horrorfilme immer und immer wieder durchexerzieren.

In „Der Tempel“ (engl. „The Temple“, 1925) greift Lovecraft ein für ihn eher ungewöhnliches Thema auf: Die Handlung spielt 1917 auf einem deutschen U-Boot und hat damit zunächst gar nichts von den verwunschenen Handlungsorten in Neuengland an sich, auf die Lovecraft sonst so gern zurückgreift. Nachdem die U-29 einen englischen Frachter versenkt hat, sammelt sie einen ertrunkenen Feind auf. Dieser trägt einen seltsamen Talisman bei sich – einen geschnitzten Elfenbeinkopf. Der Tote wird dem Meer überlassen, der Elfenbeinkopf hingegen bleibt an Bord, doch seine Fremdartigkeit führt bald dazu, dass die Mannschaft glaubt, das Ding sei verflucht. Wenig später wird die U-29 durch eine Explosion manövrierunfähig und driftet fortan nach Süden. Nach dem Zehn-kleine-Negerlein-Prinzip wird die Mannschaft ausgelöscht – erst durch eine Meuterei, dann verfällt der neben Kapitän Heinrich verbleibende Offizier Klenze dem Wahnsinn. Irgendwann, als das U-Boot träge auf dem Meeresboden aufschlägt, wird Heinrich einer versunkenen Stadt gewahr. Hat er Atlantis gefunden? Oder doch etwas noch viel Schrecklicheres?

Die Erzählung ist in Form eines Logbuchs aufgebaut, somit hat man als Hörer das Vergnügen, dem langsam fortschreitenden Wahnsinn an Bord folgen zu können. Die Crux ist hierbei Kapitän Heinrich, der als guter Preuße natürlich ein Realist ist und folglich weder an Flüche noch an Ängste, Zweifel oder Wahnsinn glaubt. Und so tut er alle Hinweise seiner Mannschaft als weibischen Unfug ab, bis er allein in einem dem Untergang geweihten U-Boot übrig bleibt. Erst da wird es ihm langsam mulmig. Problematisch an der Erzählung (zumindest für einen deutschen Hörer) ist wohl die mit Vorurteilen gespickte Charakterisierung Heinrichs, der ständig von seinem „eisernen deutschen Willen“ spricht und keinerlei Skrupel hat, seine eigene Mannschaft zu erschießen, wenn sie kein Gehorsam zeigt. Diese Überzeichnung stößt unweigerlich sauer auf und lenkt zuweilen von der eigentlichen Handlung ab.

„Jäger der Finsternis“ (engl. „The Haunter of the Dark“, 1936) dagegen passt wieder mehr zu Lovecrafts Vorlieben. Die Geschichte selbst hat natürlich nichts mit der gleichnamigen TV-Serie zu tun. Stattdessen rollt sie den Tod des Anthropologen Robert Blake auf, der in einer Sturmnacht scheinbar vom Blitz erschlagen wurde. Doch natürlich ist nichts so, wie es zunächst scheint. Blake, von der hochaufragenden Kirche auf dem Federal Hill in Providence angezogen, versucht Erkundigungen über die Kirche einzuholen, muss aber schnell feststellen, dass die Anwohner nicht gut auf das Bauwerk zu sprechen sind. Gottesdienste wurden in dem verfallenen Gebäude schon längst nicht mehr abgehalten, stattdessen hat sich dort eine seltsame Sekte angesiedelt, die auch mit dem Verschwinden eines Reporters in Verbindung gebracht wird. Blake besucht die Kirche, befreit aber offensichtlich durch Unachtsamkeit ein Wesen, das nur durch Licht unter Kontrolle gehalten werden kann. Und als dann durch den Sturm überall der Strom ausfällt, ist das Chaos perfekt …

„Jäger der Finsternis“ ist eine wunderbar stimmungsvolle Geschichte, die vom Handlungsort und vom bedächtigen Entwirren der Ereignisse durch den Autor lebt. Lovecraft vermittelt Pseudoauthentizität, indem er Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikel und die Notizen des Reporters in die Geschichte einarbeitet. Die so vorgetäuschte Realität, also die scheinbare Wahrhaftigkeit der Geschichte, verstört umso mehr, da sie nahelegt, dass am Grunde einer jeden (wahren) Geschichte oder Begebenheit ein Funke unaussprechlichen Grauens lauern kann. Blakes Horror, als er die Vergangenheit der Kirche langsam ans Tageslicht bringt, überträgt sich unweigerlich auf den Hörer. Der weiß, dass Blake die Geschichte nicht überleben wird, es bleibt also nur herauszufinden, wie (oder wodurch) der Anthropologe gestorben ist.

Die letzte Geschichte des Hörbuchs ist „Träume im Hexenhaus“ (engl. „Dreams in the Witch House“, 1933). Wieder ist der Protagonist ein Student – Walter Gilman widmet sich der Mathematik und Geometrie, ausnahmsweise also durchaus diesseitigen Wissenschaften. Doch er glaubt, dass auch Linien und Winkel okkulten Charakter haben können, und so mietet er sich in einem verfluchten Haus ein und bewohnt fortan die Zimmer der vor über 200 Jahren verschwundenen Hexe Keziah Mason. Bald wird er von Träumen heimgesucht, in denen ihm sowohl Keziah als auch ihr rattenähnlicher Begleiter Brown Jenkin erscheinen. Die beiden entführen ihn in fremde Welten, und er staunt ob der seltsamen Lebensformen, die er dort beobachtet. Gleichzeitig warnen ihn seine Freunde im Hier und Jetzt. Seine Nachbarn vernehmen seltsame Geräusche und Lichtreflexe aus seinem Zimmer, und sie legen ihm nahe, sich andere Räumlichkeiten zu suchen. Doch Gilman ist schon zu sehr im Netz der Hexe Keziah gefangen, um noch rationale Entscheidungen zu treffen und sich in Sicherheit zu bringen.

Die Verbindungen von okkulten Mächten und mathematischen Winkeln und Linien scheint zunächst etwas abwegig. Ebenso fremdartig bleiben Keziah und ihr Geschöpf Brown Jenkin, das zwar aussieht wie eine Ratte, aber einen Menschenkopf und menschenähnliche Hände besitzt. Walter Gilman findet sich in einem Gewirr aus Horror, Okkultismus und Wahnsinn wieder, das Lovecraft nie endgültig auflöst.

Es überrascht kaum, dass auch dieser Teil von LPLs „Bibliothek des Schreckens“ ein Schuss ins Schwarze ist. David Nathan, der sich langsam aber sicher durch Lovecrafts sämtliche Werke zu lesen scheint, verleiht auch hier den Geschichten erneut eine eindringliche und beunruhigende Note. Teile der Erzählungen werden untermalt von der Musik Andy Materns, der mit sicherer Hand für Gänsehautfeeling sorgt. Seine kurzen Kompositionen markieren nicht nur Pausen zwischen den einzelnen Geschichten, sondern erklingen zunehmend auch als Untermalung der Lesung. Allerdings lässt sich darüber streiten, ob man wirklich Musik einsetzen muss, um dem Hörer zu signalisieren, dass es jetzt gruselig wird. Lovecraft ist ein meisterlicher Erzähler. Seine Texte wirken aus sich heraus, ein musikalischer Zeigefinger ist da kaum nötig. Trotzdem ist es ein Leichtes, „Jäger der Finsternis“ jedem Liebhaber klassischer Horrorliteratur wärmstens zu empfehlen.

310 Minuten auf 4 CDs
Aus dem US-Englischen übersetzt von Frank Festa
http://www.lpl.de
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