Lupton, Rosamund – Liebste Tess

_Inhalt_

Beatrice beginnt einen Brief an ihre Schwester Tess, auf den sie nie eine Antwort erhalten wird, wie sie weiß: Tess ist tot. Selbstmord, sagen Polizei, Psychiater und selbst die Mutter. Schwachsinn, weiß Beatrice. Niemals – niemals! – hätte Tess sich das Leben genommen, dafür hat sie es zu sehr wertgeschätzt, selbst in dunklen Stunden.

Auf ihrer von allen Seiten behinderten Suche nach der Wahrheit beginnt Beatrice, sich zu verändern. Nichts ist mehr wichtig als herauszufinden, wer der Mörder der geliebten jüngeren Schwester ist. Bald steht Beatrice völlig allein da, allein mit sich, mit ihren Gedanken, mit ihrer Angst und mit dem Brief an Tess, in dem sie schildert, wie sie der Geschichte des angeblichen Selbstmordes auf den Grund zu gehen versuchte. Beatrice verletzt Regeln, überschreitet unsichtbare Grenzen, streift ihren eigenen schützenden Kokon ab, während ihrer immer rabiater werdenden Nachforschungen. Der Tod der Schwester erschafft einen völlig neuen Menschen, ermöglicht Beatrice einen Blick über den Tellerrand. Erstaunt stellt sie fest, wie mutig sie eigentlich ist.

Beatrice ist es schließlich egal, welche Brücken sie hinter sich verbrennt. Alle anderen müssen Unrecht haben, weil das Einzige, dessen sie sich noch sicher ist, das Bild der Verstorbenen ist, das sie im Herzen trägt. Später, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen ist, kann man sich immer noch mit den Trümmern beschäftigen, die sie während der Suche hinterlassen hat. Was Beatrice nicht mit einrechnet, ist eine folgenschwere Tatsache: Wenn sie tatsächlich richtig liegt mit ihrer Vermutung, dann ist dort draußen jemand, der vor der Auslöschung eines Menschenlebens nicht zurückschreckt. Dieser Jemand kann es nicht gutheißen, wenn sich ein anderer so penetrant an seine Fersen heftet. Und wenn niemand ihre Vermutungen Ernst nimmt, dann kann auch niemand sie vor der Gefahr schützen, die von dem Unbekannten ausgeht …

_Kritik_

„Liebste Tess“ beginnt als spannender Krimi und sorgfältiges, liebevolles Psychogramm zweier unterschiedlicher Schwestern. Es fesselt direkt von Anfang an; die Protagonistinnen – denn durch die warmen Erinnerungen Beatrices sind es sind zwei, obwohl Tess bereits tot ist – stehen dem Leser direkt vor dem Auge, heben sich gegenseitig hervor durch ihre Unterschiedlichkeit. Naturgemäß sorgt die Form des Romans, der lange Brief, dafür, dass alles über Introspektion vermittelt wird. Diese Umsetzung ist schlichtweg genial gelungen, es ist großartig, den Prozess nachzuvollziehen, den Beatrice durchmacht: Von der emotional sorgfältig abgeschotteten Businessfrau, deren über Jahre hinweg unmerklich gewachsener Panzer durch den jähen Schmerz über den Verlust der Schwester Risse bekommt, die sich im Laufe der Zeit mit jedem Regelbruch, mit jeder Neuverortung alter klischeehafter Betrachtungen vertiefen, bis schließlich die äußere Hülle ganz wegbricht und ein neuer, verwundbarer Mensch da steht, bei dem man nicht weiß, ob er dem Wahnsinn anheim fällt oder sich in erneuerter Stärke streckt. Allein für diese Beschreibung würde ich der Autorin am liebsten tonnenweise Preise verleihen: Sie ist so unmittelbar, psychologisch glaubwürdig und lebensnah gelungen, dass das Lesergehirn nicht anders kann, als in Loblieder auszubrechen.

Aber das ist ja nur ein Teil des Romans; die Krimihandlung steht dem in Güte nichts nach. Der Fall ist so derartig verwickelt, dass man wirklich überhaupt keine Ahnung hat, worum es gehen könnte, und sich gemeinsam mit der Protagonistin in wilden Anschuldigungen gegen alles und jeden ergeht. Man kombiniere das Ganze mit einem traumschönen Stil voller unverbrauchter, aber eingängiger Bilder, die individuell wirken und die Persönlichkeiten der Helden nochmals unterstreichen, und mit einem Ende, das ein absoluter Knalleffekt ist, und hat einen der besten Erstlinge, die man sich nur wünschen kann.

_Fazit_

Es gibt wenig mehr zu sagen. „Liebste Tess“ ist ein Wahnsinnsroman, den nicht zu lesen einem Verlust gleichkäme. Lesen!

|Gebundene Ausgabe: 383 Seiten
Originaltitel: Sister
Aus dem Englischen von Barbara Christ
ISBN-13: 9783455402841|
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